Archiv

Sozialpolitik
Armutsforscher Butterwegge gibt SPD Mitschuld am Aufstieg der AfD

Die AfD steigt auf, die SPD steigt ab. Für den Kölner Politikwissenschaftler Christoph Butterwegge hängt das unmittelbar zusammen: "Die AfD ist ein verspätetes Kind der Agenda 2010", sagte er im DLF. Mindestlohn oder Rente mit 63 könnten daran nichts ändern, weil diese Reformen viele Menschen gar nicht erreichten.

Christoph Butterwegge im Gespräch mit Martin Zagatta |
    Der Poltikwissenschaftler Christoph Butterwegge auf einer Pressekonferenz zum Thema "10 Jahre nach der Einführung von Hartz IV - Bilanz und Kritik".
    Armutsforscher Christoph Butterwegge (Picture Alliance / dpa / Jörg Carstensen)
    Nicht nur Anhänger der SPD fragen sich: Warum stehen die Sozialdemokraten eigentlich so schlecht in den Umfragen dar...? Sie zeichnen sich doch maßgeblich für Mindestlohn, Rente mit 63 oder aktuell für Verbesserungen bei Leiharbeit und Werkverträgen verantwortlich? Christoph Butterwege, der an der Universität Köln lehrt, nennt die Reformen, die die SPD sich so stolz auf die Fahnen schreibt, halbherzig.
    Der Mindestlohn führe die allermeisten Aufstocker bei Hartz IV nicht aus ihrer Situation heraus, erklärte er. Er federe sie allenfalls etwas ab. Butterwegge wies darauf hin, dass "der Niedriglohnsektor inzwischen ein Viertel aller Beschäftigten erfasst." Und daran ändere der Mindestlohn nichts. "Man traut der SPD deshalb nicht zu, dass sie wirklich etwas für die Unterprivilegierten tut."
    Für Butterwegge ist die AfD mithin "ein verspätetes Kind" der Agenda 2010-Reformen. Diese Politik der SPD habe wesentlich zum Aufstieg der AfD beigetragen.
    Arme Menschen gehen kaum noch zu Wahlen
    Heute werde ganz deutlich, dass ein Teil der SPD-Wähler ins Lager der AfD überlaufe. Menschen, die Hartz IV bezögen und die arm seien gingen zwar in Großstädten kaum noch zur Wahl, führte der Politikwissenschaftler aus. Deren Wahlbeteiligung sei rapide gesunken. Aber wenn sie wählen gingen, seien sie tief frustriert. Butterwegge verwies auf die Landtagswahlen in Sachsen-Anhalt: Dort hätten viele Arbeitslose und einfache Arbeiter, also traditionelle Wähler der SPD, häufig ihr Kreuzchen bei der AfD gemacht.

    Das Interview in voller Länge:
    Martin Zagatta: Ob die Wirtschafts- und Sozialpolitik der Bundesregierung zum Aufstieg der AfD beigetragen hat, ein Vorwurf, wenn er berechtigt ist, der vor allem dann die SPD wohl treffen würde, zu den Umfragen jedenfalls würde das passen – in den Zahlen des ZDF-Politbarometers erreicht die AfD mit 13 Prozent einen neuen Höchstwert. Die SPD sinkt demnach auf den bisherigen Tiefstwert von 21 Prozent. Kommt in diesen Zahlen auch eine verfehlte Sozialpolitik zum Ausdruck, das kann ich jetzt Professor Christoph Butterwegge fragen, Politikwissenschaftler und Armutsforscher an der Universität Köln, der kürzlich erst auch ein Buch mit dem Thema "Reichtumsförderung statt Armutsbekämpfung" veröffentlicht hat. Guten Morgen, Herr Butterwegge!
    Christoph Butterwegge: Guten Morgen, Herr Zagatta!
    Zagatta: Herr Butterwegge, die SPD selbst feiert sich ja für eine eigentlich erfolgreiche Politik – man hat den Mindestlohn eingeführt, die Rente mit 63 oder gerade auch erst Verbesserungen für Leiharbeiter reklamiert. Das ist doch auch Sozialpolitik – warum kommt das in der Bevölkerung nicht an?
