Donnerstag, 18. April 2024

Archiv

Soziologie
Konsumverhalten und Moral

"Erst kommt das Fressen, dann die Moral": Bertolt Brechts Analyse scheint ins Wanken zu geraten, betrachtet man den Trend zu Bioprodukten, den Erfolg veganer Kochbücher und fair gehandelten Kaffees. Der Soziologe Jonas Grauel hat den Einfluss des Gewissens auf das Genießen in Deutschland untersucht.

Von Thomas Kleinspehn | 20.03.2014
    Spieß in veganer Imbiss-Stube aus dem Fleischersatz Seitan
    Gesündigt wird nur vegan: Dönerspieß aus dem Fleischersatz Seitan (dpa picture alliance / Uwe Zucchi)
    Wahrscheinlich kennt das fast jeder von uns: Auf dem Weg von der Arbeit fällt uns ein, dass der Kühlschrank zu Hause leer ist. Der nächste Bioladen hat schon zu, aber der Discounter um die Ecke bietet sein Sortiment noch bis 22 Uhr an. Auch wenn das Risiko groß ist, dass dort nicht unbedingt alles zweifelsfrei produziert worden oder garantiert gesund ist, dürfte der Griff zu industriellen Massenprodukten vorgebahnt sein. Aber auch der bewusste Gang an den Gemüsestand mit Biozertifikat auf dem Markt kann im tiefen Winter zum Wunsch nach Erdbeeren oder Zucchini führen, auch wenn wir wissen, dass diese Früchte oder Gemüse nur über lange Transportwege auf den heimischen Markt gelangt sein können. Die Diskrepanz zwischen unserem Wissen und der Alltagsmoral kann schnell ganz groß werden. Das hat jedenfalls Jonas Grauel empirisch untersucht. Der jetzt an der Hamburger Universität forschende Konsumsoziologe hat sich an den älteren Studien seiner Kollegen gestört, die lediglich nach den Konsumgewohnheiten von Menschen gefragt haben, ohne sie in deren Alltag einzuordnen:
    "Mir war es wichtig, im Gespräch mit den Menschen, die ich interviewt habe, das auch gar nicht gleich so zu framen, dass Moral jetzt das Thema ist, sondern ich habe mir erst mal ganz viel erzählen lassen, über deren Alltag und wie sie essen, einkaufen, den Alltag gestaltet haben in der Vergangenheit und heute. Mir war eigentlich wichtig, aus diesem offenen Ansatz dann raus zu gucken, wo kommen in diesen Erzählungen so Vorstellungen des guten Konsums vor, dass ich die rekonstruieren kann. Mir war natürlich auch klar, dass dann immer Problematisierungen gleichzeitig dieser Vorstellungen auch in den Interviews mit reinkamen, dass man die Verstricktheit von Moral in den Alltag beachten muss."
    Moral im Alltag
    Konsequent wählt Grauel deshalb qualitative Zugänge. Mit seinem offenen Fragebogen gelingt es ihm, seine Interviewpartner erzählen zu lassen. Dadurch treten die widersprüchlichen Alltagsgewohnheiten zutage, die in einem standardisierten Fragebogen eher untergegangen wären. Da ist zum Beispiel ein Befragter, der zwar ziemlich genaue Ideen davon hat, was für ihn gesund und gut ist, der sich aber häufig bekochen lässt oder auswärts isst. Hierbei gehen seine normativen Vorstellungen dann unter. Im Kontrast dazu traf Grauel aber auch auf eine Mutter, die sich vor allem wegen der gesunden Ernährung für ihre Kinder sehr bemüht, bewusst einzukaufen und zu kochen. Das funktioniert aber nur so relativ widerspruchsfrei, weil sie sehr viel Zeit auf Einkauf und Kochen verwenden kann. Im Spagat zwischen Berufstätigkeit und Familie klappt das allerdings nur selten. Auf der Grundlage seiner Interviews arbeitet Grauel vier verschiedene Muster heraus, die er "Orientierungsmuster" nennt:
