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Spaniens Jugend und das weiße Pulver

In keinem Land der EU wird so viel Kokain konsumiert wie in Spanien. Psychiater machen dafür auch den frühen Alkoholkonsum der Kinder und Jugendlichen auf der iberischen Halbinsel verantwortlich.

Von Hans-Günter Kellner |
    Madrids Nachtleben ist weltberühmt. Im Szeneviertel Malasaña freuen sich nicht nur die Barbesitzer über den reißenden Absatz an den Theken, sondern auch Drogenhändler kommen auf ihre Kosten. In keinem Land der EU wird so viel Kokain konsumiert wie in Spanien. Wer auf den Toiletten die Linien mit dem weißen Pulver zieht, hat oft schon Jahre mit der Droge hinter sich, sagt Alberto in einem Madrider Therapiezentrum. Er ist 30 Jahre alt, das Kokain hat mehr als die Hälfte seines Lebens bestimmt:

    "Ich war 13 Jahre alt, als ich es zum ersten Mal nahm. Die Leute, die konsumierten, lachten viel, es schien ihnen gut zu gehen. Da wurde ich neugierig und wollte es probieren. Eine Freundin bot es mir vor der Schule an. Statt in den Unterricht zu gehen, nahmen wir Kokain."

    Es ist sein dritter Versuch, von der Droge loszukommen. Am Anfang der Therapie war er drei Wochen isoliert, durfte keine Besuche empfangen und die Station nicht verlassen. Inzwischen übernachtet Alberto in einer Wohnung des Therapiezentrums und kommt am Tag zur ambulanten Behandlung und Gruppentherapie. Er hatte viel Zeit zum Nachdenken:

    "Mit 20 Jahren wurde ich Vater, aber da zerstörte ich mich schon nach und nach selbst. Bis ich gar nichts mehr hatte. Jetzt kämpfe ich um mich selbst, darum, ein guter Vater zu sein. Man bekommt hier die Augen geöffnet, lernt, sich selbst Schranken zu setzen, riskante Situationen zu erkennen, die in mir den Wunsch nach Kokain erwecken könnten. Das alles hilft, sich auf das Leben auf der Straße einzustellen. Die Straße, der Alltag, das ist das Schwierigste. Mein größter Wunsch ist, ein neues Leben zu beginnen, glücklich zu werden, stabil, ohne Rückfälle, ein guter Vater sein, ein normales Leben zu führen."

    Ohne Kokain wird er leben können, aber die Droge wird ihn wie eine Sirene immer rufen, sagt der Psychiater Diego Urjales, der Leiter des Therapiezentrums. Denn Kokain greife so stark in das Gehirn der Süchtigen ein, dass sich der Wunsch danach in bestimmten Situationen nur unter größten Anstrengungen - oder auch gar nicht - unter Kontrolle halten lasse. Solchen Situationen müssten Süchtige darum unbedingt aus dem Weg gehen, erklärt der Suchtexperte:

    "Ein Kokainsüchtiger wird sein ganzes Leben lang abhängig bleiben. Das Gehirn eines verstorbenen Abhängigen zeigt selbst nach 30 Jahren der Abstinenz noch unter dem Elektronenmikroskop die vielen anormalen Verbindungen, die sich zwischen den Zellen gebildet haben. In Teilen des Gehirns haben Süchtige viel zu viele dieser sogenannten Synapsen. Das ist die biologische Grundlage der Sucht."

    Auch Nikotin, Cannabis oder Alkohol können solche Veränderungen auslösen und Menschen für eine Kokainsucht anfälliger machen, warnt der Suchtexperte. Darin sieht er auch den Grund, weshalb der Anteil der Kokainkonsumenten in Spanien mit drei Prozent der Bevölkerung deutlich höher als im EU-Durchschnitt ist:

    "Es ist nicht das Gleiche, mit Alkohol oder Nikotin im Alter von 15 Jahren zu beginnen, wie mit 25 Jahren. Das Gehirn bildet sich in diesem Alter noch heran. Vielleicht wird in anderen Ländern mehr getrunken. Aber unsere Jugendlichen beginnen sehr früh mit dem Alkohol. Das macht ihre Gehirne für spätere Abhängigkeiten sehr anfällig. Wenn sie später Kokain konsumieren, ist die Wahrscheinlichkeit, dass sie abhängig werden, viel größer."

    Neben Alberto sitzt der 31-jährige Aaron. Er gehört zur gleichen Therapiegruppe, auch er hat schon als Teenager mit dem Alkohol, den Zigaretten, Joints und schließlich dem Kokain angefangen, wurde von der Familie aus der Wohnung geworfen, auch er träumt von einem normalen Leben. Die Chancen sind ungewiss: Rund 20 Prozent der Patienten von Arzt Diego Urjales brechen die Therapie vorzeitig ab. Von denen, die durchhalten, konsumiert rund die Hälfte in den zwölf Monaten nach der Therapie kein Kokain mehr. Aaron hofft, Risikosituationen künftig aus dem Weg gehen zu können. Die Ärzte - und auch das Jugendamt - sehen den Vater einer Tochter auf einem guten Weg:

    "Meine komplette Familie unterstützt mich. Sie haben mir alles verziehen. Sie lieben mich sehr. Ich darf meine Tochter jetzt sehen. Ich soll sogar nach einer erfolgreichen Behandlung das Sorgerecht bekommen, denn ihre Mutter ist auch süchtig, macht aber keine Therapie. Die Sozialarbeiterin gibt mir mein Mädchen jetzt schon wenigstens an den Wochenenden."