
"Ich arbeite für eine öffentliche Behörde, für das Forstamt. Ich bin hier, weil ich eine Beurteilung für eine Beförderung brauche - und dafür wiederum muss ich meinen Sozialkredit-Kontostand einholen. Wenn der nicht gut genug ist, werde ich auch nicht befördert. Aber ich mache mir da keine Sorgen. Ich achte auf mein Benehmen und mein Handeln. Ich sollte keine großen Abzüge haben."
Bereits im Jahr 2014 hat die chinesische Küstenstadt Rongcheng damit begonnen, ein Sozialkredit-System einzuführen. Die Idee dahinter ist radikal und einfach: Der Staat sammelt so viele Daten wie möglich, trägt sie zusammen und wertet sie aus. Jeder Bürger bekommt ein Punkte-Konto. Und auf dieser Grundlage kann der Staat dann bestrafen oder auch belohnen. Zhang Jian vom Forstamt weiß, worauf er im Alltag zu achten hat.

"Der Punktestand ist anfangs für alle gleich, nämlich genau 1.000. Diese Zahl erhöht sich dann mit der Zeit - oder wird niedriger. Die höchste Bewertung ist AAA. Dazu braucht man einen Stand von mindestens 1050 Punkten, also 50 mehr als die ursprünglichen 1.000. Dann geht es nach unten weiter mit AA und dann A und so weiter. Die schlechteste Bewertung ist D - da liegt man bei unter 599 Punkten."
Alles Dinge, die dem 42-jährigen Zhang Jiang vorerst nicht drohen. Für ihn bleibt dieser Morgen ein guter Morgen. Sein Sozialkredit-Ergebnis: 1.015 Punkte, eine Bewertung von A+. Er guckt auf seinen Zettel und strahlt.
"Hier, sehen Sie mal, dort habe ich ein paar Abzüge. Fünf insgesamt. Einmal, weil ich bei Rot über die Ampel gegangen bin. Aber hier: Meine Leistung bei der Arbeit, dafür habe ich gleich 20 Pluspunkte gesammelt! Hätte ich ein B bekommen, würde es nichts werden mit der Beförderung. Beamte im öffentlichen Dienst, wie ich, brauchen mindestens ein A."

Einer der wichtigsten Strategen hinter Chinas Sozialkreditsystem ist Zhang Zheng. Er ist Wirtschafts-Professor an der renommierten Peking Universität. Der Campus der besten Hochschule im Land liegt im Nordwesten der chinesischen Hauptstadt. Er wirkt wie eine eigene, kleine Stadt: viel Park, viel Grün, hohe Bäume und herrschaftliche Gebäude.
"Es ist ein System für beide - für die Unternehmen und für die einzelnen Bürger. Nur ein Beispiel: Wenn ein junger Mensch heiraten möchte und die Eltern sich über den ausgesuchten Partner unklar sind, können sie dessen Punktestand im Sozialkredit-System erfragen. Es gibt Heirats-Vermittlungen, die das bereits nutzen. Welche Informationen über die Bürger gesammelt werden dürfen, das muss die Politik entscheiden. Ob es zum Beispiel erfasst werden soll, ob man regelmäßig mit seinem Hund spazieren geht oder seine Eltern besucht - dazu gibt es bislang keine Vorgaben. Es kommt auf die Bedürfnisse der jeweiligen Städte und Bezirke an."
"Die Stadt Rongcheng hat sehr viel ausprobiert. Vieles mit Erfolg. In Rongcheng lassen die Autofahrer den Fußgängern beim Zebra-Streifen den Vortritt, weil das mit Punkten belohnt wird. Auch wenn man es verkehrsrechtlich nicht müsste. In Rongcheng herrscht eine hervorragende Ordnung. Die Bewohner, das medizinische und wirtschaftliche Umfeld - alles sehr gut. Wir ziehen daraus den Schluss, dass das Sozialkreditsystem gut für die Atmosphäre in Wirtschaft und Gesellschaft ist."
