Donnerstag, 18. April 2024

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Sonderband text + kritik: "Theodor Fontane"
"Fontane beobachtete genau, wie Menschen bös' zueinander sind"

Seine frühen Bücher haben noch den langen Atem des 19. Jahrhunderts. Im Alter aber sei Fontane als Autor formal und inhaltlich immer experimenteller geworden, sagte Professor Peer Trilcke im Dlf. Dass Fontane als Mann die Nöte damaliger Frauen nachspürbar schilderte, wertet er als Pionierleistung.

Peer Trilcke im Gespräch mit Gisa Funck | 30.12.2019
Peer Trilcke - Colloquium die Zukunft der Dichtung, 16. Poesiefestival Berlin Peer Trilcke- Colloquium die Zukunft der Dichtung, 16. Poesiefestival Berlin Peer Colloquium the Future the Seal 16 Poetry Festival Berlin Peer Colloquium the Future the Seal 16 Poetry Festival Berlin
Professor Peer Trilcke leitet das Fontane-Archiv in Potsdam und ist Herausgeber des Text + Kritik-Sonderbandes "Theodor Fontane" (imago stock&people)
Gisa Funck: Theodor Fontane gilt heute mit Romanen wie "Effi Briest", "Irrungen, Wirrungen" oder "Der Stechlin" längst als Klassiker und Schullektüre. Und wenn man in diese Romane heute noch einmal reinschaut, dann spürt man tatsächlich den langen Erzählatem des 19. Jahrhunderts. In dem von Ihnen nun herausgegebenen Sonderband, da wird jetzt aber gleich mehrmals betont, wie modern Theodor Fontane als Romanautor doch bereits war. Was machte die Literatur von Theodor Fontane denn so modern, Herr Trilcke?
Professor Peer Trilcke: Na, es ist einmal das, wovon Fontane erzählt. Gerade in seinen späten, den großen gesellschaftskritischen Romanen schaut er ja auf eine Welt, auf eine Gesellschaft, die an der Schwelle steht zur Moderne. Beziehungsweise: Die eigentlich schon über diese Schwelle getreten ist. Das sind die sich urbanisierenden und zur Metropole herausbildenden Welten eben vor allem in Berlin. Und das sind die sozialen Beziehungen, die irgendwie ins Flirren geraten, in Dynamik geraten und soziale Muster ausbilden, die wir dann aus der Moderne kennen. Und das ist das eine. Und das andere ist eben, dass Fontane gerade in den späten Romanen anfängt, modern zu erzählen. Also nicht nur das Erzählschema des Realismus zu bedienen, sondern auch neue Formen versucht, auszuprobieren. Und da eigentlich so ein Wegbereiter von Autoren wie Thomas Mann zum Beispiel ist.
"Ein Dahinrauschen des Erzählens"
Funck: Der Germanist Gerhard Kaiser, der sagt ja sogar, er wird dann eigentlich ein Vertreter der offenen Form. Und er bringt ihn dann sogar ins Spiel mit einem Autor wie Robert Musil "Der Mann ohne Eigenschaften". Also ist das so? Dass diese späten Romane von Fontane dann auch nicht mehr dieses Einheitsmodell haben? Das klingt ja dann wirklich schon sehr modern?
Trilcke: Es ist tatsächlich mit den Erzählverfahren auf der Schwelle zur Moderne. Und das merkt man daran – gerade in den beiden späten Romanen, das ist einmal "Poggenpuhls", ein gar nicht so langer Roman, und dann der große, das späte letzte Werk, "Der Stechlin" – dass Fontane eigentlich aufhört, Handlung zu erzählen. Das heißt, es gibt eigentlich keine Story mehr, die durch den Text trägt. Kein Anfang-Mitte-Ende mehr, sondern er entfaltet das, was er erzählen will, eher in einer Art Fläche, die auch irgendwo anfängt, auch irgendwo aufhört, das ist relativ beliebig. Es gibt keine großen Konflikte mehr in "Der Stechlin" oder "Die Poggenpuhls", sondern nur so ein Dahinrauschen des Erzählens, das irgendwo anfängt, irgendwo aufhört, aber eben nicht mehr auf ein Ziel zusteuert.
"Tratsch war ein Treibstoff für seine Romane"
Funck: Ich glaube, neben dieser lange übersehenen erzählerisch-formalen Modernität, da wird in diesem Aufsatzband ja auch ein inhaltlicher Aspekt bei ihm gewürdigt. Also, da wird er so als inhaltlicher Neuerer der deutschen Literatur auch dargestellt. Nämlich als ein Autor, der mit seinen Gesellschaftsromanen im 19. Jahrhundert in Deutschland endlich auch mal so das Abgründige, das Böse, das Grausame, Perfide ins Zentrum der Betrachtung gerückt hätte. Was sagen Sie denn zu dieser These? Ist das so?