    Butterwegge: Na zum Teil ist das sehr halbherzig. Der Mindestlohn beispielsweise führt eben die allermeisten Aufstocker bei Hartz IV nicht aus dieser Situation heraus. Er federt etwas ab, das unterste Segment des Niedriglohnsektors, aber dass der Niedriglohnsektor inzwischen fast ein Viertel aller Beschäftigten umfasst, das wird durch den Mindestlohn eben nicht geändert, und deshalb traut man der SPD, glaube ich, nicht zu, dass sie wirklich was für die Unterprivilegierten tut. Auch die Mietpreisbremse ist eher halbherzig, und die Rente ab 63, die Sie ansprachen, die ist etwas für Menschen, die 40 Beitragsjahre haben, also das heißt, Menschen, die kontinuierlich beschäftigt waren, sozialversicherungspflichtig eingezahlt haben über Jahrzehnte, und die sind nicht von Altersarmut bedroht, aber dass sich die Angst vor der Armut ganz besonders im Alter in unserer Gesellschaft ausbreitet, dagegen hat die SPD nichts getan. Ganz im Gegenteil, die Riester-Reform war eigentlich der Beginn dieser Ängste. Für mich ist übrigens die AfD auch ein verspätetes Kind dieser Agenda-Reform.
    Zagatta: Und diese Zweifel, diese Ängste, die kommen dann offenbar der AfD zugute, deuten Sie ja jetzt an. Also ist die SPD damit haupt schuld am Aufstieg der AfD?
    "Die Wahlbeteiligung ist da rapide gesunken"
    Butterwegge: Na ja, schuld – zumindest hat ihre Politik wesentlich dazu beigetragen, insofern ist sie da verantwortlich, und sie ist natürlich auch, wenn man jetzt sieht, die beiden Kurven, die da gegeneinander verlaufen, der Aufstieg der AfD einerseits und der Abstieg der SPD andererseits, da ist natürlich ganz deutlich, dass vor allen Dingen auch die Klientel der SPD zum Teil eben überläuft in das Lager der AfD, also Menschen, die arbeitslos sind, die einfache Arbeiter sind, die der SPD nicht mehr zutrauen, für soziale Gerechtigkeit im Land zu sorgen und der sozialen Ungleichheit entgegenzuwirken. Die wenden sich ganz offensichtlich aus Enttäuschung auch der AfD zu, wenngleich ich nicht glaube, dass die nun gerade für soziale Gerechtigkeit steht.
    Zagatta: Das wollte ich Sie aber auch fragen: Gibt es denn da einen Zusammenhang, also was wählen besonders arme Menschen, Arbeitslose oder Hartz-IV-Empfänger – wählen die denn AfD, lässt sich das so sagen?
    Butterwegge: Wenn sie überhaupt wählen – das ist ja bei vielen, die Hartz IV beziehen und die arm sind in den Großstädten, kaum noch der Fall. Die Wahlbeteiligung ist da rapide gesunken, aber wenn sie noch wählen gehen, dann sind sie natürlich tief frustriert, und wenn man sich das Wahlergebnis bei der Landtagswahl in Sachsen-Anhalt anguckt, dann stellt man schon fest, dass Arbeitslose und einfache Arbeiter da häufig auch die AfD gewählt haben und dass die SPD eben, die früher natürlich die Arbeiterpartei war, das heute nicht mehr ist. Das ist ein Trend, den gibt es natürlich in anderen Ländern Europas auch. Wenn ich an Österreich denke, die FPÖ wird selbst in Wien, also dieser klassischen Hauptstadt der Sozialdemokratie, vielfach von Arbeitern gewählt. Da ist ganz eindeutig zu sehen, man erhofft sich von der SPD beziehungsweise von der SPÖ in Österreich nicht mehr viel, und aus dieser Enttäuschung heraus wendet man sich jetzt einer neuen Kraft bei der AfD jedenfalls zu, von der man vielleicht erwartet, dass sie zumindest den Etablierten mal Gegenwind macht. Ich bin nicht davon überzeugt, dass man immer glaubt, da tatsächlich eine Interessenvertretung zu finden, denn wenn man sich das Programm der AfD anguckt, dann sieht man ja, da wird für die Armen, für die Arbeitslosen, für die sozial Benachteiligten nichts getan.
    Zagatta: Aber kann sich die AfD nicht auch als Partei der Benachteiligten verstehen in ihrem Parteiprogramm? Soweit ich das verfolgen kann, bekennen sie sich ja jetzt auch zum Beispiel zum Mindestlohn, zum Sozialstaat, wenn auch es heißt, Hartz IV soll modernisiert werden mit Zusatzverdienstmöglichkeiten – das klingt doch gar nicht so schlecht.
