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Soziologie
Billig ist in Wahrheit teuer

Neuer, schneller, bequemer, billiger. Längst haben sich Konsumenten daran gewöhnt, Kleidung, Elektroartikel, ja sogar Autos in relativ rascher Folge neu zu kaufen. Cheaponomics nennt der amerikanische Soziologieprofessor Michael Carolan diese Art des Wirtschaftens. Und übt scharfe Kritik daran.

Von Stefan Maas | 07.12.2015
    Eine Dax-Kurve
    Dax-Tafel an der Frankfurter Börse: Mehr, mehr, mehr - damit das Wirtschaftssystem funktioniert, darf der Konsum niemals stagnieren. (dpa / Daniel Reinhardt)
    Billig ist in Wahrheit teuer, ja sogar zu teuer, argumentiert Michael Carolan, denn die wahren Kosten der Produkte stehen nicht auf dem Preisschild.
    "Es liegt nahe, diese Kosten als versteckt zu bezeichnen. Aber sind sie das denn?"
    Fragt der Autor gleich auf den ersten Seiten seines Buches.
    "Sie sind nicht so offensichtlich, als würde unser Haus brennen, aber sichtbar sind sie sehr wohl – wir merken sie an unseren Steuern, an den verschmutzten Meeren, am Klimawandel und an den Gesichtern derjenigen, die täglich mit Hunger, Krankheit und Krieg dafür bezahlen."
    Rohstoffe, die in politisch instabilen Regionen gewonnen werden, schlecht bezahlte Arbeiterinnen, die in Bangladesch sterben, weil der Besitzer der Fabrik die Brandbestimmungen nicht eingehalten hat. Seetiere, die verenden, weil mitten im Meer ein riesiger Plastikwirbel treibt – die Überbleibsel der Plastiktüten, die in westlichen Gesellschaften achtlos mitgenommen und dann weggeworfen werden. Carolan, Soziologieprofessor an der Colorado State University, beschreibt sehr ausführlich diese Zustände, die den meisten Lesern nur allzu bekannt vorkommen dürften. Das macht sie allerdings nicht weniger relevant, und Carolan, der streckenweise einen etwas dozierenden Ton anschlägt, schafft es dennoch, dass man als Leser noch länger über die von ihm ausgewählten Beispiele nachdenkt. Denn der Autor macht mit ihnen auf einen Grundkonflikt aufmerksam, der bei der rein makroökonomischen Betrachtung der Welt leicht aus dem Blick gerät:
    "Milliarden Menschen können im Elend dahinvegetieren, während es der Welt makroökonomisch hervorragend geht."
    Das Paradoxon unseres Wirtschaftens
    Besonders interessant macht Cheaponomics, dass Carolan ausführlich dokumentiert, dass das von ihm ausgemachte System nicht bei Problemen am anderen Ende der Welt haltmacht. Es entfaltet sich direkt vor der Haustür der Leser und wirkt hinein bis in ihre Leben. Denn, argumentiert der Soziologe, das Versprechen eines immer komfortableren Lebens trägt ein Preisschild. Und auch hier sind die wahren Kosten nicht unbedingt auf den ersten Blick zu erkennen. Einerseits werden Produkte für Konsumenten in den reichen Staaten günstiger – die wahren Produktionskosten sind ja in die Produzentenländer ausgelagert – andererseits müssen sie schneller ersetzt werden. Nicht nur, weil billige Ware schneller defekt ist – so soll es sein, damit die Wirtschaft läuft - sondern auch, weil sie nicht mehr dem aktuellen Geschmack entspricht. Gemäß dem Mantra: Neu ist eben besser. Carolan hat die Folgen dieses Konsumverhaltens für Arbeit und Freizeit untersucht und stellt die Frage:
    "Wie kann man eine Methode, die aktiv darauf abzielt, Menschen ständig unzufrieden und unglücklich zu halten, mit Wohlstand gleichsetzen."
