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Sozialhilfeempfänger verlangen Gerechtigkeit

Jürgen Liminski: Die soziale Balance soll wieder hergestellt werden. Soziale Gerechtigkeit ist der Leitsatz, unter dem die SPD in der Müntefering-Ära nun antritt. Der Protest gegen Unausgewogenheiten hat reale Gründe. Zu den zusätzlichen Belastungen kommen für den sprichwörtlichen kleinen Mann auf der Straße noch weitere Neuerungen, etwa die Steigerung der Lebenshaltungskosten. Bei Hamburg formiert sich nun eine Lobby der einfachen Leute in einem Verein, Contra e.V., die das Recht auf ihr Existenzminimum einklagen wollen. Vorsitzender ist Dieter Nolte, selber Sozialhilfeempfänger. Ihn begrüße ich nun am Telefon, guten Morgen Herr Nolte.

    Dieter Nolte: Guten Morgen, Herr Liminski.

    Liminski: Sie, das heißt ihr Verein, hat Strafanzeige erstattet gegen die zuständigen Ministerien Familie in Berlin und Soziales/Gesundheit in Bonn. Die Staatsanwaltschaft hat das Ermittlungsverfahren jetzt eröffnet. Was wollen Sie erreichen?

    Nolte: Ich will erreichen, dass wir Gerechtigkeit bekommen, die Grundsicherungsrentner und die Sozialhilfeempfänger. Was dort in den Ministerien gemacht wird, uns einfach etwas aufzuhalsen, die Gesundheit mit 10 Euro Eintritt beim Arzt, das ist verfassungswidrig, und dagegen gehen wir an. Es geht darum: Die Familienministerin hat für die Familien zu sorgen, es ist ihre Pflicht. Sie hat sich dagegen zu wehren, wenn die Gesundheitsministerin den Sozialhilfe- und Grundleistungsempfängern noch mehr Unkosten aufhalst. Dagegen wehren wir uns, und die Sache sieht auch gut aus, und wir halten durch.

    Liminski: Sie sagen, das Existenzminimum sei nicht mehr gegeben, die Sozialhilfe werde zerstört. Wie begründen Sie das denn?

    Nolte: Seit 1993 ist die Sozialhilfe gedeckelt, seit zehn Jahren keine Erhöhung, noch nicht einmal die Inflationsrate. Seit 2001, also vor dem Eurowechsel, haben die Discounter die Preise hochgeschlagen. Das ging in zwei Raten, einmal im Februar - man merkt es beim Hering in Sahne: Der kam Dauerpreis 1,59 DM, am Februar kam er 1,79 DM. Und im Oktober kam die nächste Rate: 2,49 DM. Aber nicht nur bei Aldi, bei allen Discountern im gleichen Zeitraum. Und so ging es in den Euro, also haben die uns abgezockt. Genauso ist es aber auch bei Bekleidung. Bei Woolworth, wo der Sozialhilfeempfänger vielleicht mehr kauft, kriegte man drei T-Shirts für 5 Mark. Als der Euro kam, gab es zwei T-Shirts für 5 Euro. Alle diese Verbände und Wirtschaftsunternehmen haben Gewinnüberschuss, aber ihre Lager sind voll. Also wo kommt das Geld her? Der Sozialhilfeempfänger zahlt. Der Strom kommt auch dazu: Ich habe früher 50 Mark bezahlt im Monat, das sind jetzt 44 Euro, also 88 Mark. Das kann man nicht mehr verkraften. Und das Letzte ist jetzt noch die Gesundheit. Da muss man 10 Euro Eintritt beim Arzt bezahlen, ich habe für meine Medikamente jetzt 35 Euro bezahlen müssen. Und ein Sozialhilfeempfänger, wenn er nicht chronisch krank ist, bezahlt 72 Euro im Jahr. Und dann wird das von der Regierung schön umgerechnet auf monatlich 6 Euro, aber bezahlen müssen wir es auf einmal.

    Liminski: In der Klageschrift heißt es, ich zitiere: 'Das Opfer der nächsten Reformrunde ist ausgemacht. Diesmal trifft es mit der Sozialhilfe das unterste Netz unseres Sicherungssystems. Ein Wegfallen der Mindeststandards, die hier noch eingezogen sind, wirkt sich nicht nur auf die vorrangigen Leistungen, sondern auch auf das gesamte Lohnniveau aus. Niedriglohn und Sozialleistungen sind kommunizierende Größen.' Haben Sie eigentlich außer juristischem Beistand auch Verbindungen in die Politik?

    Nolte: Nein, zumal hier in Hamburg. Was wir hier für eine Regierung hatten oder noch haben, ist bekannt. Der berühmte Schill. Dann haben wir eine Sozialsenatorin, die von der CDU kommt, die alles pauschaliert hat. Ich bekomme richtiggehend 52 Euro, ich bin Diabetiker, die hat das gekürzt in Hamburg auf 36 Euro, ohne Begründung. Also keine Verbindungen in die Politik, denn die tun sich alle nichts. Ob Grüne, die sind neoliberal für mich, SPD oder CDU.

    Liminski: Sie sind gegen radikalen Sozialabbau, gegen, wie Sie sagen ‚Abzocke’ durch überhöhte Europreise, gegen die Gesundheitsreformen in der vorliegenden Form, gegen Spät- und Nachtarbeit für Mütter und so weiter. Sind Sie auch für etwas?

    Nolte: Ja. Wir sind in den Sozialämtern für bessere Beratung. Die sind für uns da, nicht wir für die. Beratung in allen Familienfragen. Wir sind für Leben mit Behinderten. Die werden an die Seite geschoben, kriegen immer mehr Abzug. Dann sind wir für das Kinderwahlrecht. Es kann nicht sein, dass Kinderlose über unsere Kinder bestimmen, dass die mehr Stimmen haben als wir mit Kindern. Dann sind wir für sichere Rente auch für sozial Schwache. Ich kann ein Beispiel geben: Ich habe 17 Jahre meinen Sohn gepflegt, habe 550.000 Euro sozusagen eingespart, was er in einem Heim gekostet hätte, habe 270 Euro pro Monat ungefähr erhalten und jetzt hat man vergessen, 17 Jahre meine Rente einzuzahlen. Da stehe ich vor einem Loch. Und dann sind wir als erstes für die Erhaltung des Existenzminimums. Das muss bleiben. Dieser komische Bundesstatistikzettel, der jedes Mal hinfliegt mit 1,2 Prozent, muss weg. Der alte Warenkorb muss errechnet werden, aber richtig und nicht so knapp. Es darf nicht sein, dass Kinder mit den Eltern in die Suppenküchen gehen, um zu essen ab dem 20. des Monats, damit sie mal eine warme Mahlzeit haben. Armes Deutschland.

    Liminski: Das war Dieter Nolte, Vorsitzender des Vereins Contra e.V., besten Dank für das Gespräch.

    Nolte: Ich danke auch.