Donnerstag, 18. April 2024

Archiv

Soziologie
Die 80/20-Pareto-Verteilung und ihre Wirkung

Die "Pareto-Verteilung", dass die Dinge, einem Eisberg gleich, zu 80 Prozent so und zu 20 Prozent anders seien, durchzieht als Erklärungsschema die unterschiedlichsten Diskurse. Mathematisch anmutend beschreibt sie jedoch kein Gesetz, sondern nur Phänomene. Bei ihrer Anwendung auf politische und soziale Verhältnisse ergeben sich nicht tragbare Konsequenzen.

Von Florian Felix Weyh | 16.03.2014
    Sich selbst die Welt zu erklären, ist ein Grundbedürfnis jedes einzelnen Menschen. Wissenschaft, religiöse Systeme und kulturelle Hervorbringungen kommen ihm dabei entgegen, und je älter er wird, desto eher bildet sich eine Art Privatmythologie heraus - die Welt als Wille und Vorstellung gewissermaßen. Diese Mythologie ist allerdings gar nicht so privat, sondern besteht aus einer Mixtur häufiger kommunikativer Skripte, verbreiteter Glaubensinhalte, praktischer Lebenserfahrungen und einem Gran anerkannter Forschungsergebnisse.
    Was man oft, vielleicht sogar in Varianten vernimmt, erspart einem eigenes Nachdenken; in der Wiederholung und Varianz des Skripts liegt dann dessen offensichtliche Beweiskraft. Medienmenschen - zu denen auch ich zähle - sind ganz groß darin, solche Welterklärungen in nuce am Leben zu erhalten, zumal wenn darin ein Schuss Mathematik steckt, eine Miniaturweltformel gewissermaßen. So las man in der inzwischen eingestellten Wochenzeitung "Rheinischer Merkur" im Herbst 2010 folgende Interviewpassage mit dem Ex‑Nationaltorwart Oliver Kahn über Leistung, Motivation und Überengagement:
    "Fragesteller: Kennen Sie das Pareto-Prinzip?" Kahn: "Das Pareto-Prinzip kenne ich sehr gut, auch aus meinem MBA-Studium." Der italienische Ingenieur Vilfredo Pareto stellte fest, dass in der Natur und der Kultur vieles einer bestimmten Verteilung folgt: 20 Prozent des Eisbergs über, 80 Prozent unter Wasser. In Bezug auf menschliche Leistungen sagt das Pareto-Prinzip: 20 Prozent Aufwand bringen 80 Prozent Ergebnis, für den Rest braucht es 80 Prozent des Aufwands. Müssen wir alle immer volle Leistung bringen? Kahn: "Gott sei Dank nicht!"
    Das Eisberg-Prinzip
    Zu den Proportionen des Eisbergs - gar jenes, der die Titanic aufschlitzte - hat sich der erwähnte italienische Ingenieur niemals geäußert. Auch über Verteilungsverhältnisse in der Kultur oder Leistungsdruck im Sport findet sich in seinen umfangreichen Schriften nichts. Ebensowenig wie über Verkehrsstaus, die es zu seinen Lebzeiten noch gar nicht gab:
    "Um ein staufreies Hessen zu erreichen, bleiben den Planern noch fünf Jahre", meldete vor einigen Jahren die "Frankfurter Allgemeine Zeitung". "Einfach wird es für sie nicht werden, die restlichen 20 Prozent an Stauzeiten zu verringern. Denn für komplexe Projekte gilt das Prinzip des italienischen Ingenieurs Vilfredo Pareto, wonach die letzten 20 Prozent die meiste Arbeit verursachen."