    Um die Paradoxie des Systems zu belegen, zitiert er eine Aussage aus einer seiner Befragungen:
    "Wir haben uns vor etwa einem Jahr entschlossen, dass unsere Familie das Zusatzeinkommen gut gebrauchen kann, und arbeiten jetzt beide Vollzeit. Deswegen musste ich mir einen zusätzlichen Wochenendjob suchen, damit wir uns die Ausgaben leisten können, die dazugekommen sind. Essen außer Haus, Reinigungsrechnungen, Kindertagesstätte, Putzfrau, Zweitwagen, Berufskleidung. Das wird sehr schnell sehr viel. Aber, wie gesagt, das Zusatzeinkommen können wir wirklich gut gebrauchen."
    Ein Extremfall, könnte der Leser schnell vermuten. Und dann, um sich zu beruhigen: Es ist ein Beispiel aus den USA. Aber auch hierzulande fällen Familien ähnliche Entscheidungen, sei es um die Ausbildung der Kinder finanzieren oder sich jährliche Urlaube leisten zu können. Auch wenn Carolans Beispiele überwiegend aus den Vereinigten Staaten stammen, vom gelegentlichen Ausflug in andere Weltregionen abgesehen, so findet der Leser schnell entsprechende Beispiele in seinem eigenen Umfeld. Das gilt auch für einen weiteren Aspekt der Kosten-Nutzen-orientierten Cheaponomics, dem der Autor ebenfalls viel Platz einräumt: Unternehmen streichen die Gewinne ein, während sie die Kosten auf die Gesellschaft abwälzen.
    Die "Ver-Marktung" unseres Alltags
    Banken, die mit Steuergeldern gerettet werden, Unternehmen, die Vergünstigungen erhalten, wenn sie sich in einer bestimmten Gemeinde ansiedeln, und damit drohen, den Standort zu verlagern, wenn ihnen diese Vergünstigungen nicht weiter gewährt werden. Firmen, die ihre Mitarbeiter so schlecht bezahlen, dass sie aufstocken müssen, womit die Gewinne beim Unternehmen bleiben, die Kosten aber sozialisiert werden. Nun mag man bei diesem Beispiel einwenden, Deutschland habe den Mindestlohn eingeführt, dennoch sind Zweit- und Drittjobs häufig zu finden, und sei es, um Konsumwünsche zu erfüllen.
    Diese "Ver-Marktung" des täglichen Lebens...
    "... zerstört langsam die Gemeinschaft. (...) Je mehr man mit Geld kaufen kann, desto weniger Zeit haben Menschen unterschiedlicher Herkunft und Stellung, miteinander in Kontakt zu kommen."
    Um der Umwelt und der Gesellschaft gleichermaßen zu helfen, sei eine neue Form des Wirtschaftens notwendig, schreibt Carolan. Die müsse nachhaltig sein. Er fordert strengere Regeln für den Markt, weniger Möglichkeit für Unternehmen, ihre Steuerlast kreativ zu reduzieren, setzt aufs Teilen, statt auf ständigen Neukauf. Stichwort: Sharing Economy. Versprechen der Industrie, nachhaltiger werden zu wollen, steht der Autor skeptisch gegenüber. Denn mehr Effizienz in einem Bereich führe oft zu Verschwendung in einem anderen. Beispiel 1: Familie Carolan, die dank Energiesparlampen das Licht brennen lässt, wenn sie nicht daheim ist. Beispiel 2: Weil Motoren weniger Sprit verbrauchen als früher, kann man die Autos größer und schwerer machen. Der Einspareffekt verpufft.
    Carolans Vorschläge, das Wirtschaftssystem zu verändern sind nicht neu, manche schon konventionell, manche werden von der Politik diskutiert, wenngleich auch nicht wirklich umgesetzt – etwa die Steuerlast für Unternehmen an deren CO2-Bilanz zu koppeln – und gelegentlich ist der Autor so von seinen eigenen Argumenten überzeugt, dass er über das Ziel hinausschießt. Ob etwa die These zu halten ist, dass bei jedem Produkt, dem durch Verarbeitung Wert hinzugefügt wird, gleichzeitig Kosten sozialisiert werden, ist fraglich. Dennoch ist Cheaponomics ein sehr gut lesbares, griffig formuliertes Buch, das auch dank vieler verblüffender Beispiele zu manch angeregter Diskussion führen dürfte.