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Soziologie
Was Pfandsammler umtreibt

Sie gehören längst zum Stadtbild: Menschen, die in Mülleimern nach Pfandflaschen suchen. Welche Motive sie haben, das untersucht Sebastian J. Moser in seiner soziologischen Studie. Bei seiner "Erkundung einer urbanen Sozialfigur" hat er nicht nur Menschen getroffen, die aus rein ökonomischer Not Flaschen sammeln.

Von Thomas Kleinspehn | 04.08.2014
    Ein Einkaufswagen mit leeren Bierflaschen steht an einer Wiese in Hannover.
    Der Pfandflaschensammler - eine urbane Sozialfigur. (picture alliance / dpa / Julian Stratenschulte)
    Man könnte sie für Stadtindianer halten. Scheinbar ohne eindeutiges Ziel schleichen sie durch städtische Räume, nehmen selten Kontakt zu anderen Menschen auf. Dennoch haben sie ein eindeutiges Ziel. Seit gut zehn Jahren gibt es in deutschen Städten die Pfandsammler, meist Männer, aber nicht ausschließlich. In den Mülleimern, vor Bahnhöfen, in Zügen, Fußgängerzonen oder bei Großveranstaltungen suchen sie nach weggeworfenen Flaschen oder Dosen, die noch mit Pfand belegt sind. Haben sie größere Mengen zusammen, bringen sie sie zu den Getränke- oder Dosenautomaten der Supermärkte. Hier setzen sie ihre Beute in Geld um. Das Ende einer Suche, die ganz unterschiedlich gedeutet wird. Nach deren Sinn hat sich jetzt Sebastian J. Moser gefragt, Deutschlehrer in Frankreich und als Soziologe Mitarbeiter am "Centre Max Weber" in Lyon:
    "Die Widersprüchlichkeit, die sich darin entwickelt, dass man auf der einen Seite sagt, na ja, die machen das alle nur wegen dem Geld, auf der anderen Seite aber letztendlich doch auch weiß, na ja gut, für Pfandgebinde gibt es acht Cent, 15, 25 Cent. Das kann ja so viel nicht sein, also wird der Mythos in der Weise überspitzt, dass es mittlerweile auch Geschichten gibt von Pfandsammlern, die damit reich geworden sind und das ist dann letztendlich die Figur des Tellerwäschers, der zum Millionär geworden ist."
    Nicht nur ökonomische Beweggründe
    Im Jahre 2006 wurde das Pfand auch auf Einwegverpackungen eingeführt und seitdem sind Flaschensammler unübersehbar. Doch den Millionär unter ihnen hat Moser nicht getroffen. Seine "Erkundung einer urbanen Sozialfigur", wie er es nennt, ist die erste qualitative Untersuchung zum Thema. Sie bringt uns nicht nur diese Menschen etwas näher, sondern kann auch darüber Aufschluss geben, wie eine Gesellschaft mit dem scheinbar Überflüssigen umgeht – den Menschen und den Gegenständen. Denn ganz anders als im Vorfeld erwartet, trifft Moser nicht auf Menschen, die aus rein ökonomischer Not Flaschen sammeln. Er begegnet vielmehr Menschen, die das Gefühl behalten wollen, sie gingen einer nützlichen Arbeit nach – quasi als selbstständige Kleinunternehmer mit eigenen Entscheidungsspielräumen:
    "Die nicht-ökonomischen Beweggründe, die dazu führen, die sind eigentlich relativ unbekannt: Das ist auf der einen Seite die Wertigkeit von Arbeit, die für diese Menschen noch immer sehr hoch ist, die nicht unbedingt damit zu tun hat, dass sie vom Erwerbsarbeitsmarkt exkludiert sind. Es geht aber auch bis hin zu Arbeitern und Angestellten, die auch sammeln gehen und für die aber auch eben der Wert von Arbeit so extrem ist, dass sie sich keine andere Tätigkeit vorstellen könnten als Arbeiten zu gehen, selbst in ihrer Freizeit. Und der andere Aspekt ist die Position des sozial Vereinsamten, der sehr wenige Sozialkontakte hat, der aufgrund von einer prekären Stellung entweder innerhalb des Arbeitsmarktes oder auch außerhalb keine sozialen Netzwerke sich aufbauen kann."
    Dass das so ist, illustriert Sebastian Moser an drei konkreten Beispielen. Da ist zum Beispiel die Rentnerin Elisabeth, die sagt, sie müsse sich aus gesundheitlichen Gründen sowieso bewegen. Das Sammeln von Flaschen und Dosen erscheint ihr dann als eine sinnvolle Nebenbeschäftigung, die sie diszipliniert und innerlich distanziert ausführt. Auch für den Hartz-IV-Empfänger Thomas hat das Sammeln eine Funktion: Es strukturiert seinen Alltag und hilft ihm im Kampf gegen Vereinsamung. Obwohl er deutlich erlebt, dass er einer "niederen" Beschäftigung nachgeht, sieht er im Müllentsorgen dennoch eine "gute Tat" für die Gesellschaft, die ihm letztlich ein angenehmes Gefühl vermitteln kann. Ganz anders dagegen Dieter. Er geht einer geregelten Arbeit nach. Das Pfandsammeln ist für ihn eine Art Freizeitbeschäftigung, die er jedoch wie Arbeit strukturiert. Mit den zusätzlichen Einnahmen spart er für eine größere Urlaubsreise. Für Moser haben diese zunächst ganz unterschiedlichen Motive ihre Gemeinsamkeiten darin, dass sie von Vorstellungen über den Wert der Arbeit und von Bemühungen um die Strukturierung des Alltags geprägt sind. Man könnte auch sagen, die Pfandsammler suchen nach einem Sinn in einer Tätigkeit, die ironischerweise gleichzeitig als etwas Niederes eingestuft ist:
    Informelle Müllentsorger
    "Weil letztlich die Pfandsammler das ja auch so sehen, dass sie da eine Dienstleistung erbringen, wobei das natürlich das Ambivalente bei dieser Tätigkeit ist: Auf der einen Seite gehört zur Tätigkeit sozusagen der professionelle Habitus der Unterwürfigkeit, die man zum Beispiel bei Dienstboten finden kann, aber der anderen Seite ist es für sie aber auch ganz klar, dass sie da eine Dienstleistung erbringen, die zum Teil sehr hoch individualisiert ist. Aber dennoch wissen sie, dass sie für andere Menschen Flaschen entsorgen. Also sie sind sozusagen informelle Müllentsorger."