    "Zum einen, da geht es um die Orientierung, Verantwortung zu übernehmen als Konsument für entfernte andere, für die Umwelt, für Tiere. Das ist so diese Vorstellung, dass man Gutes tun kann mit dem, wofür man sich als Konsument entscheidet. Die zweite Sinnorientierung, ich nenne das eine Suche nach authentischem Konsum von Lebensmittel. Ich habe da rausgelesen aus den Interviews, dass es sehr stark so eine Unterscheidung ist, wo bin ich als Konsument nahe dran an der Produktion, regionale Produkte oder Produkte, die möglichst naturnahe hergestellt sind, während industriell hergestellte Massenprodukte als Produkte wahrgenommen werden, die ein Stück weit Entfremdungen mit sich tragen. Die dritte Idee des guten Konsums ist ganz stark gebunden an die Idee einer gesunden Ernährung. Man soll sich gesund ernähren, man soll sich um seinen Körper kümmern, aber auch um seine Seele, wenn es nötig ist. Ich würde sagen, kulturell dominanter erscheint mir dieser Imperativ, dass man fit bleiben muss, dass man schlank bleiben muss, dass man in erster Linie für seinen Körper Sorge tragen muss. Der vierte Typ von Moralorientierung, da sehe ich eine Dichotomie zwischen dem Notwendigen und dem Überflüssigen, dass gewisse Konsummuster einfach als verschwenderisch, als überflüssig betrachtet werden."
    Konsum der Mittelschicht
    Mit diesen Typisierungen erfasst Grauel jedoch vor allem das, was man heute als "Mitte der Gesellschaft" umschreiben würde. Obwohl er auch mit Menschen gesprochen hat, die zum Zeitpunkt des Interviews prekär beschäftigt oder gar arbeitslos waren, hatten alle eine Mittelschichtperspektive. Die gesellschaftlichen Extreme kommen so in Grauels Untersuchung nicht vor. Dennoch bedeutet das nicht, dass sich die Interviewten nicht auch abgrenzen würden - nach oben und nach unten.
    "Es scheint Vorstellungen zu geben, die verbreitet sind unter den Leuten, die ich interviewt habe, dass es ganz oben in der Gesellschaft bei den Reichen und Wohlhabenden eine Unmoral beim Konsum von Lebensmitteln gibt und genauso ganz unten. Das sind die Extreme des sozialen Spektrums von denen sich die Interviewten doch abgrenzen. Aber diese Abgrenzung bedeutet nicht, dass die Moralvorstellungen selber klassenspezifisch sind."
    Denn solche Vorstellungen hat der Soziologe überall gefunden. - Immer dann wenn Jonas Grauel die Widersprüchlichkeiten und Ambivalenzen zwischen Konsum und normativen Moralvorstellungen beschreibt, kann sein Buch sehr konkret Einblick geben in das Alltagsleben von Mittelschichten in Deutschland. Allerdings ist es eher ein Buch über Konsumverhalten und Moral. Die Frage des Essens und der Ernährung bleibt nachgeordnet. Dennoch könnte es für Berater, Pädagogen in der Erwachsenenbildung oder an Schulen interessante Aufschlüsse darüber geben, warum es nicht ausreicht, Menschen nur Wissen über ihr gesundes Essen und richtiges Ernährungsverhalten zu vermitteln, wenn man ihre Alltagsgewohnheiten oder ihren "inneren Schweinehund" nicht auch in den Blick nimmt. Um zu solchen wichtigen und spannenden Erkenntnissen zu gelangen, muss man sich in Grauels Buch aber erst einmal durch lange sehr hölzerne und akademische Passagen kämpfen. Das beruhigt zwar das Gewissen des Wissenschaftlers, macht die Lektüre aber nicht unbedingt zu einem Genuss. So muss man manche Hürde erst überwinden, will man sich mit Grauels Hilfe wirklich auf das wichtige Thema einlassen.
    Jonas Grauel: "Gesundheit, Genuss und gutes Gewissen. Über Lebensmittelkonsum und Alltagsmoral"
    Bielefeld, transcript Verlag, 2013, 32,99 Euro