    Schon diese Beispiele lassen erahnen, dass ich mir keineswegs die Welt mit einem Privatmythos erschließe, wenn ich - wie viele Menschen - hin und wieder auf 80/20-Relationen verweise. Schließlich trägt der Umstand sogar einen bekannten Namen, den Vilfredo Paretos. In der europäischen Geistesgeschichte gilt Pareto neben Émile Durkheim, Auguste Comte und Max Weber als Mitbegründer der modernen Soziologie. Als zahlenverliebter Mann des 19. Jahrhunderts hat er die Wahrheit stets in der messbaren Wirklichkeit gesucht. Bis heute ist sein Werk nur bruchstückhaft ins Deutsche übertragen und wäre wohl - bis auf ein paar volkswirtschaftliche Formeln - längst vergessen, gäbe es da nicht ein Phänomen, um das sich herum ein ganzes Phantasma auskristallisierte. Unter verschiedenen Begrifflichkeiten geistert es durch unsere Gedankenwelt: Pareto‑Verteilung, Pareto-Prinzip, Pareto-Regel oder vielleicht auch nur Pareto‑Credo:
    "80 Prozent der Unternehmensgewinne weltweit werden von 20 Prozent der Unternehmensbranchen erzielt. 80 Prozent des von Kunden wahrgenommenen Werts beziehen sich auf 20 Prozent der Tätigkeiten eines Unternehmens. 80 Prozent der Tätigkeiten einer Branche führen zu lediglich 20 Prozent des Nutzens für ihre Kunden."
    Und so weiter! Nein, nicht so weiter, sondern noch radikaler, von der Ökonomie ins Leben hinübertragen:
    "Im gesellschaftlichen Bereich verursachen 20 Prozent der Kriminellen 80 Prozent des Gesamtschadens durch Verbrechen. 20 Prozent der Fahrer verschulden 80 Prozent der Unfälle. 20 Prozent der Verheirateten machen zu 80 Prozent die Scheidungsstatistik aus - die 20 Prozent nämlich, die sich ständig wiederverheiraten und scheiden lassen. In den eigenen vier Wänden leiden 20 Prozent der Teppichfläche unter 80 Prozent des Verschleißes."
    Ist das eine Wahrheit? Zumindest ist es ein populäres Erklärungsschema, damit ungeachtet des Wahrheitsgehalts Teil unserer sozialen Wirklichkeit - und das macht neugierig! Aus dem fernen 19. Jahrhundert stammen diese Worte nämlich nicht. Der amerikanische Unternehmensberater Richard Koch äußert sich so in seinem mehr als 700.000 Mal verkauften Sachbuch "Das 80/20-Prinzip", in dem er 1997 Paretos Phantasma höchst erfolgreich auf Ratgeberformat brachte. Seither ist das Buch ein Longseller, und seine Sprache verrät schon, woher der Autor kommt, aus der Schule der Effizienz-Gurus mit ihren leicht zu memorierenden Botschaften:
    "Versuchen Sie bei allen Produktsortimenten, Arbeitsprozessen, Marketingbotschaften, Absatzkanälen, Produktdesigns, Fertigungsverfahren, Dienstleistungen und Meinungsumfragen, die einfachsten 20 Prozent zu ermitteln. Kultivieren Sie diese 20 Prozent. Verfeinern Sie sie, bis es nicht mehr einfacher geht. Streben Sie bei den einfachsten 20 Prozent nach höchster Qualität und Beständigkeit. Wenn etwas kompliziert wird, vereinfachen Sie es; und wenn das unmöglich ist, beseitigen Sie es."
    Mathematisch verbrämte Sprachfigur
    Beseitigen Sie alles, was komplex ist! Freilich: Vilfredo Pareto die Worte seiner heutigen Jünger vorzuwerfen, wäre unredlich, selbst wenn man nicht aus den Augen verlieren sollte, dass sich der frühe italienische Faschismus seiner Theorien bemächtigte; dazu später mehr. Nur mit Mühe allerdings findet man in Paretos umfassendem Werk überhaupt konkrete Aussagen zur 80/20-Regel. Wirkungsgeschichtlich betrachtet verwundert das kaum, denn überdauert eine Gedankenfigur nicht umso länger, je weitreichender und vager man sie formuliert? 2010 notierte der auf den Tod erkrankte Schriftsteller Wolfgang Herrndorf in sein Tagebuch:
    "Ziemliches Motivationsproblem, von morgens bis abends an etwas zu arbeiten, das man mit achtzigprozentiger Wahrscheinlichkeit als Ergebnis nicht sehen wird. Ich versuche es mit dem Gedanken, dass ich mir in zwei Jahren mit zwanzigprozentiger Wahrscheinlichkeit in den Arsch beißen werde, wenn ich es dann nicht geschrieben habe."
