Archiv


"SPD bespiegelt sich zu sehr selbst"

Der Direktor des Wissenschaftszentrums Berlin, Wolfgang Merkel, rät der SPD "jetzt nicht groß an den Programmen herumzubasteln". Stattdessen müssten sich die Sozialdemokraten "noch stärker einer Nicht-Parteiöffentlichkeit öffnen".

Wolfgang Merkel im Gespräch mit Gerwald Herter |
    Gerwald Herter: In knapp einem Monat findet der Bundesparteitag der SPD in Dresden statt. Die Sozialdemokraten müssen jetzt langsam, aber doch sicher Anlauf nehmen, um das 23-Prozent-Debakel der Bundestagswahl zu verarbeiten. Heute wählt die Bundestagsfraktion ihre neue Führung. Der scheidende Umweltminister und designierte SPD-Vorsitzende Sigmar Gabriel hatte zuvor in einem Schreiben an die Parteimitglieder deutlich gemacht, dass es ihm um tief greifende Veränderungen geht.

    [Beitrag]

    Kann die SPD überhaupt aus dem Keller kommen, oder hat die CDU den Genossen zu gründlich das Wasser abgegraben, und helfen Schuldeingeständnisse, hilft Kritik jetzt weiter? - Professor Wolfgang Merkel, Politologe und Direktor am Wissenschaftszentrum Berlin, hat Antworten. Mit ihm bin ich nun verbunden. Guten Tag, Herr Merkel.

    Wolfgang Merkel: Guten Tag.

    Herter: Herr Merkel, Sie haben der SPD einen programmatischen Neuanfang empfohlen und gesagt, die SPD könne es schaffen. Allerdings war das zu Zeiten, als der SPD-Vorsitzende noch Kurt Beck hieß. Glauben Sie jetzt immer noch, dass die SPD es schaffen kann?

    Merkel: Natürlich kann sie es. Allerdings ist bisher noch nicht ganz klar, welchen Weg sie dazu einschlagen wird. Ich würde der Partei raten, jetzt nicht groß an den Programmen herumzubasteln. Dieses hat sie erst vor einem Jahr in Hamburg verabschiedet. Was der Partei fehlt gegenwärtig, ist so etwas wie eine Glaubwürdigkeit, und diese Glaubwürdigkeit hat sie teilweise doch verloren in elf oder zehn Jahren Regierungstätigkeit.

    Herter: Heißt das, sie sollte sich auf Personalfragen konzentrieren? Es gibt ja einige, wie wir gerade gehört haben, die müssen heute geklärt werden, andere sicher bis zum Parteitag.

    Merkel: Die Personalfragen sind wichtig, sie sind aber längst nicht alles. Große Weichen wurden mittlerweile gestellt. Das ist doch etwas von der Parteiöffentlichkeit entfernt sehr rasch in den relevanten Zirkeln geschehen. Aber dies ist kein Novum. Das kennen wir bei politischen Parteien. Ich kenne keine etablierte politische Partei, die dies anders machen muss. Es war ein strategischer Imperativ, zu handeln sofort nach dieser Wahlniederlage.

    Man hat zwei Personen an die Spitze der Partei, zum einen an die Fraktionsspitze mit Steinmeier und dann an die Parteispitze mit Gabriel, gestellt. Personell ist gewissermaßen die Spitze der Partei besetzt. Das wird bestätigt werden auf dem Parteitag. Das ist aber nur ein Anfang.

    Herter: Sie verteidigen also das Vorgehen des Außenministers Frank-Walter Steinmeier, der noch am Wahlabend sozusagen sich selbst zum Fraktionsvorsitzenden gemacht hat. Hinterzimmer gibt es ja nun tatsächlich in jeder Partei, aber das ist doch eine Art und Weise, die vielen SPD-Mitgliedern aufgestoßen ist.

    Merkel: Möglicherweise war dieses Vorpreschen von Steinmeier vielleicht noch etwas aus dem alten Politikstil von Gerhard Schröder ererbt und das könnte etwas schnell gewesen sein. Ich habe mich bei meiner ersten Antwort sehr viel stärker auf die Nominierung von Gabriel bezogen, aber glaube letztendlich, dass das kein Wegtreten von der politischen Kultur ist, die wir bisher in der Bundesrepublik Deutschland kennen.

    Dieses Gemurre von Parteibasis kennen wir. Diese Kritik ist gegenwärtig deshalb besonders stark, weil man eine katastrophale Niederlage eingefahren hat. Ich glaube letztendlich doch, ein schnelles Handeln war erforderlich.

    Herter: SPD-Mitglied, Herr Merkel, sind Sie nicht. Sie gehören aber zur Grundwertekommission. Wie hoch ist denn der Beratungsbedarf der SPD dieser Tage? Kommt man da öfters auf Sie zu?

    Merkel: Der Beratungsbedarf, meine ich, ist doch sehr groß. Und die SPD müsste sich noch stärker einer Nicht-Parteiöffentlichkeit öffnen, sodass sie nicht nur von ihren Parteifunktionären und der Parteibasis, sondern - sagen wir - von sympathisierenden Bürgerinnen und Bürgern auch Rat annimmt. Ich meine, gegenwärtig wartet die Partei und die Parteispitze im Besonderen auf den Parteitag, und bin dann ganz sicher, dass etwa die Grundwertekommission vieles zu sagen hat, was in den letzten elf Jahren geschehen ist, und auch versucht, Orientierung zu geben, aber würde sofort hinzufügen wollen: Man darf solche beratenden Gremien nicht überschätzen.

