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"SPD braucht modernere Organisation - Müntefering der richtige Mann dafür"

Lange: Für die Sozialdemokraten war das am Sonntag die dritte bittere Stunde in diesem Jahr: erst die verlorene Europawahl, dann der Machtverlust in Hessen, jetzt die Wahlniederlage im Saarland und der Verlust der absoluten Mehrheit in Brandenburg. Und auch die übrigen Wahlen, die in diesem Jahr noch anstehen, dürften für die SPD nach Lage der Dinge keine Sternstunden werden. Doch die Partei hat reagiert mit Appellen zur Geschlossenheit und mit der Installierung einer neuen Führungsstruktur, die das Bild der SPD in der Öffentlichkeit aufhellen soll. Franz Müntefering soll als Generalsekretär in die Parteizentrale zurückkehren. Schon in dieser Woche übernimmt er als kommissarischer Bundesgeschäftsführer die Aufgaben von Ottmar Schreiner, der gestern seinen Rücktritt erklärt hat. - Am Telefon ist nun Renate Schmidt. Sie ist Landes- und Fraktionsvorsitzende der Sozialdemokraten in Bayern und sie gehört dem SPD-Präsidium an. Guten Morgen Frau Schmidt.

    Schmidt: Guten Morgen.

    Lange: Frau Schmidt, was kann denn Franz Müntefering, was Ottmar Schreiner nicht konnte?

    Schmidt: Ich glaube, darum geht es nicht, sondern es geht darum, angemessen darauf zu reagieren, dass der Parteivorsitzende gleichzeitig Bundeskanzler ist und dass dies nicht durch uns, die Stellvertreterinnen und Stellvertreter allein auszugleichen ist. Viele davon haben ebenfalls ein Ministeramt oder andere wichtige Funktionen. Deshalb ist es vernünftig, dass wir eine Struktur schaffen, die dem Rechnung trägt.

    Lange: Und Ottmar Schreiner hätte das nicht leisten können, was Franz Müntefering nun leisten soll?

    Schmidt: Es ist so, dass Franz Müntefering natürlich die große Erfahrung aus einem großen Flächenland, auch was die Partei betrifft, mitbringt und dass er dort auch in der Verantwortung war und ist als Vorsitzender. Wir haben die Notwendigkeit, nicht nur inhaltlich auf bestimmte Dinge zu reagieren. Das wird auch nicht Franz Müntefering an erster Stelle tun, sondern damit werden wir auf unserem Parteitag im Dezember sicherlich im wesentlichen Rudolf Scharping beauftragen. Es geht vielmehr darum, dass die Partei insgesamt eine modernere Organisation braucht, dass die Partei an vielen Stellen in einer Situation ist, wo sie Unterstützung braucht. Da glaubten wir eben, dass das Franz Müntefering ist, der dieses am besten kann.

    Lange: Es geht hier zum einen um Vermittlungsprobleme - so heißt es immer -, aber andererseits geht es ja auch um einen Dissens in ganz wichtigen inhaltlichen Fragen. Muss man da nicht zunächst einmal die eigenen Leute überzeugen von der Richtigkeit der Politik, die dort betrieben wird?

    Schmidt: Da haben Sie Recht. Es ist fatal - und das ist sicherlich einer der Gründe auch für die Wahlergebnisse, die wir haben -, dass die Kronzeugen für die angebliche sozial ungerechte Politik der Bundesregierung nicht in geringem Ausmaß aus eigenen Reihen kommen. Warum sollen die Leute dann glauben, dass es anders ist. Das heißt, es darf jetzt nicht nur bei Appellen zur Geschlossenheit bleiben, sondern es muss Überzeugungsarbeit eintreten. Überzeugungsarbeit bedeutet vor allen Dingen bessere rechtzeitigere Information, auch bessere und rechtzeitigere Information durch die Bundesregierung, und zwar so, dass sie die Menschen verstehen, die Menschen innerhalb der Partei, aber vor allen Dingen die Menschen außerhalb der Partei.

    Lange: Gerhard Schröder hat noch am Sonntag mehr oder weniger deutlich dieses Sommertheater der SPD kritisiert. Andererseits hat er aber doch im sogenannten Schröder-Blair-Papier nachdrücklich zur Diskussion eingeladen. Wie passt denn das zusammen?

    Schmidt: Die Diskussion um die Sache, und zwar um das, was sich ändern muss - ich betone, ändern muss auf unseren angeblich so traditionalistischen Werten, nämlich der sozialen Gerechtigkeit und der Solidarität -, und zwar so, dass diese Werte erfüllt werden, aber auf die heutigen Zeiten zugeschnitten werden, diese Diskussion in der Sache muss selbstverständlich geführt werden. Es wird aber jetzt im Moment teilweise ja nicht nur eine Diskussion in der Sache geführt, sondern diese Diskussion wird personalisiert, und das schadet immer.

    Lange: Aber konnte man ernsthaft erwarten, dass sich eine Programmdebatte auf so einer abstrakten politischen Ebene halten lässt, ohne die konkrete Politik zu berühren?

    Schmidt: Ich glaube, das muss man richtig vorbereiten. Das ist jetzt auf einem richtigen Weg, indem wir sagen, wir müssen auf dem Parteitag im Dezember Menschen damit beauftragen und das breit in die Partei hineinstreuen. Das heißt, die Bezirke müssen vertreten sein, das Präsidium und der Parteivorstand und diese Diskussion in geordneten Bahnen führen. Es war vielleicht nicht so ganz glücklich - und ich glaube, das sieht auch der Parteivorsitzende in der Zwischenzeit so -, ein solches Papier in England und gemeinsam mit Tony Blair vorzustellen. Der Anstoß war richtig, aber es wäre wahrscheinlich richtiger gewesen, das in den Gremien der Partei zu tun.