    Das klingt nach Mathematik, ist aber in dem Fall eine metaphorische Sprachfigur und entspricht damit dem üblichen Gebrauch von Paretos Phantasma. Für Pareto selbst waren die Zahlen entscheidend, stammte seine grundlegende Beobachtung doch aus der Mathematik. Genauer gesagt aus der Statistik. So schreibt der Ökonom Hans-Jürgen Wagener in einer biografischen Skizze über den italienisch-französischen Soziologen:
    "Auf der Suche nach empirischen Regelmäßigkeiten, die er dann wie Naturgesetze behandeln konnte, stieß Pareto auf die Beobachtung, dass die personelle Einkommensverteilung und Vermögensverteilung für Perioden und Regionen, für die er über statistisches Material verfügte (und er ging dabei bis ins 15. Jahrhundert zurück), eine erstaunliche Konstanz aufwiesen." Und weiter:
    "Konkret fand er, dass die logarithmische Beziehung zwischen den Einkommen und der Zahl der Personen mit einem Einkommen von X oder mehr linear ist, und dass das Steigungsmaß der Geraden über Raum und Zeit mehr oder minder eine Konstante ist. Zahlreiche natürliche und soziale Phänomene, die ein Gleichgewicht zwischen "klein" und "groß" erreicht haben, weisen eine solche Verteilung auf. Die Frage nach der theoretischen Erklärung seines Gesetzes hat Pareto wenig beschäftigt, was immer wieder kritisch angemerkt wurde. Ihm schien es evident, dass die einkommensgenerierenden Eigenschaften der Menschen eben einer Pareto-Verteilung unterliegen."
    Die Soziologie des späten 19. Jahrhunderts war ambitioniert. Sie wollte die Gesellschaft nicht nur verstehen, sondern auch lenken und leiten. Naturgesetzliche Konstanten wären dabei eine große Hilfe gewesen, und so wagte Pareto 1901 eine Hypothese:
    "Wenn man davon ausgeht, dass die Menschen aufgrund [ihrer] Merkmale in Schichten unterteilt sind, beispielsweise nach ihrer Intelligenz, ihrer Befähigung zum Mathematikstudium, ihrer musikalischen, schriftstellerischen, dichterischen Begabung, ihren moralischen Qualitäten und so weiter, wird man wahrscheinlich Kurven haben, die ähnlich geformt sind wie die, die wir vorhin für die Verteilung des Reichtums gefunden haben."
    Damit war der Zaubertrank in der Welt, denn die seinerzeit vorliegenden Daten zur historischen und damals gegenwärtigen Reichtumsverteilung ergaben in der Tat eine Kurve mit einer näherungsweisen 80/20-Verteilung. Und wer seither an diesem Trank nippt, droht seiner berauschenden Wirkung zu erliegen:
    "Die Qualitäten eines Landes sind auf Minderheiten zurückzuführen, seine Mängel auf Mehrheiten", artikuliert etwa der kolumbianische Aphoristiker Nicolás Gómez Dávila seine Demokratieabscheu genau entlang dieser Kurve, und der deutsche Schriftsteller Siegfried Lenz trug auf einer Amerikafahrt 1962 eine seltsame Entdeckung in sein Reisetagebuch ein; eine der vielen 80/20-Merkwürdigkeiten, die seit Jahren meinen Weg kreuzen:
    "Aus meinem Anzug wurden achtzig Dollar gestohlen (man hat an die Stelle eines 100-Dollar-Scheins einen 20-Dollar-Schein hineingelegt)."