    Alle Pfandsammler beschreiben ihre Tätigkeit weitgehend als ein praktisches Problem, dem sie nüchtern nachgehen und mit dem sie sich deutlich abgrenzen von Bettlern oder Almosenempfängern. Sie regeln etwas, worum sich andere nur unzureichend bemüht haben, etwa weil sie bei Großveranstaltungen einfach Flaschen abgestellt oder sie in den Müll geworfen haben, ohne die Möglichkeit der Wiederverwertung zu beachten. Diese Selbstbeschreibung dient vor allem dazu, sich und ihre eigentlich negativ besetzte Tätigkeit aufzuwerten:
    "Ich würde auch sagen, dass die Pfandsammler natürlich nicht außerhalb der Gesellschaft stehen, um diese Ambivalenz ihrer Tätigkeit wissen, das heißt, zum Beispiel die Strategien oder die Körpertechniken, die entwickelt werden müssen, wenn man ein Pfandsammler ist, zum Beispiel unauffällig in der Mülleimer hineingucken, das sind ja letztlich Lösungsstrategien, die nur entwickelt werden müssen in dieser Art und Weise, weil natürlich der Pfandsammler weiß, in den Mülleimer greift man normalerweise nicht hinein, sondern man schmeißt nur etwas hinein und dadurch dass es sich ja auch um Mitglieder der Gesellschaft handelt, wissen sie natürlich um die Abweichung ihres Verhaltens und müssen sich dementsprechend verhalten."
    So schleichen die Pfandsammler durch deutsche Großstädte, darum bemüht Anerkennung zu bekommen, aber gleichzeitig nicht aufzufallen. Moser beschreibt sehr genau ihr Verhalten, ihren Gang, ihre Körpersprache. Anders als historische Vorgänger, wie die Ährensammler oder Lumpensammler sind sie Einzelgänger und stellen keine soziale Gruppe dar mit eigenen solidarischen Strukturen. So entsprechen sie durchaus dem Individualismus des liberalen Kapitalismus. Mosers präzise Analyse sagt deshalb über das Spezifische der Pfandsammler hinaus ebenfalls etwas über unsere gesamte Gesellschaft aus: Über gesellschaftliche Umgangsformen, über die Bewertung von Arbeit und unseren Umgang mit Wertstoffen. Man könnte Mosers Buch durchaus in eine Reihe stellen mit großen Studien über Arbeitslose, Gemeindestudien über Außenseiter oder lokale Untersuchungen französischer Sozialhistoriker. Dennoch bleibt ein Wermutstropfen. Denn die befragten Pfandsammler selbst kommen in Mosers Studie konkret nur auf rund 30 Seiten vor. Ansonsten bilden seine empirischen Beobachtungen nur den Hintergrund für weitere Fragen. Nicht zuletzt hat das mit seiner Befragungsmethode zu tun.
    "Es ist einfach ein forschungspragmatisches Problem gewesen, an diese Menschen heranzukommen. Auf der einen Seite ist das Pfandsammeln eine Tätigkeit, die sich in Bewegung abspielt, das heißt, man muss in die Bewegung dieser Personen eingreifen, um sie in irgendeiner Form zumindest zu einem kurzen Stillstand zu bewegen, um dann den Kontakt herstellen zu können. Es ist eine Tätigkeit, die stigmatisiert ist und daher von den Personen ihrer Außenwelt gegenüber sehr viel Misstrauen ausgeht, und dieses Misstrauen in Vertrauen umzuwandeln, ist bei den Pfandsammler ein Akt, der in Sekundenschnelle passieren muss. Und all die Gespräche, die nicht zustande gekommen sind, zeugen eigentlich von dem Problem, dass das In-Kontakt-Kommen mit diesen Menschen so einfach nicht ist."
    Deshalb hat sich Sebastian Moser bewusst für verdeckte Interviews entschieden. Das ist durchaus nachvollziehbar, macht aber auch die Schwäche des Buches aus. Denn als verdeckter Interviewer ist er von der zufälligen Bereitschaft der Interviewten abhängig. Das erklärt auch, warum der eigentliche empirische Teil so knapp ausgefallen ist. Hier hätte man gerne mehr zum Beispiel über die Biografien und weiteren Lebensumstände der Pfandsammler erfahren. So lernt man viel über das Sammeln, die Gabe, über Abfall oder neo-liberale Ästhetik und was das mit dem Pfandsammeln zu tun hat. Den Menschen selbst hätte man jedoch gerne auch noch länger zugehört.
    Sebastian J. Moser: "Pfandsammler. Erkundung einer urbanen Sozialfigur".
    Hamburg, Hamburger Edition, 2014, 22 Euro.