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Sozialrichter: Klärungsbedarf ist unumgänglich

Wenn heute die Hartz-IV-Reform verabschiedet wird, nehme die Rechtsunsicherheit kein Ende, befürchtet Sozialrichter Hans-Peter Jung. Er erwarte, dass bei den Gerichten werden weiterhin viele Klagen eingehen werden.

Hans-Peter Jung im Gespräch mit Silvia Engels | 25.02.2011
    Silvia Engels: Heute werden nach über zwei Monaten Verhandlungen Reformen für die Hartz-IV-Gesetzgebung beschlossen werden. Das scheint sicher, auch wenn Bundestag und Bundesrat noch zustimmen müssen. Neben einer zweistufigen Erhöhung der Regelsätze für Arbeitslosengeld-II-Empfänger um fünf und im kommenden Jahr noch einmal um drei Euro soll auch ein Bildungspaket für Kinder abgesegnet werden. Dazu kommen noch einige Mindestlohnvereinbarungen. Das Lob von Union und SPD für den eigenen gefundenen Kompromiss war Anfang der Woche groß, die Kritik der kleineren Parteien auch. Dazu unsere Collage.

    Kurt Beck: "Ende gut, alles gut."
    Ursula von der Leyen: "Das sind sehr harte Wochen gewesen, aber es hat sich gelohnt, und im Rückblick wird man sagen, wir haben ein gutes Gesetz, das wir jetzt gemeinsam auf den Weg bringen können."
    Kurt Beck: "Ende gut, alles gut."
    Manuela Schwesig: "Über zwei Millionen Kinder werden profitieren von einem Bildungspaket, was wir noch mal aufgestockt haben um 400 Millionen Euro."
    Kurt Beck: "Ende gut, alles gut."
    Cem Özdemir: "Hier hat man offensichtlich einen Kompromiss gemacht mit Blick insbesondere auf die Landtagswahl in Rheinland-Pfalz für Herrn Beck, aber die Verfassungskonformität, die hat man weit von sich geschoben, darum scheint es nicht gegangen zu sein."

    Engels: Stimmen zum Hartz-IV-Kompromiss, der heute von Bundestag und Bundesrat verabschiedet werden soll. Am Telefon begrüße ich Hans-Peter Jung. Er ist der Vorsitzende des Bundes deutscher Sozialrichter und er ist selbst Sozialrichter in Essen. Guten Morgen, Herr Beck. Herr Jung, Entschuldigung!

    Hans-Peter Jung: Guten Morgen, Frau Engels.

    Engels: Herr Jung, ich wollte gerade noch mal auf Herrn Beck zu sprechen kommen. Der sagt, Ende gut, alles gut. Denken Sie denn in Ihrer Praxis, dass nun mit der Reform die Unsicherheit, auch die Rechtsunsicherheit ein Ende nimmt?

    Jung: Nein, das denke ich nicht. Verantwortlich dafür ist weiterhin die aufgeheizte Diskussion um das Thema Hartz IV, insbesondere um die Regelsätze, obwohl das Bundesverfassungsgericht in seiner Entscheidung im vergangenen Jahr insbesondere in den Vordergrund gestellt hat, dass Leistungen für Kinder, also Stichwort Bildungspaket, das Drängendste sei, was der Neuregelung bedarf. Aber allein, weil die Diskussion so aufgeheizt ist – ein Blick ins Internet etwa, wenn man mit dem Stichwort Hartz IV googelt – zeigt ja schon, dass … wie vielfältig dort die Kritik ist. Das wird dazu führen, dass wir weiter eine hohe Anzahl von Streitsachen haben werden.

    Engels: In welchen Bereichen sehen Sie diese Streitsachen? Wird das um den Regelsatz gehen, was Sie da an Klagen auf den Tisch bekommen, oder denken Sie, das Bildungspaket ist so kompliziert, dass im Detail da wieder viele neue Klagen kommen?

    Jung: Ich kann in erster Linie natürlich nur über das reden, was wir bisher erleben. Da ranken sich die Streitsachen um eine Vielzahl von Details. Etwa, ich greife mal einen Punkt auf, der durch die Neuregelungen sich wieder anders darstellen wird, nämlich inwieweit Kosten der Warmwasserversorgung, sei es eine zentrale oder eine dezentrale, berücksichtigungsfähig sind oder nicht. Durch die Neuregelung sind sie berücksichtigungsfähig, bisher war das nicht. Allein darum und um die Kosten der Unterkunft insgesamt ranken sich eine große Anzahl von Streitsachen.

    Engels: Das heißt, das Neuwerk macht Ihre Arbeit nicht einfacher?

    Jung: Es macht unsere Arbeit nicht einfacher, insbesondere weil jetzt auch noch die Diskussion sich rankt um die Verfassungsmäßigkeit. Das war ja gestern in allen Zeitungen und sonstigen Pressemeldungen zu hören. Deswegen wünschten wir uns eigentlich, dass sehr bald eine Klärung vor dem Bundesverfassungsgericht herbeigeführt wird, nicht, weil wir nun partout diese Neuregelungen für verfassungswidrig erachten würden, sondern weil ein Klärungsbedarf unumgänglich ist.