    Die Steigerung von 80/20
    Wo Diebe die Pareto-Regel anwenden, statt alles wegzunehmen, mag man eine Verhöhnung des Kapitalismus vermuten: Seht her, wir haben das geltende Bereicherungsprinzip perfekt begriffen! Viel plausibler erscheint jedoch, dass Siegfried Lenz die 80 Dollar für irgendetwas ausgegeben, den Vorgang danach aber sofort wieder vergessen hatte. Denn keineswegs lässt sich überall, wo die Relation 80/20 aufflackert, gleich eine Pareto-Verteilung vermuten. Ausdrücklich gilt sie nur für statistisch aussagekräftige Mengen. Ein, zwei Dutzend sind da nichts, es braucht die Ableitung aus der großen Zahl, "Big Data" würde man heute sagen. Und mit Big Data erreicht das Pareto-Phänomen eine neue Qualität. Doch zuvor drängt uns die Formel noch eine Zuspitzung auf: Mit 80/20 ist die schiefste Schieflage noch lange nicht erreicht:
    "Die Präsenz auf Social Media, so die bekannte 90/9/1-Regel, besteht für 90 Prozent der Userinnen und User aus Lektüre, für neun Prozent zusätzlich aus Kommentieren, und nur ein Prozent erstellt eigene Inhalte."
    Für einen Medienmenschen ist diese 90/9/1-Regel vollkommen nachvollziehbar und wirkt, von einem Fachbuch zertifiziert, nachgerade selbsterhebend. Genau darin manifestiert sich ja die Kraft von Paretos Phantasma, dass es sich gleich einem Horoskop stets irgendwie mit der eigenen narzisstischen Weltwahrnehmung in Deckung bringen lässt: 99 Prozent sind Medienkonsumenten, nur ein Prozent - wie man selbst - stellt den kreativen Geist. Halleluja! Je deutlicher sich solche Schieflagen zeigen, desto höher fällt der persönliche Gewinn aus. Und so spreizt der erwähnte Ratgeber-Autor Richard Koch schon auf den vorderen Seiten seines Bestsellers die Schere beträchtlich auseinander:
    "Das 80/20-Prinzip verweist darauf, dass sich bei der Untersuchung und Analyse von zwei Datensätzen, die sich auf Ursachen und Wirkungen beziehen, mit höchster Wahrscheinlichkeit eine unausgewogene Verteilung zeigen wird. Das Verhältnis kann 65/35 betragen, 70/30, 75/25, 80/20, 95/5, 99,9/0,1 oder jedes andere Zahlenpaar dazwischen."
    99,9 zu 0,1 - das ist die amerikanische Winner-takes-it-all-Verheißung par excellence. Wäre sie psychologisch unwirksam, würde Koch sie nicht erwähnen. Statistik verführt uns mathematische Normalwesen gern zum Selbstbetrug. Sie vernebelt Kausalitäten, indem sie verheimlicht, wo sich das persönliche Einzelschicksal in der Zahlenwolke befindet, bei den 0,1 oder bei den 99,9 Prozent. Entgegen aller Evidenz geleitet uns die Psycho-Logik meist dorthin, wo der geringste Schmerz zu befürchten ist. Würde man die Menschen befragen, ob sie sich zu den angenommenen 80 Prozent der trägen, ineffizienten Masse zählen oder zu den 20 Prozent Überfliegern - auf welchen Lebensbereich auch immer angewandt -, erhielte man in der Selbsteinschätzung garantiert 80 Prozent Überflieger und 20 Prozent Bodenpersonal. Das wäre dann Paretos Paradox. Zur Ehrenrettung des Soziologen muss gesagt werden, dass er Wahrscheinlichkeitsaussagen selbst misstraute, sobald sie klassische Kausalitätsbeziehungen vernebelten. Im Originalton:
    "Hier sind wir an den Grenzen des Wahrscheinlichen angelangt, und es beginnt das Reich des nur Möglichen. Wir wollen uns hüten, die Grenzen zu überschreiten, wir wollen die Gefahr vermeiden, auch noch über den Bereich des Möglichen hinauszugehen und in den unermesslichen Gefilden der Imagination zu schweifen."
    Statistik oder Naturgesetz?