Trilcke: Eine sehr charmante These! Das ist das, was Gerhard Kaiser an Fontane beobachtet, dass sozusagen das kleine Böse, das eigentlich viel verheerender häufig ist und das im Alltäglichen hockt, in den sozialen Beziehungen, mit diesen ganz bösartigen, kleinen Gesten, die sich so aufschaukeln zu eben ganz verheerenden sozialen Konflikten, und da ist Fontane ganz diffizil, das beobachtet er ganz genau, wie Menschen bös' zueinander sind im sozialen Miteinander.
"Soziale Konflikte und Zwänge lassen sich deutlich an Frauen schildern"
Funck: Er war ja auch ein Autor des Gesellschaftstratsches, kann man sagen. Also Fontane hat bekanntlich auch viele der Klatschgeschichten in seiner Umgebung als Inspirationsquelle für seine Romane genutzt. Berühmtestes Beispiel ist sicher "Effi Briest", dieser Skandal des Offiziersehepaars Ardenne 1886 mit dem folgenden Duell. Könnte man von daher sagen – vielleicht auch etwas despektierlich – Fontane machte aus dem Gesellschaftsklatsch seiner Zeit eigentlich Literatur?
Trilcke: Ja, das kann man schon sagen. Also es ist zumindest der Gossip, so der zeitgenössische Gossip, so ein Treibstoff seiner Romane. Nicht der einzige, aber ein Treibstoff. Im Grunde hängt das mit dem Wirklichkeitsverständnis von Fontane zusammen. Was ist denn Wirklichkeit, die der Realismus zeigen will? Diese Wirklichkeit ist das, was an Gesellschaft sich zeigt. Und das sind eben die ganzen Tratsch-Geschichten, die in der Zeitung landen. Das greift Fontane auf, er legt es seinen Figuren in den Mund, die sich das gegenseitig erzählen. Er baut eben – wie im Fall von "Effi Briest" – auch ganze Geschichten darauf auf. Nicht natürlich, ohne das dann doch ästhetisch zu überformen oder überhaupt zu formen – und dann auszugestalten und zu etwas ganz anderem zu machen als eigentlich Tratsch.
Funck: Genauso wie Gustave Flaubert oder Leo Tolstoi nahm ja auch Theodor Fontane etwa in "Effi Briest" gern die Perspektive von Frauen ein als Erzähler. Wie ungewöhnlich oder vielleicht sogar: Wie schockierend war das eigentlich im späten 19. Jahrhundert für sein Lesepublikum?
Trilcke: Also, er ist da als männlicher Autor schon sehr weit vorn. Bei Frauen ist das etwas anderes: Jane Austin macht das schon um 1800. Aber Fontane hat glaube ich in seinen Romanen einen ganz besonderen Blick für gewissermaßen die Zwangsjacken, die soziale Rollen über den Menschen stülpen. Und da sind die Frauen in der Wilhelminischen Gesellschaft, über die er schreibt, auf die er blickt, unglaublich eingezwängt. Also: "Gefangen in den Angstapparaten", wie das in "Effi Briest" heißt. Also die sozialen Konflikte und Zwänge lassen sich insofern sehr deutlich an Frauen schildern – und parallel kommt natürlich die Frauenbewegung auf. Das heißt: Das Bewusstsein überhaupt dafür, dass Frauen kaum Möglichkeiten zur Selbstverwirklichung haben, das wächst in dieser Zeit. Und Fontane nimmt das wahr.
"Romancier Fontane wäre nicht möglich gewesen ohne journalistische Ausbildung"
Funck: Kommen wir mal auf seine Lebensgeschichte zu sprechen: Er ist ja vielleicht der berühmteste Spätstarter der deutschen Literaturgeschichte. Er hat mit 58 Jahren erst als Romanautor debütiert – und war schließlich weit über 70 Jahre alt, als er seine großen Erfolge mit "Effi Briest", "Der Stechlin" feierte. Vorher hatte er als Apotheker gearbeitet, danach fast 40 Jahre lang als Journalist. Erst so als PR-Mann für die preußische Regierung, später dann für die erzkonservative Kreuzzeitung und schließlich als Theaterkritiker für die Vossische Zeitung. Was würden Sie sagen, wie sehr hat dieses journalistische Schreiben den späteren Schriftsteller Theodor Fontane geprägt?