    Die eigentliche Politik wird tatsächlich in einem ganz engen Kern strategisch formuliert und sie wird vor allen Dingen, wenn die Partei in der Regierung ist, durch die Regierungsarbeit sichtbar gemacht, aber glaube, dass gegenwärtig so etwas wie ein Fenster der Gelegenheiten sich öffnet, weil die Partei doch am Boden liegt und nachdenken muss, was sie anders machen muss, gegenüber dem, was sie in der Vergangenheit getan hat.

    Herter: Glauben Sie, dass Gabriel da richtig liegt mit seinem Brief, den Sie kennen, wo er den früheren Vorsitz kritisiert, wo er aber auch sagt, es muss einen grundlegenden Wechsel geben und muss einen Wechsel geben im Stil in der Partei, es darf nicht zu viel geführt werden, es muss auch eine Rückkopplung geben von unten? Sind Sie damit einverstanden?

    Merkel: Wer wollte Letzterem widersprechen? - Natürlich muss es Führung geben, natürlich muss es eine Rückkopplung von der Basis her geben. Es müssen Initiativen von der Basis stärker berücksichtigt werden. Aber das Problem ist meiner Meinung nach in den politischen Parteien im Allgemeinen, der SPD auch im Besonderen, nicht, dass es zu wenig Initiativen von der Basis aus gäbe.

    Das Problem ist meiner Meinung nach sehr viel stärker, dass die Partei sich zu sehr selbst bespiegelt. Das kommt sehr viel stärker von einem mittleren Funktionärskörper und sagen wir von Politikern der zweiten Reihe. Parteien heute, wo man davon ausgehen kann, dass die klassische Volkspartei so etwas wie ein Auslaufmodell ist, müssen sich stärker der breiten Öffentlichkeit zuwenden, ihren Wählern, und dürfen nicht mehr auf eine immer weiter schrumpfende Mitgliederschaft starren. Eine Partei kann sich nicht renovieren, wenn sie das nur aus sich selbst heraus tun will. Sie muss sich zur Öffentlichkeit stärker zuwenden.

    Herter: Wenn wir die Funktionäre betrachten, so ein bisschen den Mittelbau an der SPD, dann muss man sagen, da gibt es im Moment eine starke Tendenz auch auf Bundesebene, mit der Linkspartei zusammenzuarbeiten, zumindest dieses Tabu fallen zu lassen.

    Glauben Sie, das kann in die Zukunft weisen, angesichts der Tatsache, dass die Linkspartei immer noch kein Programm hat, dass da neue Unruhe reingekommen ist, auch durch den Rückzug von Lafontaine?

    Merkel: Es weist in die Zukunft, das wird die Zukunft sein. Ob sie Lösungen, politische Lösungen für die Zukunft bereithält, das zeichnet sich gegenwärtig noch nicht ab. Es dürfte klar sein, dass eine neue Koalitionsoption der SPD zuwächst, mit der Linken, vermutlich gemeinsam mit den Grünen, sonst dürfte es nicht reichen.

    Allerdings ist der Weg bis dahin doch noch ein beschwerlicher. Die Linkspartei ist in verschiedenen außenpolitischen Fragen gegenwärtig noch nicht in einer westlichen Demokratie voll angekommen. Sie würde mit ihren Vorschlägen zu einer Isolierung von Deutschland im internationalen Konzert führen. Aber ich meine, dass sich ein Abschleifen solcher extremeren Positionen in den nächsten Jahren sehr schnell durch die Einbindung der Partei in konkrete Regierungsverantwortung ergeben wird. Es müsste auch etwas davon wegkommen, was die Partei gegenwärtig an populistischen Forderungen an den Sozialstaat stellt.

    Im Übrigen ist sie dann nicht auf einer der Zukunft zugewandten Gerechtigkeitsperspektive angekommen, sondern sie glaubt, mit etwas mehr Geld und passiver Kompensation könne man Gerechtigkeit herstellen. Das ist Politik von gestern, das ist Politik der frühen 70er-Jahre. Hier muss die Partei gewissermaßen auch modernere Theorien der Gerechtigkeit wahrnehmen. Es ist erstaunlich, wie hoch hier doch Ignoranz vorherrscht.

    Herter: Wenn es um die Zusammenarbeit mit der Linkspartei geht, dann gibt es im Moment ein gutes Beispiel in Thüringen. Da hat man sich gegen eine Zusammenarbeit entschieden und hier gibt es eine massive Auseinandersetzung zwischen der Parteispitze und der Parteibasis. Droht der SPD auf Bundesebene solch eine Auseinandersetzung auch?

    Merkel: Ich glaube, dass sich die Auseinandersetzungen entschärfen werden auf der Bundesebene. Es könnte sich, wie ich vorhin gesagt habe, eine Situation ergeben, wo die Koalitionsoption Rot-Rot-Grün 2013 mehrheitsfähig wird. Die Auseinandersetzungen müssen geführt werden. Ein Auseinanderbrechen der SPD, glaube ich, deshalb ist nicht zu erwarten.

    Allerdings wäre die Partei, die Sozialdemokratie schlecht beraten, jetzt opportunistisch "linke" - Anführungsstiche, Schlussstriche - Positionen der Partei der Linken aufzunehmen und schlicht sich von der Mitte wegzubewegen auf die Linke hin.

    Herter: Wie kommt die SPD aus der Krise? - Das waren Antworten von Professor Wolfgang Merkel vom Wissenschaftszentrum Berlin im Deutschlandfunk. Vielen Dank.

    Merkel: Vielen Dank auch.