Mario Debovisek: Martin Diewald ist Soziologieprofessor an der Universität in Bielefeld. Guten Morgen, Herr Diewald!
Martin Diewald: Ja, einen schönen guten Morgen!
Debovisek: Liegen Gesine Schwan und DGB-Chef Sommer tatsächlich so falsch, wenn sie vermuten, dass die Verunsicherung der Menschen langsam in Verzweiflung übergeht und damit soziale Unruhen auslösen könnte?
Diewald: Ja und nein. Ich glaube, dass die differenzierte Stellungnahme von Frau Schwan, wie wir gerade gehört haben, schon zutrifft. Sie hat ja ausdrücklich gesagt, Unruhen stehen nicht vor der Tür und man sollte sie auch nicht schüren. Und sie verweist aber dennoch auf ein wachsendes Gefühl und auch eine wachsende Wahrnehmung von zunehmender sozialer Ungleichheit und Ungerechtigkeit. Und in der Tat ist die Krise, die wir im Augenblick haben, die ja erst am Beginn steht, sowohl materiell als auch psychologisch durchaus ernst zu nehmen und bedrohlich. Denn wir haben seit der Jahrtausendwende kurze Zeit danach tatsächlich auch nachvollziehbar, nachweisbar eine Spreizung von Einkommen, und daraus resultiert schon auch ein Bedrohtheitsgefühl, das wirklich reell ist. Allerdings sind wir weit davon entfernt, dass soziale Unruhen entstehen würden. Man muss sehen, dass die Krise, die jetzt eingesetzt hat, Ende des letzten Jahres, auf dieser sowieso schon vorhandenen Entwicklung zu mehr sozialer Ungleichheit aufsetzt, sie noch verschärft.
Debovisek: 3,6 Millionen Menschen in Deutschland sind im Moment arbeitslos, bis Ende nächsten Jahres könnten es laut Schätzungen sogar über fünf Millionen sein. Geht es mit unserer Gesellschaft bergab, Herr Diewald?
Diewald: So weit würde ich nicht gehen. Das zeigt sich im Übrigen auch nicht in den Reaktionen der Bevölkerung. Es gibt wohl schon ein Bewusstsein dafür, dass das System, das wir haben, die Marktgesellschaft, lange Jahre hervorragend funktioniert hat und für viele wenn nicht für alle die Lebensbedingungen entscheidend verbessert hat. Es gibt keinen Trend dahin, dieses System als Ganzes abschaffen zu wollen. Das heißt, das Vertrauen, dass das System selbst funktioniert, wenn auch vielleicht repariert werden muss an der einen oder anderen Stelle, dieses Vertrauen ist immer noch sehr groß. Und wir hatten schon einmal fünf Millionen Arbeitslose, und es sind auch keine sozialen Unruhen ausgebrochen.
Debovisek: Welche Rolle spielt denn das Vertrauen in die Politik und in die Wirtschaft?
Diewald: Das spielt eine sehr große Rolle, denn Vertrauen ist die Basis für viele Aushandlungsprozesse in der Politik und ist auch die Voraussetzung dafür, dass innerhalb der Wirtschaft gemeinsam gehandelt werden kann. Und man darf nicht vergessen, bei Ihren Einspielungen war ja auch von Gewerkschaftsseite die Bereitschaft geäußert worden, mit den Unternehmern zusammenzuarbeiten, die sozial verantwortlich in der Krise agieren.
Debovisek: Wer kann das Vertrauen wiederherstellen?
Diewald: Das Vertrauen muss von allen hergestellt werden. Das betrifft die Politik, es betrifft aber auch die Unternehmer, und insbesondere geht es darum, dass hier sozial verantwortlich gehandelt wird, da muss man allen Kommentatoren ausdrücklich zustimmen. Das heißt auch, dass Auswüchse des bestehenden Systems glaubhaft und nachvollziehbar repariert werden. Die ja auch schon bereits angesprochenen Bonizahlungen für Manager gehen am Gerechtigkeitsempfinden vorbei. Es wäre allerdings auch falsch hier, das zu personalisieren. Das System, das hier dahintersteht, ist offensichtlich falsch gestrickt gewesen und ist auch nicht auf den Kapitalismus insgesamt zurückzuführen, sondern auf ganz konkrete Deregulierungstendenzen, die bis zur Regierung Regan zurückreichen.