    Andererseits erwartete Vilfredo Pareto vom Gesetz der großen Zahl auch große Erkenntnisse und stand damit nicht alleine. Seit Anfang des 19. Jahrhunderts hatte ein aus statistischen Daten gewonnenes Phänomen gleichsam Naturgesetzcharakter angenommen, weil es in derart vielen biologischen, physikalischen und sozialen Vorgängen auftauchte, dass es kein Zufall sein konnte: die Normalverteilung, die Gaußsche Glockenkurve. Messwerte mit multifaktoriellem Ursprung sind in der Regel normalverteilt. Zwischen 60 und 90 Prozent gruppieren sich - je nach Steilheit der Glockenform - mit geringer bis mäßiger Abweichung um einen Mittelwert herum. Im Gegensatz zur Pareto-Verteilung sind bei Gauß die Relationen allerdings ausbalanciert: Wenn es auf der einen Seite zwei Prozent Genies gibt, dann gibt es auf der anderen Seite zwei Prozent Idioten; den paar Riesen stehen auch nur ein paar Zwerge gegenüber. Im Kern hat Gauß ein die Demokratie stützendes Phänomen entdeckt: Wenn der Mittelwert so stark ist, kommt ihm entscheidender Einfluss zu. Man darf also die breite Bevölkerung nicht entmündigen, extreme Ränder fallen nicht wirklich uns Gewicht.
    Auswirkung auf Politik und Gesellschaft
    Pareto - der auch persönlich ein aristokratisch geprägter Demokratiegegner war - lieferte dagegen eine Vorlage für asymmetrische Herrschaftssysteme: Wenn 20 Prozent einen achtzigprozentigen Wirkungsgrad aufweisen, dann muss man ihnen achtzigprozentige Mitsprachemacht zubilligen, auch wenn ihre Kopfzahl viel kleiner ausfällt. Dem Pareto-Phantasma ist das Ungleichheitsprinzip inhärent, und das hat Konsequenzen, selbst wenn man es wie der amerikanische Unternehmensberater Richard Koch nur auf gesellschaftliche Subsysteme anwendet:
    "Richten Sie die größten Ausbildungsanstrengungen auf diejenigen, die nach dem ersten Ausbildungsabschnitt die besten Leistungen zeigen. Dabei sollten die besten 20 Prozent der Ausgebildeten in den Genuss von 80 Prozent der Ausbildungsmaßnahmen kommen. Stellen Sie die Ausbildung der unteren 50 Prozent ein, außer es zeichnet sich auch hier ein deutlicher Nutzen ab."
    Kein sympathisches Weltbild, und vermutlich ist es entgegen der Intentionen seines Urhebers nicht mal sonderlich effizient. Von einer Belegschaft die Hälfte der Angestellten ungeschult zu lassen, kann teuer werden, denkt man nur an die von Fehlern und Schlampereien verursachten Schäden. Politisch teuer ist dieses Weltbild ohnehin, denn war nicht schon Ideenlieferant Pareto ein Trommler Mussolinis?
    "Unbestritten hat Pareto der faschistischen Bewegung zahlreiche Argumente geliefert, die ihre Gewalttätigkeiten ideologisch verbrämten. Aber in einem sehr wesentlichen Punkt unterscheidet er sich von allen faschistischen Ideologen: Er leugnete jeglichen Wahrheitsgehalt der nationalistischen Bewegung und tat ihre Glaubensinhalte als Derivate nichtlogischer Handlungen ab." Heißt es 1964 in einer der wenigen deutschen Arbeiten des Soziologen Richard Hamann zu Pareto. Auch knapp ein halbes Jahrhundert später hat sich an dieser Einschätzung kaum etwas geändert, wie Carlo Mongardini 2007 konstatiert:
    "Wenn man die Arbeiten und Briefe Paretos liest, der in der letzten Periode zwischen Leidenschaft und Vernunft hin- und hergerissen wurde, so kann man viele Beweise dafür finden, dass er Faschist war und viele dafür, dass er es nicht war. Dies ist wahrscheinlich bei vielen italienischen Intellektuellen jener Zeit möglich. Die Tatsache, dass Pareto für eine so kurze Zeit Faschist war oder nicht Faschist war, dürfte die Tatsache, dass seine Hypothesen einen gewissen Grad an Zuverlässigkeit besitzen oder nicht, weder irgendwie bereichern noch irgendwie beeinträchtigen."
    "Die Geschichte ist ein Friedhof von Eliten."
