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Soziologie
Unser Reichtum und die Armut der anderen

Wir im Westen leben nur deshalb in Saus und Braus, weil wir andere ausbeuten. Das ist die These, die der Soziologe Stephan Lessenich in seinem neuen Buch "Neben uns die Sintflut" formuliert. Er spricht von Externalisierungsgesellschaften: Die Kosten und Risiken unseres Lebensstils lagerten wir aus in ärmere Weltregionen, so der Autor.

Von Isabell Fannrich | 21.11.2016
    Eine Schlammlawine zerstörte im November 2015 das Dorf Bento Rodriguez im Bundesstaat Minas Gera in Brasilien. Der Damm des Klärbeckens eines Eisenerz-Bergwerks brach, Millionen Kubikmeter giftigen Schlamms ergossen sich talabwärts und begruben zuerst das Dorf Bento Rodriguez unter sich. 19 Menschen kamen in der Nähe der Unglücksstelle ums Leben.
    Eine Schlammlawine aus dem Klärbecken Eisenerz-Bergwerks zerstörte im November 2015 das Dorf Bento Rodriguez im Bundesstaat Minas Gera in Brasilien. (imago stock&people / Andreas Behn)
    Im November 2015 brachen in der brasilianischen Bergbaustadt Mariana im Bundestaat Minas Gerais die Dämme zweier Rückhaltebecken. 60 Millionen Kubikmeter schwermetallhaltigen Schlamms, die Abwasser einer Eisenerzmine, ergossen sich über die angrenzende Gemeinde und in den Flusslauf des Rio Doce. Obwohl die Risse in der Staumauer bekannt waren, hatten die verantwortlichen Großkonzerne das Becken durch eine massiv gesteigerte Fördermenge überlastet.
    Diese von Menschen gemachte Umweltkatastrophe beschreibt Stephan Lessenich in seinem Buch "Neben uns die Sintflut" als Paradebeispiel. Rio Doce ist überall und damit quasi Normalität. Der von transnationalen Konzernen verschmutzte Fluss und die arbeitslosen Fischer spiegeln für den Soziologen Lessenich die herrschenden globalen Verhältnisse wider: eine ökonomisch-ökologische Weltordnung, in der die rohstoffreichen Länder des sogenannten globalen Südens ihre Ressourcen zum Nutzen der reichen Länder im Norden rücksichtslos ausbeuten.
    "Die Umweltschäden treten dort auf. Die Arbeitsbedingungen sind dort schlecht. Die Produkte werden importiert, wir säubern unsere Ökobilanz damit, sehen wunderbar aus in den Daten. Es gibt breite Forschungen über dieses ökologische Paradoxon, dass in den Weltregionen, wo der ökologische Fußabdruck groß ist, die sichtbaren und messbaren Umweltschäden klein sind."
    Die Ausbeutung des globalen Südens
    Der Professor für Soziologie an der Universität München legt eine verstörende Analyse weltweiter Ungleichheit vor, deren Wurzeln er in der Kolonialisierung des Südens und der Entstehung des globalen Kapitalismus sieht. Lessenich bezeichnet die reichen, früh industrialisierten Länder als Externalisierungsgesellschaften - er greift damit den von Ökonomen und Psychologen verwendeten Begriff der Externalisierung beziehungsweise Auslagerung auf.
    Der Soziologe Stephan Lessenich ist Professor an der Ludwig-Maximilians-Universität in München
    Der Soziologe Stephan Lessenich ist Professor an der Ludwig-Maximilians-Universität in München (dpa / picture alliance / dpa-Zentralbild)
    Die Macht der reichen Länder bestehe in der Chance, die Kosten der eigenen Lebensführung auf periphere Weltregionen abzuwälzen und diese auszubeuten. "Es geht um die andere Seite der westlichen Moderne, um ihr 'dunkles Gesicht', um ihre Verankerung in den Strukturen und Mechanismen kolonialer Herrschaft über den Rest der Welt. Es geht um Reichtumsproduktion auf Kosten und um Wohlstandsgenuss zu Lasten anderer, um die Auslagerung der Kosten und Lasten des 'Fortschritts'."
    Neu sind diese Erkenntnisse nicht. Die globale Ungleichheit wurde in der soziologisch-ökonomischen Forschung schon vielfach beschrieben – Lessenich greift diesen Diskurs auf und verwebt ihn mit seiner eigenen Analyse. Dabei hebt er hervor, dass die Einkommens- und Vermögensunterschiede zwischen den Gesellschaften des globalen Südens und Nordens, wie er es nennt, viel größer sind als innerhalb der Gesellschaften selbst.