Debovisek: Und das System ist tatsächlich menschengemacht. Wem geben die Menschen denn in Deutschland die Schuld an zum Beispiel ihrer Arbeitslosigkeit oder in dieser Krise: der Politik, dem System oder vielleicht sogar sich selbst?
Diewald: Ich würde sagen, allen drei. Wir haben eine Gesellschaft, in der die Selbstverantwortung für das eigene Schicksal ja kulturell festgeschrieben und vorgeschrieben ist. Und das wird von den Menschen auch so wahrgenommen. Jeder ist seines Glückes Schmied. Natürlich sind wir nicht so naiv, dass wir glauben, dass wir tatsächlich das Heft immer in der Hand hätten. Die Politik hat offensichtlich es versäumt, diese Auswüchse einzudämmen, insofern wird auch der Politik eine Schuld gegeben. Und der Wirtschaft wird sicherlich nicht in toto, aber doch in Teilen, insbesondere der Finanzwirtschaft, Verantwortung für diese Krise zugeschrieben. Und das ist ja auch zusammengenommen durchaus reell. Niemand hat allein diese Krise produziert.
Debovisek: Resignieren die Menschen?
Diewald: Sie resignieren zumindest mal eher, als dass sie einen Aufruhr veranstalten. Wir müssen – und das betrifft genau die Verantwortung von Wirtschaft und Politik – wir müssen dafür sorgen, dass sie nicht zu sehr resignieren, also zu sehr glauben, dass sie selbst dafür verantwortlich sind und ja gar nichts daran tun könnten. Dieser letzte Halbsatz ist der entscheidende. Es ist nun mal aufgrund der gesamtweltwirtschaftlichen Arbeitsteilung so, dass es immer schwieriger wird für Menschen mit geringeren Qualifikationen, gut bezahlte Tätigkeiten in den fortgeschrittenen Ländern wie Deutschland in den Dienstleistungsgesellschaften zur Verfügung zu stellen. Das heißt, wir müssen dafür sorgen, dass wir auch diejenigen, die wir bisher eher – und das betrifft wirklich ein politisches und wirtschaftliches Versagen –, dass wir diejenigen, die wir ja fast abgekoppelt haben von der Wohlstandsentwicklung, also diejenigen mit geringen Qualifikationen, diejenigen, die in der Schule tendenziell scheitern, diejenigen, die von Haus aus keine guten Bedingungen mitbringen, dass wir die mit gemeinsam verstärkten Qualifizierungs- und Motivierungsanstrengungen der Industrie und der Politik wieder in das System zurückführen. Das wird die ganz entscheidende Aufgabe der Zukunft sein, um solche Resignationstendenzen einzudämmen bzw. ganz zu vermeiden.
Debovisek: Denn Resignation würde auch gleichzeitig Stillstand bedeuten. Aber wie sieht es im Moment aus, um jetzt nicht wieder über soziale Unruhen zu sprechen, aber über soziale Proteste. Wie groß ist denn das Potenzial dafür, wenn zum Beispiel auch im nächsten Jahr wie angekündigt möglicherweise die Renten sinken?
Diewald: Ja, das Ungerechtsbewusstsein ist in der Tat ein großes Problem. Wir haben in verschiedenen Untersuchungen Indizien dafür, dass das Ungerechtigkeitsempfinden steigt, und wir müssen dafür sorgen, dass besonders sichtbare Ungerechtigkeitstendenzen verschwinden, das heißt, wir müssen diese Auswüchse in der Bezahlung herausgehobener Berufe beseitigen. Wir müssen auf der anderen Seite auch sozialen Ausgleich schaffen, aber nicht in dem Sinne, dass alle, egal was es kostet – das sickert auch langsam ins Bewusstsein der Bevölkerung –, dass irgendjemand mal bezahlen muss, und oft genug sind es die eigenen Kinder durch die Schulden, die aufgebaut werden, sondern dass wir wirklich auch, wenn alle sich anstrengen sollen, dass dann Qualifizierungsmaßnahmen für neue Arbeitsplätze im Vordergrund stehen, dass neue Arbeitsplätze geschaffen werden. Denn nur so ist auf Dauer auch all das, was wir an Ausgleichszahlungen gewohnt sind, dass, egal wie die Wirtschaft läuft, trotzdem auch in schweren Zeiten Rentenerhöhungen stattfinden, wie wir das im letzten Jahr gehabt haben, dass das alles auch auf Dauer zu finanzieren ist.
Debovisek: Der Bielefelder Soziologe Martin Diewald über soziale Ungleichheit in Deutschland. Vielen Dank für das Gespräch!