Trilcke: Der Schriftsteller, der Romancier Fontane wäre nicht möglich gewesen ohne diese journalistische Ausbildung und Tätigkeit über Jahrzehnte hinweg. Das hat was zu tun mit der Art, wie Fontane Welt wahrnimmt. Erst einmal überhaupt mit dem starken Bezug auf Welt, dieser Fluss von Informationen, von Geschichten, von Stories, von eben Tratsch, auf den er immer schaut und der durch ihn hindurchfließt und dort erzählbare Geschichten hinterlässt. Es hat aber auch zu tun mit den Arbeitstechniken, die er dann als Romancier anwendet. Fontane hat als Journalist immer auch wieder so Redaktionsdienste geschoben, das heißt, er hat gar nicht unbedingt geschrieben, sondern auch produziert, Texte zugeschnitten. Und man merkt, wie er bei seinen eigenen Texten im Grunde genau das Gleiche macht: Er schneidet, er klebt, er packt zusammen, er montiert seine eigenen Texte mit der Schere, wie er das im Redaktionsbüro gelernt hat. Also: Auf sehr verschiedenen Ebenen in der Wahrnehmung, in den Arbeitstechniken, auch im unterhaltsamen Erzählen hat er von dieser journalistischen Karriere profitiert. Und konnte das dann ausschöpfen, als er die Romane angefangen hat zu schreiben.
Funck: In diesem Aufsatzband wird ja viel auf dieses journalistische Schreiben von Theodor Fontane Bezug genommen. Und ich glaube, ganz wichtig war ja auch seine Auslandsstation in England. Weil er von den Engländern ja auch gelernt hat: Manchmal ist es wichtiger, dass man unterhaltsam ist, als dass man alles ganz wahrhaftig nacherzählt?
Trilcke: Jedenfalls ist der Stil ebenso wichtig wie die Referenz und die Faktenlage. Und das ist natürlich für Literatur dann sehr gut zu verwenden. Er hat in London ja so etwas wie einen Moderne-Schock erhalten. London um 1850, als Fontane da war (mehrfach und über Jahre), das war die Metropole der Welt. Die größte Stadt der Welt, die modernste Stadt der Welt zu dieser Zeit. Was die Künste anging, was die ganze Technisierung und was die Medien anging. Und er hat das sehr genau beobachtet und hat auch Reportagen geschrieben damals über die "Times" und zum Beispiel über den Leitartikel-Stil der "Times", der damals etwas ganz Innovatives war. Den hat er gefeiert. Und wenn man ganz genau hinschaut, merkt man an den Romananfängen bei Fontane, die einen ja wirklich reinziehen in diese Texte von ihm, da merkt man, wie da sozusagen noch der Leitartikel-Stil der "London Times" arbeitet.
"Fontane eignet sich nicht als Denkmal"
Funck: Ein anderes Motiv, ein Thema, das diesen Aufsatzband, diesen Sonderband "text + kritik", den Sie herausgegeben haben, auch durchzieht, ist diese charakterliche Widersprüchlichkeit von Theodor Fontane, die sich auch in vielen seiner Erzählfiguren widerspiegelt. Also als junger Mann kämpfte er 1848 leidenschaftlich für die Republik. Aber dann in den 1850er-Jahren - haben wir schon angesprochen - da wurde er Mitarbeiter der Zentralen Pressestelle Preußens, Redakteur der erzkonservativen Kreuzzeitung. Das ist ja ein radikaler "Gesinnungsbruch" hin zum Konservativen - oder sogar zum Reaktionären. Wie erklären Sie sich das denn? Wie konnte es dazu kommen?
Trilcke: Ja, das ...., eine abschließende Erklärung habe ich dafür immer noch nicht. Es gibt so verschiedene Optionen. Man kann natürlich sagen, das war einfach reiner Opportunismus. Er musste irgendwie Geld verdienen und hat sich dann irgendwie verkauft an die Reaktion. So deutet er das auch selbst. Man kann auch sagen: Im Herzen war er eigentlich immer schon ein Konservativer, und vorher waren das so jugendliche Sturm- und Drangjahre. Für mich aber rundet sich das alles nicht. Ich würde aber auch sagen: Das ist irgendwie auch das Faszinierende an Fontane. Und die jüngst erschienenen Biografien machen das auch deutlich, dass wir hier jemanden haben, der uns nur in solchen Brüchen begegnet. Die wir auch nicht wegerklären können. Das heißt: Fontane ist eine Figur, die widersprüchlich bleibt. Auch in seiner grundsätzlichen Humanität und dann wiederum in seinen antisemitischen Ressentiments, die es im späten Briefwerk gibt. Das kriegt man nicht zusammen, er bleibt irgendwie widersprüchlich. Und er eignet sich deshalb auch nicht als Denkmal, sondern ist eine Figur, die man in ihrer Widersprüchlichkeit wahrnehmen muss.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
Peer Trilcke (Hg.): "Theodor Fontane"
edition text + kritik im Richard Boorberg Verlag, München.
224 Seiten, 34 Euro.