Auch wenn vieles noch im Aufbau ist - China hat mit der Sanktionierung der Bürger bereits begonnen. Der Oberste Gerichtshof führt seit 2013 eine sogenannte schwarze Liste von säumigen Schuldnern, Schwarzfahrern und anderen finanziellen Delinquenten. In Chinas Hochgeschwindigkeitszügen wird man bereits - auch auf Englisch - gewarnt: Wer kein gültiges Ticket hat, kommt auf die schwarze Liste.
"Ich werde bestraft, weil ich für jemanden Dritten eine Kredit-Bürgschaft ausgestellt habe. Der Kredit wurde nicht zurückgezahlt und ich wurde bestraft. Als ich ein Flugticket kaufen wollte, habe ich keins bekommen. Daraufhin habe ich herausgefunden, dass ich grundsätzlich keine Tickets mehr kaufen kann. Das war im November 2016. Ich kann weder Flugtickets noch Fahrscheine für den Schnellzug kaufen."
Da in China jeder Ticketkauf für Flugzeug oder Bahn über die Ausweisnummer funktioniert, ist eine Identifizierung der Käufer problemlos möglich. Ticketverbote sind schnell umgesetzt - wurden aber bislang nur für den gesetzes- und regelwidrigen Umgang mit Geld ausgesprochen. Neu in Chinas Sozialkreditsystem ist nun, dass gesellschaftliches und moralisches Verhalten der Bürger in die Bewertung mit einfließt. Alle Informationen sollen perspektivisch ein großes Ganzes ergeben. Der gläserne Bürger, über den alles bekannt ist.
Zu diesen Verlierern zählt sich Murong Xuecun. Er hat keinen guten Stand bei Chinas Behörden. Als Blogger, Romanautor und Dissident kritisiert er immer wieder das chinesische System der Zensur und die Unterdrückung der abweichenden Meinungen in der Volksrepublik. Im offiziellen China gilt er als Störfaktor. Und wenn man Murong Xuecun auf einen Espresso in einem Café in Peking trifft und zu den Themen Überwachung und soziale Kontrolle befragt, verfinstert sich sein Gesichtsausdruck. Für ihn ist klar: mit dem Sozialkreditsystem rüstet sich der autoritäre Staat China fürs digitale Zeitalter.
"Die chinesische Regierung will seine 1,4 Milliarden Bürger künftig besser und effizienter kontrollieren. Die Führung in Peking hat verstanden, dass die alten Werkzeuge der Kontrolle nicht mehr greifen: Aufenthalts-Registrierung, Polizei, Personenspitzel. Das reicht nicht im digitalen Zeitalter der sozialen Medien. Um das System der sozialen Kontrolle entsprechend weiter zu entwickeln, schafft der Staat ein Sozialkreditsystem. Es ist Teil einer totalitären Internet-Gesellschaft des 21. Jahrhunderts."
Und eine völlig neue Form der sozialen Kontrolle. Es ist die digitale Weiterentwicklung des Spitzel- und Überwachungsstaates. Historisch hat das in China Tradition. Schon unter Staatsgründer Mao Zedong gab es die so genannten Danweis, Arbeitereinheiten. Jeder in China war einer solchen Arbeitereinheit unterstellt. Und die Danweis haben die Bürger im Sinne der Regierung kontrolliert. Verfehlungen wurden dokumentiert und bestraft. Diese Form der sozialen Kontrolle wird nun in die digitale Zukunft gedacht. Und Menschen wie der Dissident und kritische Autor Murong Xuecun dürften es in solch einem Sozialkredit-System schwer haben.
"In China hat bereits jeder ein oder mehrere Profile bei staatlichen Behörden. Leute wie ich haben ein spezielles Sicherheitsprofil, weil wir als Gefährdung wahrgenommen werden. Aber im Zeitalter des Internets ist das Sozialkreditsystem ein ganz neuer Ansatz. Und der macht mir Angst. Wir haben keine Ahnung, was für Informationen da alles gesammelt werden."