Martin Diewald: Ja, einen schönen guten Morgen!
Debovisek: Liegen Gesine Schwan und DGB-Chef Sommer tatsächlich so falsch, wenn sie vermuten, dass die Verunsicherung der Menschen langsam in Verzweiflung übergeht und damit soziale Unruhen auslösen könnte?
Diewald: Ja und nein. Ich glaube, dass die differenzierte Stellungnahme von Frau Schwan, wie wir gerade gehört haben, schon zutrifft. Sie hat ja ausdrücklich gesagt, Unruhen stehen nicht vor der Tür und man sollte sie auch nicht schüren. Und sie verweist aber dennoch auf ein wachsendes Gefühl und auch eine wachsende Wahrnehmung von zunehmender sozialer Ungleichheit und Ungerechtigkeit. Und in der Tat ist die Krise, die wir im Augenblick haben, die ja erst am Beginn steht, sowohl materiell als auch psychologisch durchaus ernst zu nehmen und bedrohlich. Denn wir haben seit der Jahrtausendwende kurze Zeit danach tatsächlich auch nachvollziehbar, nachweisbar eine Spreizung von Einkommen, und daraus resultiert schon auch ein Bedrohtheitsgefühl, das wirklich reell ist. Allerdings sind wir weit davon entfernt, dass soziale Unruhen entstehen würden. Man muss sehen, dass die Krise, die jetzt eingesetzt hat, Ende des letzten Jahres, auf dieser sowieso schon vorhandenen Entwicklung zu mehr sozialer Ungleichheit aufsetzt, sie noch verschärft.
Debovisek: 3,6 Millionen Menschen in Deutschland sind im Moment arbeitslos, bis Ende nächsten Jahres könnten es laut Schätzungen sogar über fünf Millionen sein. Geht es mit unserer Gesellschaft bergab, Herr Diewald?
Diewald: So weit würde ich nicht gehen. Das zeigt sich im Übrigen auch nicht in den Reaktionen der Bevölkerung. Es gibt wohl schon ein Bewusstsein dafür, dass das System, das wir haben, die Marktgesellschaft, lange Jahre hervorragend funktioniert hat und für viele wenn nicht für alle die Lebensbedingungen entscheidend verbessert hat. Es gibt keinen Trend dahin, dieses System als Ganzes abschaffen zu wollen. Das heißt, das Vertrauen, dass das System selbst funktioniert, wenn auch vielleicht repariert werden muss an der einen oder anderen Stelle, dieses Vertrauen ist immer noch sehr groß. Und wir hatten schon einmal fünf Millionen Arbeitslose, und es sind auch keine sozialen Unruhen ausgebrochen.
Debovisek: Welche Rolle spielt denn das Vertrauen in die Politik und in die Wirtschaft?
Diewald: Das spielt eine sehr große Rolle, denn Vertrauen ist die Basis für viele Aushandlungsprozesse in der Politik und ist auch die Voraussetzung dafür, dass innerhalb der Wirtschaft gemeinsam gehandelt werden kann. Und man darf nicht vergessen, bei Ihren Einspielungen war ja auch von Gewerkschaftsseite die Bereitschaft geäußert worden, mit den Unternehmern zusammenzuarbeiten, die sozial verantwortlich in der Krise agieren.
Debovisek: Wer kann das Vertrauen wiederherstellen?
Diewald: Das Vertrauen muss von allen hergestellt werden. Das betrifft die Politik, es betrifft aber auch die Unternehmer, und insbesondere geht es darum, dass hier sozial verantwortlich gehandelt wird, da muss man allen Kommentatoren ausdrücklich zustimmen. Das heißt auch, dass Auswüchse des bestehenden Systems glaubhaft und nachvollziehbar repariert werden. Die ja auch schon bereits angesprochenen Bonizahlungen für Manager gehen am Gerechtigkeitsempfinden vorbei. Es wäre allerdings auch falsch hier, das zu personalisieren. Das System, das hier dahintersteht, ist offensichtlich falsch gestrickt gewesen und ist auch nicht auf den Kapitalismus insgesamt zurückzuführen, sondern auf ganz konkrete Deregulierungstendenzen, die bis zur Regierung Regan zurückreichen.
Debovisek: Und das System ist tatsächlich menschengemacht. Wem geben die Menschen denn in Deutschland die Schuld an zum Beispiel ihrer Arbeitslosigkeit oder in dieser Krise: der Politik, dem System oder vielleicht sogar sich selbst?
