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Spagat zwischen zwei mythenumwobenen Orten

Geoff Dyers Roman verbindet eine Geschichte aus dem alten Europa mit einer Geschichte aus dem ewig neuen Indien. Der Mittvierziger Jeff Atman, ein frustrierter Magazinjournalist mit Biennale-Ticket, ersteht auf halber Strecke als namenloser Ich-Erzähler an den Ufern des Ganges wieder.

Von Gregor Dotzauer | 27.11.2012
    Um Gattungsgrenzen hat er sich nie gekümmert. Der Brite Geoff Dyer, 1958 in der Grafschaft Gloucestershire geboren, ist als Erzähler ein Essayist, als Essayist ein Erzähler, und wo man verführt ist, ihn angesichts seines leichten Tons für einen ironischen Plauderer zu halten, hebt er manchmal die schwersten metaphysischen Gewichte. Auch "Sex in Venedig, Tod in Varanasi", das drei Jahre nach dem englischen Original nun auf Deutsch erscheint, ignoriert wieder alle Erwartungen, die man mit der Bezeichnung Roman verbinden würde. Das Buch agiert formal nicht weniger verwegen als "Die Zone", Dyers vor einem halben Jahr veröffentlichtes und eigentlich jüngeres "Buch über einen Film über eine Reise zu einem Zimmer", wie er es nennt. Eine fußnotenüberwucherte Lektüre von Andrej Tarkowskis filmischer Dystopie "Stalker", die sich abenteuerlich ausschweifend von ihrem Gegenstand entfernt, um ihn dann wieder hochkonzentriert einzukreisen.

    "Sex in Venedig, Tod in Varanasi" enthält zwar stofflich alles, was der Titel verspricht. Die sonstige Zusammensetzung lässt sich aber nicht leicht bestimmen. Denn das Ganze ist zunächst ein Buch mit zwei gleichermaßen hart aneinander stoßenden wie bedrohlich auseinander fallenden Teilen. Ein Diptychon, das eine Geschichte aus dem alten vergehenden Europa mit einer Geschichte aus dem ewig neuen Indien zusammenspannt. Der Mittvierziger Jeff Atman, ein frustrierter Magazinjournalist mit Biennale-Ticket, von dem Geoff Dyer zunächst in der dritten Person erzählt, ersteht auf halber Strecke plötzlich als namenloser Ich-Erzähler an den Ufern des Ganges wieder. Von der Kunstversessenen Touristenhochburg an der Lagune gelangt er so ins Pilgerzentrum Varanasi, die heilige, auch als Benares bekannte Stadt der Leichenverbrennungen, wo er seinen Schreibauftrag mehr und mehr aus den Augen verliert.

    Geoff Dyer, der in beiden Fällen auf eigene Reiseerlebnisse zurückgreift, hat "Sex in Venedig, Tod in Varanasi" etwas Kaleidoskophaftes verliehen. Zum einen illustriert der kulturelle Kontrast zwar das Unversöhnliche gegensätzlicher Erfahrungswelten. Zum anderen wird er aber von der Erkenntnis in Schach gehalten, dass alles nur Verwandlung ist. Die Wasserstadt Venedig wird bei ihm durch eine Vielzahl von Motiven zu einem Zwilling der Wasserstadt Varanasi. Und Laura, die Frau seines Lebens, der Jeff Atman in Venedig begegnet, ist eine imaginäre Schwester jener Anderen, auf die sich sein Begehren kurzzeitig am Ganges richtet. Isobel heißt sie, was, in die Namensbestandteile zerlegt, die gleichermaßen Schöne bedeutet. Während er seinen Nachnamen Atman schon im Vorgriff auf Indien erhalten hat: Das Sanskrit meint damit den Atemhauch der Seele.

    "Was hier ist", zitiert ein abschließendes Motto die Katha Upanishad, "ist auch dort, und was dort ist, ist auch hier." Geoff Dyer versucht, dieses Gleiche aufzuspüren: mit einem bewundernswerten Gespür für die Kulissenhaftigkeit von Venedig und das theatralische Dauerevent der Leichenverbrennung - zugleich mit einem leisen Schwindel vor einer alle Unterschiede mit sich fortreißenden Ähnlichkeit: "Wird Varanasi wie Genf aussehen", fragt sich der Erzähler einmal, "oder wird Genf wie Varanasi werden? Wie lange wird das dauern? Oder vielleicht ist es schon passiert? Vielleicht hat jede Stadt als die andere begonnen, und sie befinden sich jetzt in dem langsamen Prozess der Rückbildung."