    Butterwegge: Wenn man andere Teile des Programms anguckt, dann sieht man die ersatzlose Abschaffung der Erbschaftsteuer. Das ist natürlich ein Programmpunkt für Reiche, denn Habenichtse profitieren natürlich nicht davon, wenn die Erbschaftsteuer abgeschafft wird, sondern vor allen Dingen Familienunternehmer, die dann noch stärker als bisher ihre Unternehmen, manchmal ganze Konzerne weitervererben können, ohne dass diese Erben Erbschaftsteuer zahlen müssen. Also das sind Programmpunkte, wo ich denke, es ist die AfD natürlich nicht eine Partei der Unterprivilegierten, sondern es ist eine Partei derjenigen, die Angst haben vor dem sozialen Abstieg, auch sicherlich eine Partei des Kleinbürgertums, das Angst hat, in der Krise möglicherweise von oben und von unten zerrieben zu werden. Wenn ich jetzt mal eine ganz weite historische Parallele schlage in die Weimarer Republik, ohne das jetzt gleichsetzen zu wollen mit dem Aufstieg der Nazis, dann sieht man aber doch, dass sich das Kleinbürgertum in Deutschland, eben wenn es von Krisenängsten erfasst wird, dass es sich dann politisch nach rechts wendet. Ich denke, dass im Westen, meinetwegen in Baden-Württemberg bei der Landtagswahl, dass da eben nicht die Arbeitslosen diejenigen waren, die der AfD Zulauf verschafft haben, sondern das waren Wählerinnen und Wähler der Mittelschicht, des Kleinbürgertums, die Angst haben, ihren Wohlstand zu verlieren.
    Zagatta: Aber sind denn, Herr Butterwegge, die Ängste überhaupt so groß? Wenn wir jetzt die neuesten Zahlen sehen: Die deutsche Wirtschaft, die wächst – das ist die Zahl von gestern –, die lebt vom Konsum. So groß scheinen die Ängste ja auch nicht zu sein.
    "Die AfD ist eben keine Eintagsfliege"
    Butterwegge: Na ja, in diesen Umfragen tut man kund, dass man die Perspektiven der deutschen Volkswirtschaft oder dieses Wirtschaftsstandorts Deutschland zwar positiv sieht, aber die eigene Befindlichkeit und die eigenen Sorgen vor dem Alter beispielsweise und vor Armut, die dann drohen könnte, weil die gesetzliche Rentenversicherung eben doch durch viele Reformen geschwächt worden ist in der Vergangenheit, diese Ängste sind natürlich da. Ich glaube, dass die Menschen doch eher wählen nach ihrer persönlichen Befindlichkeit und weniger nach der Einschätzung, ob Konzerne wie Siemens oder die Allianz oder Daimler hohe Gewinne macht. Das ist sicherlich der Fall.
    Zagatta: Und das heißt nach Ihrer Einschätzung, die AfD hat weiterhin großes Potenzial und wird uns lange erhalten bleiben.
    Butterwegge: Das fürchte ich, weil sie auch sehr professionell vorgeht. Wenn man sieht, wie sie aus diesem Anti-Eurokurs, der natürlich auch die Ängste davor im Grunde aufgegriffen hat, dass uns die Eurokrisenländer das Geld wegnehmen und den Wohlstand rauben, wenn man sieht, wie sie umgeschwenkt ist zur Anti-Flüchtlingspolitik und die Ängste da aufgegriffen hat vor Überfremdung, was ja auch bedeutet vor Überforderung, und wie sie dann jetzt zuletzt im Frühjahr dieses Jahres umgeschwenkt ist auf ein Kurs gegen den Islam, weil das Flüchtlingsthema nicht mehr so trägt, wenn weniger Flüchtlinge kommen, dann sieht man, dass da ganz professionell Politik gemacht wird. Deshalb glaube ich, dass die AfD eben keine Eintagsfliege ist.
    Zagatta: Sagt Professor Christoph Butterwegge, Armutsforscher an der Universität Köln. Herr Butterwegge, Dankeschön für dieses Gespräch!
    Butterwegge: Bitteschön, Herr Zagatta!
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.