Diewald: Ich würde sagen, allen drei. Wir haben eine Gesellschaft, in der die Selbstverantwortung für das eigene Schicksal ja kulturell festgeschrieben und vorgeschrieben ist. Und das wird von den Menschen auch so wahrgenommen. Jeder ist seines Glückes Schmied. Natürlich sind wir nicht so naiv, dass wir glauben, dass wir tatsächlich das Heft immer in der Hand hätten. Die Politik hat offensichtlich es versäumt, diese Auswüchse einzudämmen, insofern wird auch der Politik eine Schuld gegeben. Und der Wirtschaft wird sicherlich nicht in toto, aber doch in Teilen, insbesondere der Finanzwirtschaft, Verantwortung für diese Krise zugeschrieben. Und das ist ja auch zusammengenommen durchaus reell. Niemand hat allein diese Krise produziert.
Debovisek: Resignieren die Menschen?
Diewald: Sie resignieren zumindest mal eher, als dass sie einen Aufruhr veranstalten. Wir müssen – und das betrifft genau die Verantwortung von Wirtschaft und Politik – wir müssen dafür sorgen, dass sie nicht zu sehr resignieren, also zu sehr glauben, dass sie selbst dafür verantwortlich sind und ja gar nichts daran tun könnten. Dieser letzte Halbsatz ist der entscheidende. Es ist nun mal aufgrund der gesamtweltwirtschaftlichen Arbeitsteilung so, dass es immer schwieriger wird für Menschen mit geringeren Qualifikationen, gut bezahlte Tätigkeiten in den fortgeschrittenen Ländern wie Deutschland in den Dienstleistungsgesellschaften zur Verfügung zu stellen. Das heißt, wir müssen dafür sorgen, dass wir auch diejenigen, die wir bisher eher – und das betrifft wirklich ein politisches und wirtschaftliches Versagen –, dass wir diejenigen, die wir ja fast abgekoppelt haben von der Wohlstandsentwicklung, also diejenigen mit geringen Qualifikationen, diejenigen, die in der Schule tendenziell scheitern, diejenigen, die von Haus aus keine guten Bedingungen mitbringen, dass wir die mit gemeinsam verstärkten Qualifizierungs- und Motivierungsanstrengungen der Industrie und der Politik wieder in das System zurückführen. Das wird die ganz entscheidende Aufgabe der Zukunft sein, um solche Resignationstendenzen einzudämmen bzw. ganz zu vermeiden.
Debovisek: Denn Resignation würde auch gleichzeitig Stillstand bedeuten. Aber wie sieht es im Moment aus, um jetzt nicht wieder über soziale Unruhen zu sprechen, aber über soziale Proteste. Wie groß ist denn das Potenzial dafür, wenn zum Beispiel auch im nächsten Jahr wie angekündigt möglicherweise die Renten sinken?
Diewald: Ja, das Ungerechtsbewusstsein ist in der Tat ein großes Problem. Wir haben in verschiedenen Untersuchungen Indizien dafür, dass das Ungerechtigkeitsempfinden steigt, und wir müssen dafür sorgen, dass besonders sichtbare Ungerechtigkeitstendenzen verschwinden, das heißt, wir müssen diese Auswüchse in der Bezahlung herausgehobener Berufe beseitigen. Wir müssen auf der anderen Seite auch sozialen Ausgleich schaffen, aber nicht in dem Sinne, dass alle, egal was es kostet – das sickert auch langsam ins Bewusstsein der Bevölkerung –, dass irgendjemand mal bezahlen muss, und oft genug sind es die eigenen Kinder durch die Schulden, die aufgebaut werden, sondern dass wir wirklich auch, wenn alle sich anstrengen sollen, dass dann Qualifizierungsmaßnahmen für neue Arbeitsplätze im Vordergrund stehen, dass neue Arbeitsplätze geschaffen werden. Denn nur so ist auf Dauer auch all das, was wir an Ausgleichszahlungen gewohnt sind, dass, egal wie die Wirtschaft läuft, trotzdem auch in schweren Zeiten Rentenerhöhungen stattfinden, wie wir das im letzten Jahr gehabt haben, dass das alles auch auf Dauer zu finanzieren ist.
Debovisek: Der Bielefelder Soziologe Martin Diewald über soziale Ungleichheit in Deutschland. Vielen Dank für das Gespräch!