Klar ist aber: Wer in den sozialen Medien die Kommunistische Partei Chinas kritisiert oder regierungskritische Petitionen einreicht, bekommt im Sozialkredit-System Minuspunkte und muss mit Konsequenzen rechnen. Spuren im Netz werden gnadenlos verfolgt, der Staat kann einem nach Belieben schaden.
"Am meisten Angst macht mir, dass auch deine Kommentare im Internet Einfluss auf deinen Sozialkredit haben werden. Bei Leuten wie mir, denen man schon viele Konten in den sozialen Medien gesperrt hat, besteht doch kein Zweifel: wir gehören zu den großen Verlierern eines Sozialkreditsystems. Aber habe ich in China irgendwelche Möglichkeiten, was dagegen zu tun? Nein, ich habe keine Wahl."

"Wer zehn Stunden am Tag Video-Spiele spielt, wird als träge Person eingestuft. Wer häufig Windeln kauft, ist aller Wahrscheinlichkeit nach ein Elternteil und hat ein bestimmtes Maß an Verantwortung."
Fast jede Handlung, jedes Verhalten der Bürger im Netz hinterlässt Spuren. Für den Sozialkredit soll möglichst alles mit einfließen in das chinesische System von Belohnung und Bestrafung, Schuld und Sühne.
In einem Vorort von Rongcheng treffen wir die 37-jährige Sui Yuxiang in einem Restaurant. Es gibt Muscheln, gegrillten Aal und Fleischspieße. Sui Yuxiang ist in dem kleinen Stadtteil Fulushan zuständig für das Sozialkredit-System. Für sie bestehen keine Zweifel: Die Moral der Menschen hat sich durch die soziale Kontrolle und Bewertung verbessert.
"Zu meinem Bereich gehören 260 Familien, wir haben insgesamt 560 Einwohner. Einmal im Monat gibt es einen neuen Sozialkredit- Punktestand, zum 25. jeden Monats. Dann sehen wir, wer welche Bewertung bekommt. Wer anderen hilft oder sich engagiert, bekommt Zusatzpunkte, fünf oder zehn. Und je mehr Punkte jemand hat, als desto ehrlicher gilt die Person. Die gesamte Atmosphäre hier ist besser geworden. Die Menschen sind aktiver und engagierter, die Qualität des Zusammenlebens hat sich verbessert."
An einer Hauswand im Dorf Fulushan hängt eine große Tafel. Dort sind Fotos der Menschen mit Vorbildcharakter abgebildet. Diejenigen Bewohner mit einem besonders guten Sozialkredit-Punktestand. Sui Yuxiang zeigt stolz auf die fast drei Meter breite Tafel. "Wir unterteilen hier nach vier Tugenden: gutes Benehmen, die eigenen Eltern unterstützen, anderen Menschen helfen, sich gegen kriminelles Verhalten engagieren. Die Anzahl der Sterne zeigt, wie gut die Leute eingestuft sind. Auf dieser Tafel sind nur Bewohner aus unserem Dorf."

"China redet dauernd über die harmonische Gesellschaft. Aber die Harmonie, die Präsident Xi Jinping meint, unterscheidet sich von der Harmonie, wie sie Leute wie ich verstehen. Unter Harmonie versteht Präsident Xi eine strenge Ordnung, in der nur eine Stimme zugelassen ist und keine Opposition. Aber eine Gesellschaft, die so strikt von der Regierung kontrolliert wird, kann weder innovativ noch kreativ sein."
Es gibt Zweifel, ob es China wirklich gelingt, bis 2020 alle Informationen über die Bürger in einer Datenbank zusammenzuführen. Aber das Sozialkredit-Projekt der chinesischen Führung ist bislang in Größe und Ausmaß weltweit konkurrenzlos. Kein anderes Land treibt es so radikal voran, seine Bürger im digitalen Zeitalter sozial zu kontrollieren. Und dann zu bewerten, zu belohnen und zu bestrafen.