    Der Venedig-Teil tritt auf als bissige Kunstbetriebssatire. Er zeichnet das Bild einer amüsierwütigen Meute zynischer Kulturdarsteller, die zur Biennale fassweise Bellini saufend über die Giardini herfallen und abends noch schnell eine Kokslinie ziehen. Die ausführlichen, teils drogeninduzierten Sexszenen, die Jeffs Passion für die deutlich jüngere, in die Zufälle des Schicksals verliebte Amerikanerin Laura ausmalen, liegen dabei nicht nur in der Logik der Geschichte. Sie sind auch das literarische Korrektiv für die Porno-Fixiertheit der ausgestellten Kunst.

    Der insgesamt stärkere Varanasi-Teil trägt in seiner tagebuchartigen Form die Züge eines "Indien für Anfänger", zu dessen Absurditäten sich der Ich-Erzähler ungläubig vortastet. Von der plastischen Beschreibung des Verkehrschaos bis zur Analyse, dass hier jede Form von Kommunikation den Gesetzen des Handels unterworfen sei, leistet Dyer eine boshafte Instant-Ethnologie, die zu gerne in eine Liebeserklärung umschlagen würde. Sie scheitert nur immer wieder an den Verhältnissen. Glänzend die Szene vor einer Bank, in deren Tumult Jeff - weder in einer Schlange noch in einer Nicht-Schlange stehend - sich mit aller Kraft zum Geldautomaten vorkämpft, der ihm diesen Sieg mit einer sofortigen Niederlage vergällt: Seine PIN wird abgelehnt. Schlagend die Einsicht, dass jeder, der in einem solchermaßen lärmenden Außen lebt, geradezu zwangsläufig den Weg in ein spirituelles Innen antreten muss.

    Geoff Dyers Humor ist oft schmerzhaft – auch für ihn selbst. So beschreibt er, wie Jeff vom Kottriefenden Schwanz einer Kuh auf den Mund getroffen wird und dann tagelang seine Eingeweide nach außen stülpen muss. Szenen solcher Selbsterniedrigung erlauben Dyer wiederum, Armut und Krankheit rundherum mit einem hohen Maß an Komik zu begegnen, ohne dass dies einem Überfall durch räudige Kinder etwas von seiner Trostlosigkeit nehmen würde.

    Sowohl Venedig wie Varanasi sind durch eine ganz an der Oberfläche bleibende Betrachtung des Stadtbildes zur pittoresken Wiedererkennbarkeit verdammt. Aber Dyer weiß selbst am besten, dass beide Orte literarisch bis in den letzten Winkel erschlossen sind. Wie soll er Mary McCarthys hier immer wieder zitiertem "Venedig" noch etwas hinzufügen? Wie kann man nach Thomas Manns "Tod in Venedig" noch einmal große Leidenschaft inszenieren? Oder ist ein Besuch am Grab des Venedigenthusiasten Joseph Brodsky auf der Toteninsel San Michele nicht per se ein poetischer Akt?

    Wenn dieses Buch eine Schwäche hat, dann diejenige, dass sich die wechselseitige Durchlässigkeit seiner Welten nur von der indischen Seite aus erschließt. Aus dem Land der unendlichen Transformationen ist es sehr viel leichter, in die Totenstadt Venedig zu blicken als umgekehrt. Zugleich sind die Denkmuster, mit denen Dyer Indien zu Leibe rückt, in hohem Maße europäisch, um nicht zu sagen anglozentrisch. Für das Lesevergnügen an diesem streckenweise auf reportagehaftes Tempo gebrachten Buches spielt das keine Rolle. Denn wie sagt Geoff Dyer mit dem Dichter Dean Young: "Dies ist nicht der Fluss, es ist eine Erklärung des Flusses, die den Fluss ersetzte."

    Geoff Dyer: Sex in Venedig, Tod in Varanasi.
    Roman. Aus dem Englischen von Matthias Müller
    DuMont, Köln 2012. 349 Seiten, 19,99 Euro