    Das klingt etwas vom hohen Ross der unbefleckten Wissenschaft herab, ist aber tatsächlich plausibel, da die "zahlreichen Argumente für Gewalttätigkeiten", die der Intellektuelle laut Hamann dem Putschisten Mussolini geliefert haben soll, sich auf Paretos Elitentheorie beziehen. Diese enthält ein von rechts wie von links okkupierbares revolutionäres Moment, da sie ein rollierendes System der Elitenherrschaft konstatiert, gewalttätige Umstürze inbegriffen. Eliten kommen und vergehen, weil immer wieder aggressive Aufsteiger von unten nachwachsen. Paretos Meinung dazu ist sprichwörtlich geworden: "Die Geschichte ist ein Friedhof von Eliten."
    Als aggressive Underdogs mochten die Faschisten diese Idee. Die uns hier beschäftigende 80/20-Formel stand ihrer Ideologie jedoch schon deswegen entgegen, weil diese dem simplen Glauben an die Masse widersprach: Wenn Volkstribune meinen, ihre Macht einfach per Kopfzahl aufaddieren zu können, verkennen sie die Hebelwirkung sozialer Ungleichheit. Auch in der Masse sind nicht alle gleich wichtig, gleich wirksam, gleich effizient. Diese Ungleichheit wird aber in Paretos Modell betont, und entgegen der herrschenden Moral stellt sie auch heute noch ein Faszinosum dar.
    Paretos Phantasma hält sich beharrlich in den Köpfen, weil es als Gegenentwurf für Leute taugt, die sich nicht fortwährend von jener Gleichheitserzählung entmutigen lassen wollen, die da lautet: "Egal, was du tust, du bist entweder nicht im Recht, besser zu sein als andere, oder du kannst gar nicht besser sein." Letzteres bricht sich an der Lebenswirklichkeit. Natürlich gibt es überall Bessere und Schlechtere, und Vilfredo Pareto fand das auch nicht schlimm. Er sah in einer ausdifferenzierten Werteskala menschlicher Eigenschaften die größten Chancen für den Einzelnen, nach oben zu kommen. Einer Werteskala, die in Paretos eigener Beschreibung Schulzensuren gleicht, und zwar ungeachtet der moralischen Anrüchigkeit mancher dieser Eigenschaften:
    "Dem überragenden Anwalt wird man beispielsweise eine 10 zubilligen, demjenigen, dem es nicht gelingt, auch nur einen einzigen Klienten zu bekommen, eine 1, um eine Null demjenigen vorzubehalten, der ein richtiger Idiot ist. [...] Dem tüchtigen Schmarotzer, der die Leute hereinzulegen und doch durch die Paragraphen des Strafgesetzbuches zu schlüpfen weiß, werden wir, entsprechend der Anzahl von Einfaltspinseln, die ihm ins Netz gingen, und den Geldsummen, die er ihnen aus der Nase zu ziehen wusste, eine 8, 9 oder 10 zubilligen; dem armen Gelegenheitsdieb, der im Restaurant ein Silberbesteck stiehlt und bei seiner Flucht direkt der Polizei in die Arme läuft, werden wir eine 1 geben."
    Genau wie in der 80/20-Relation lockt hier ein narzisstischer Gewinn, wie Richard Hamann analysiert: "Im Extremfall gäbe es demzufolge nur Eliten; denn der Nachweis dürfte nicht schwerfallen, dass fast alle Menschen auf irgendeinem Gebiet die Chance haben, überdurchschnittliche Fähigkeiten zu entwickeln. [...] Der intellektuell Minderbegabte ist unter Umständen ein hervorragender Fußballspieler, und der physisch Schwache zeichnet sich vielleicht durch künstlerische Begabungen aus."
    Man kann Paretos Notensystem als sozialdarwinistischen Spleen des ausklingenden 19. Jahrhunderts abtun, spränge nicht ein Wiedererkennungseffekt ins Auge: "Scoring" nennt man heute die numerische Erfassung und Bewertung von Menschen, ihren Charakterzügen und ihrem Verhalten, und Scoring ist weit verbreitet. In inniger Wechselbeziehung dazu steht das Big-Data-Phänomen, die steigende Sammelwut aller nur denk- und verbuchbaren Informationen.