    Externalisierungshabitus
    Neu ist allerdings, wie der Soziologe nicht nur den Mythos, alle könnten von einer globalisierten Weltwirtschaft profitieren, demaskiert. Darüber hinaus entwickelt er die Doppelgeschichte, wenn einer gewinnt, verlieren andere, weiter. Lessenich schreibt: "Es geht noch um eine weitere, dritte Geschichte: um die Abwehr des Wissens um ebendiese Doppelgeschichte, um deren Verdrängung aus unserem Bewusstsein, um ihre Tilgung aus den gesellschaftlichen Erzählungen individuellen und kollektiven 'Erfolgs'. Wer von unserem Wohlstand hierzulande redet, dürfte von den damit verbundenen, verwobenen, ja ursächlich zusammenhängenden Nöten anderer Menschen andernorts nicht schweigen. Genau das aber ist es, was ununterbrochen geschieht."
    Die reichen Gesellschaften und ihre Bürger, also wir, haben einen Externalisierungshabitus entwickelt, sagt der Autor unter Bezug auf den französischen Soziologen Pierre Bourdieu. Lessenich belegt unser selbstverständliches und zugleich rücksichtsloses Konsumverhalten mit so vielen Beispielen, dass es kaum auszuhalten ist. Wir kennen zwar unsere privilegierte Reisefreiheit, verdrängen diese aber ebenso wie die Tatsache, dass Mangrovenwälder für unseren kulinarischen Genuss von Shrimps weichen müssen.
    Reichtum ist keine Frage der Anstrengung
    "Nicht, dass wir das nicht wissen könnten, was da passiert. Sondern das Argument wäre, wir wollen es auch nicht wissen. Und wir müssen es auch nicht wissen. Weil die Durchschnittsbürgerinnen dieser Gesellschaft in einer Position sind, dass sie dieses Wissen nicht an sich ran lassen müssen jeden Tag. Andere Menschen in anderen Weltregionen, in anderen Sozialpositionen wissen das sehr gut."
    Lessenich warnt vor einem schlichten "Weiter so". Der alte Mechanismus werde nicht mehr lange funktionieren, prophezeit er: Die Zerstörung der Lebens- und Arbeitsbedingungen im Süden, der einsetzende Klimawandel sowie Kriege und Konflikte führten dazu, "dass die Effekte dieser Auslagerungsprozesse, dieser langfristigen jahrhundertelangen Auslagerungsprozesse zunehmend auf die hoch entwickelten Gesellschaften zurück schlagen. Das ließe sich jetzt in Sachen Klimawandel schon andeutungsweise nachvollziehen. Und ich würde sagen, Fluchtmigration so wie wir sie jetzt erlebt haben im letzten Jahr, wäre ein Punkt [...] wo die Auslagerungsprozesse zurückschlagen auf die Entsendeländer der Auslagerungsmechanismen."
    "Neben uns die Sintflut" ist soziologische Analyse und moralischer Appell zugleich. Das Buch legt den Finger in die Wunde, indem es daran erinnert, dass der Reichtum einer Minderheit nicht allein ihrem Fleiß oder einer produktiven Wirtschaft zuzuschreiben ist, sondern maßgeblich, wie Lessenich sagt, der strategischen Position in der Weltwirtschaft.
    Verstörendes Fazit
    Auf einen praktikablen Lösungsvorschlag wartet man vergebens. Eine individuelle Verhaltensänderung wie der Verzicht auf Shrimps, dicke Autos und Kreuzfahrten, löse das strukturelle Problem von Ungleichheit nicht. Auch ein Zusammenschluss globalisierungskritischer Bewegungen in Nord und Süd reiche nicht aus, um gleiche Lebenschancen für alle durchzusetzen.
    "Nur wenn es gelingt, das nationale wie transnationale Institutionengerüst der Externalisierungsgesellschaft im Sinne eines demokratischen, global-egalitären Reformprojektes umzupolen, wird sich nicht nur unser Gewissen aufhellen, sondern auch die soziale Lage großer Bevölkerungsmehrheiten rund um die Welt."
    Doch dafür driften die Interessen innerhalb der armen und der reichen Gesellschaften zu weit auseinander, lautet das verstörende Fazit. Die Externalisierungsgesellschaft ist zwar an einem Wendepunkt angelangt, doch radikale Veränderungen sind derzeit nicht in Sicht.
    Stephan Lessenich: "Neben uns die Sintflut".
    Hanser Berlin, 2016. 224 Seiten, 20 Euro.