    Engels: Wo machen Sie den fest, diesen Klärungsbedarf? Denken Sie, es ist nach wie vor mit der Berechnung nicht alles in Ordnung, und diesen Berechnungen liegt ja der neue Regelsatz zugrunde?

    Jung: Das wird in der politischen Diskussion so dargestellt. Ich wage hier keine Prognose und halte mich auch aufgrund meiner beruflichen Tätigkeit als Richter hier etwas zurück. Aber wir müssen ganz einfach sehen, dass etwa die Grünen sich bei dem Hartz-IV-Kompromiss ja aus den Verhandlungen verabschiedet haben, mit der Begründung, sie hielten allemal die Regelsatzberechnungen für nicht verfassungskonform. Also diese Diskussion wird weiter da bleiben und aus richterlicher Sicht in der Sozialgerichtsbarkeit ist es vor allem wünschenswert, dass hier bald eine Klärung herbeigeführt wird.

    Engels: Nun sieht es ja so aus: 364 Euro sollen rückwirkend schon bezahlt werden, als Regelsatz für einen Erwachsenen pro Monat. Das soll noch einmal steigen. Aus Ihrer Praxis, denken Sie denn, dass das den Betroffenen spürbar helfen wird?

    Jung: Nun ja, es ist bisher von dieser Anhebung des Regelsatzes um fünf Euro monatlich die Rede. Es ist übrigens nicht davon die Rede, das erstaunt mich ein wenig, dass es eine weitere Anhebung um zirka sechs Euro monatlich geben wird – deswegen, weil die Kosten der Warmwasserversorgung nun nicht mehr durch den Regelsatz abgedeckt sind, sondern als zusätzlicher Bedarf, ebenso wie die Heizkosten, abgegolten werden.

    Engels: Das heißt, eigentlich ist die Erhöhung doch etwas größer als gedacht?

    Jung: Allerdings! Einmal dadurch wird sich die Erhöhung etwa um zehn bis elf Euro darstellen, aber auch durch die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts hat es ja Regelungen gegeben zu Sonderbedarfen, das heißt also außergewöhnliche Bedarfe, die in atypischen Lebenslagen entstehen. Die Regelung zu den Mehrbedarfen in § 21 SGB II wird erweitert, auch da wird es nicht für jeden, sondern wenn der entsprechende Mehrbedarf oder Sonderbedarf besteht, weitere Leistungen geben.

    Engels: Das klingt alles so, dass Sie sagen, im Einzelfall in der Tat gibt es weitere Leistungen, aber das ganze bleibt kompliziert. Würden Sie sich vom Verfassungsgericht, wenn dieser Fall noch einmal dort vorgetragen wird, wünschen, dass es vor allen Dingen mehr Klarheit schafft und nicht so viele Einzelfälle, mit denen Sie immer zu tun haben?

    Jung: Ja. Allerdings ist das Bundesverfassungsgericht ja kein Ersatzgesetzgeber. Das heißt, es hat nur zu prüfen, ob die gesetzliche Regelung mit der Verfassung, hier mit dem Verfassungssatz, dass das Existenzminimum gewährleistet sein muss, damit konform ist. Das heißt, es hat dem Gesetzgeber nicht haarklein vorzugeben, was er zu regeln hat, sondern nur zu überprüfen, ob die schon vom Gesetzgeber getroffenen Regelungen diesem Verfassungsgrundsatz genügen. Von daher kann es nicht etwa eine elaborierte gesetzliche Regelung vorgeben, sondern nur Maßgaben, wie der Gesetzgeber sich zu verhalten hat.

    Engels: Herr Jung, wir haben schon kurz über das Bildungspaket gesprochen. Sie sagen natürlich, aus der richterlichen Praxis kennen Sie da noch nicht die Folgen. Aber Sie kennen ja generell bürokratischen Aufwand. Die Kommunen warnen nun, sie könnten die Neuregelungen, die ja zum Beispiel eine Beihilfe zum Mittagessen oder Ähnliches betreffen, nicht so schnell umsetzen. Erwarten Sie hier wieder einen Umsetzungsstau?

    Jung: Das mag sein, das lässt sich aber nur schwer prognostizieren. Die Diskussion zwischen Bund, Ländern und Kommunen hat sich in den letzten Tagen darum gerankt, wie der Aufwand, der bei den Kommunen entsteht, und wie schnell dieser Aufwand durch den Bund wieder erstattet wird. Da hat man zu einem Kompromiss gefunden, wonach das nicht erst mit ein bis zwei Jahren Verzug, sondern schneller wieder vom Bund an die Kommunen erstattet wird.

    Engels: Hans-Peter Jung war das. Er ist der Vorsitzende des Bundes deutscher Sozialrichter und selbst Sozialrichter in Essen. Wir sprachen mit ihm über mögliche Auswirkungen der Hartz-IV-Reform, die heute von Bundestag und Bundesrat beschlossen werden soll. Vielen Dank für das Gespräch, Herr Jung.

    Jung: Bitte schön.