    Pareto und der große Datenpool von heute
    Hier wird die Frage, ob die 80/20‑Relation nur mundfertige Metapher oder doch eine nachweisbare Tatsache ist, vom Kopf auf die Füße gestellt. Aus heutiger Sicht war Paretos damalige Datenlage nämlich viel zu schwach für eine derart wirkungsmächtige These. Auch seine Nachfolger - vor allem im Bereich der Betriebswirtschaftslehre - stützten sich oft nur auf überschaubare Firmendatenmengen, anekdotische Beobachtungen und pro‑domo-Interpretationen.
    Vor dem Hintergrund von Big Data könnte sich der italienische Sozialingenieur mit seinen Vermutungen jedoch als erschreckend weitsichtig erweisen. Parallel zum Siegeszug des E-Commerce verkündete etwa der US-Wirtschaftspublizist Chris Anderson die ermutigende These vom "long tail": Onlinehändler böten viel mehr Produkte an als stationäre Läden - ergo würde die Bandbreite an Büchern, CDs und so weiter im neuen Kapitalismus wachsen; der gnadenlose Hitparaden- und Bestsellerausleseprozess sei gestoppt. Die Betroffenen hörten es gerne - bis eine Wissenschaftlerin einige Online-Musikalienhändler unter die Lupe nahm. Der "long tail", der „lange Schwanz“, existierte bei ihnen zwar, aber er war so flach, dass man ihn kaum wahrnehmen konnte. Nur zehn Prozent der Musiktitel sorgten für 78 Prozent des Umsatzes, das oberste eine Prozent für 32 Prozent der Verkäufe. Eine typische Pareto-Verteilung, und es erscheint nicht unplausibel, dass sich solche Zahlen in den Grüften von Big Data häufiger finden lassen - und dann ist es sogar gleichgültig, ob hinter Paretos Phantasma eine schlüssige Theorie steckt oder nicht. Big Data mache nämlich Theorien insgesamt überflüssig, meint Chris Anderson an anderer Stelle:
    "Unternehmen wie Google, die in einem Zeitalter gewaltiger Datenmassen groß geworden sind, müssen sich heutzutage nicht für falsche Modelle entscheiden. Es ist vorbei mit jeder Theorie über das menschliche Verhalten, von der Linguistik bis zur Soziologie. Wer kann schon sagen, warum die Menschen das tun, was sie tun? Sie tun es einfach, und wir können das mit beispielloser Genauigkeit aufspüren und ausmessen. Wenn ausreichend Daten vorhanden sind, sprechen die Zahlen für sich."
    Tun sie das wirklich, birgt das für Pareto-Fans ein nicht unerhebliches Risiko, voller Euphorie auf vermintes Gelände zu laufen. Diese Erfahrung machte schon der Managementberater Richard Koch 1997. Seit der überarbeiteten Zweitfassung seines Buches "Das 80/20-Prinzip" verweigert er seinen Lesern ein Schlusskapitel, das ihm vor dem Welterfolg durchaus unbedenklich erschien. Sein Kommentar dazu:
    "Dabei handelte es sich um den missglückten Versuch, das 80/20-Prinzip auf die Gesellschaft und die Politik anzuwenden. Alle anderen Kapitel stießen überwiegend auf positive Kritik und lediglich vereinzelt auf negative Reaktionen, doch das letzte Kapitel wurde von nahezu allen Lesern verrissen."
    Warum eigentlich? Kann man aus einer Erkenntnis nur den Honig heraussaugen und die Pareto-Verteilung als ultima ratio effizienten Wirtschaftens preisen, deren Folgen für Gesellschaft und Politik aber links liegenlassen? Entweder eine Sache gilt oder sie gilt nicht. Aber links liegen lassen kann man Pareto kaum, dass ist auch Richard Koch klar, und so nimmt er in der Erstausgabe etwaige Angriffe gleich vorweg:
    "Das 80/20-Prinzip könnte sich in Einklang mit der radikalen Rechten befinden. Wenn sich natürlicherweise eine Gesamtheit immer in eine Minderheit von starken und eine Mehrheit von schwachen Kräften aufteilt, und wenn das menschliche Leben, die Gesellschaft, die Wirtschaft und die Natur alle zusammen dieses Phänomen reflektieren (wie ich argumentiert habe), dann ist es nur ein kleiner Sprung bis zur übergeschnappten Welt der extremen Rechten. Ungleichheit ist natürlich und Antrieb allen Fortschritts. Elitenherrschaft ist so natürlich wie unausweichlich, Macht setzt Recht, und jede Form von Sozialtechnik wird scheitern, weil sie bloß das reibungslose Funktionieren der Welt stört."
    Dem gefährlichen Übergang zur Politik nähert sich Koch freilich nicht mal im später gestrichenen Text; zu brisant erscheinen ihm die Schlussfolgerungen fürs Wahlrecht oder die Verteilungspolitik. Ein Pareto-Jünger kommt aber gar nicht um diese Fragen herum: Sollen angesichts einer 80/20-Konstante alle wählen dürfen? Warum subventioniert man Ineffizenz durch Lohngleichheit? Die naheliegenden Antworten überböten die ultrarechte Rhetorik bei weitem. Allerdings gibt es mindestens zwei Möglichkeiten, Paretos Phantasma den dunklen Schein eines dystopischen Fluchs zu nehmen. Zum einen durch unser Wissen, dass sich im Gegensatz zur Meinung des 19. Jahrhunderts statistische Aussagen eben nicht als statische Eigenschaften auf den Menschen übertragen lassen, sondern nur Momentaufnahmen von Verhaltensweisen darstellen.
    Die Konsequenz im Sozialen ist undenkbar
    Big Data sagt nichts darüber aus, ob soundsoviel Menschen eines Landes dumm oder klug sind, sondern nur, wie sich diese Menschen in einer bestimmten, beobachteten Situation verhalten - und Verhalten ist veränderungsoffen. Zum anderen ist die Pareto-Verteilung im Kern neutral, was sich bezeichnenderweise genau dort zeigt, wo man sie künstlich erzeugt, um einer anderen Pareto-Verteilung entgegenzutreten. Dass die deutsche Einkommensteuer einer klassischen Pareto-Kurve folgt - wenige tragen überproportional viel zum Steueraufkommen bei -, wird ja exakt so gewünscht. Hier könnte eine - seltsamerweise nie öffentlich kommunizierte - Begründung für das an sich verwunderliche Ungleichheitsprinzip der progressiven Besteuerung liegen: Die künstlich erzeugte Pareto-Verteilung soll der vorliegenden bei der Reichtumsentwicklung entgegenwirken. Ein bisschen klingt das nach dem homöopathischen Kernsatz similia similibus curentur (Ähnliches werde durch Ähnliches geheilt), und selbst als Naturkonstante wäre Paretos Phantasma damit kein unabänderliches Schicksal mehr, sondern immer auch ein nutzbares Instrument. Die Gefahren bleiben gleichwohl. Hören wir noch einmal den letztes Jahr an einem Hirntumor verstorbenen Wolfgang Herrndorf:
    "Sechs Kohlenstoff, sechs Wasserstoff, sechs Stickstoff, zwei Sauerstoff zu zwei Ringen gebogen: Temozolomid. Fünf Tabletten 1.189,17 Euro. Danke, AOK. Im Ernst: Ich weiß nicht, wie das Gesundheitssystem ausgesehen hat, bevor alle anfingen, sich zu beschweren, wie sehr runtergerockt es nun sei, aber was dieses System schon in die Errettung und Erhaltung einer flackernden Kerze investiert hat, die sich um das Bruttosozialprodukt dieses Landes bisher auch noch nicht so verdient gemacht hatte: Erstaunlich. Danke, Staat, danke Gesellschaft, danke AOK, danke, danke."
    Ein überproportional hoher Anteil der medizinischen Pro-Kopf-Kosten entsteht am Ende des Lebens. Je länger eine schwere Krankheit dauert, desto teurer wird sie; eine kleine Minderheit an Kranken sorgt für die Mehrheit der Kosten. Wer zu üppig am Pareto-Zaubertrank genippt hat, wittert hier Handlungsbedarf. Aber diese Verteilung ist effizienz-tabu, wir müssen sie auf ewig hinnehmen. Sonst geht alles unter.