    Lange: Frau Schmidt, kann es sein, dass das Vermittlungsproblem bei Gerhard Schröder selbst liegt?

    Schmidt: Nein, das glaube ich nicht, sondern Gerhard Schröder ist sicherlich jemand, der eine Menge an Verantwortung trägt. Die Verantwortung tragen wir aber alle gemeinsam, und es wäre jetzt das allerfalscheste, den schwarzen Peter hin- und herzuschieben oder den schwarzen Gerhard hin- und herzuschieben. So geht es auf keinen Fall. Wir müssen uns vielmehr darum bemühen, dass wir als diejenigen, die dafür verantwortlich sind, dass die Partei nach vorne kommt, dafür sorgen, dass diese Diskussion vernünftig geführt wird und dass wir nicht den Anschein erwecken, dass wir unsere Stammwähler, die sogenannten kleinen Leute, die so klein gar nicht sind, sondern die die wichtigsten in dieser Gesellschaft sind, die wirklichen Leistungsträger, dass wir deren Interessen niemals vergessen dürfen.

    Lange: Dennoch gab es ja auch vor seiner Wahl zum SPD-Kanzlerkandidaten und auch zum Parteichef immer Stimmen, die etwas bezweifelt haben, ob Gerhard Schröder diese integrative Kraft entwickeln kann, die eine Partei wie die SPD braucht. Haben die Skeptiker nicht doch Recht behalten?

    Schmidt: Ich habe in der jüngsten Zeit einen sehr integrativen Gerhard Schröder kennen gelernt.

    Lange: Wenn sich nun tatsächlich herausstellen würde, dass es kein Vermittlungsproblem ist, sondern dass tatsächlich Grundfragen der Sozialdemokratie berührt werden und dass die SPD-Wähler diesen Kurs auf keinen Fall mittragen wollen, egal wie verbindlich ihnen Franz Müntefering das erklärt, wie viele Niederlagen wird die SPD unter Gerhard Schröder noch einstecken bevor sie sagt, so geht das nicht?

    Schmidt: Ich gehe davon aus, dass wir einen Wendepunkt erreicht haben. Es kann nicht sein, dass sich so etwas herausstellt, weil es gibt in meinen Augen die Notwendigkeit, diese Gesellschaft zu erneuern, und wir sind mit einem Programm angetreten, das "Innovation und Gerechtigkeit" heißt. Die Gerechtigkeit darf genauso wenig vergessen werden wie die Innovation, also die Erneuerung, und das heißt Veränderung. Ich gestehe Ihnen unumwunden zu, dass die Menschen wahrscheinlich diese Veränderung weniger gewählt haben als das Stichwort Gerechtigkeit. Wir müssen deutlich machen, dass das in ihrem eigenen Interesse ist, das zu erfüllen. Ich bin überzeugt davon, dass man bei dieser Menge an Schulden, diese Erblast, die wir zu tragen haben, gemeinsam mit der Massenarbeitslosigkeit - die ist ja nicht von Sozialdemokratie geschaffen worden, sondern die hat die Kohl-Regierung geschaffen -, mit der höchsten Steuerlast, die es gibt, mit den höchsten Sozialabgaben, dass dieses nur durch Veränderung abgebaut werden kann. Ich glaube, dass das die Menschen, wenn man es vernünftig erklärt und so, dass sie es nachvollziehen können, verstehen. Ganz davon abgesehen verstehe ich bis heute noch nicht, wieso zum Beispiel eine Rentenreform als ungerecht bezeichnet wird, die folgendes beinhaltet, dass nach vier Jahren das erstemal die Renten wieder mehr erhöht werden als die Inflationsrate. Zu Kohls Zeiten haben die Rentensteigerungen die letzten vier Jahre weniger betragen als die Inflationsrate. In diesem Jahr gewinnen die Renten das erstemal wieder an Wert. Dann halten sie diesen Wert zwei Jahre lang, weil sie nicht etwa gekürzt werden, sondern um die Inflationsrate erhöht werden. Im Jahr darauf, also im Jahr 2002, werden sie wieder an die Entwicklung der Löhne und Gehälter der aktiv Beschäftigten angekoppelt. Dieses ist in meinen Augen nicht unsozial, sondern ein Gebot der Vernunft, und die Renten werden endlich wieder in ihrem Wert gesteigert, was überfällig war. Ich kann das nicht für unsozial halten.

    Lange: Warum konnten Sie das den Herren Klimmt und Stolpe nicht vermitteln?

    Schmidt: Ich meine, dass solche Reformen teilweise zu übereilt nicht was die Inhalte betrifft, sondern was die Information betrifft nicht genügend vorbereitet an die Menschen, die nicht jeden Tag mit Rentenreformen und ähnlichem zu tun haben, an den Mann und an die Frau gebracht werden.

    Lange: Jetzt wird aller Orten die Geschlossenheit der SPD gefordert, aber noch einmal: Warum hat denn Gerhard Schröder selbst so wenig zu dieser Geschlossenheit beigetragen? Er hätte doch auf Klimmt und Stolpe zugehen können, hätte Kompromisse erarbeiten können, die auch von diesen hätten mitgetragen werden können.

    Schmidt: Ich glaube, dass Versuche dieser Art unternommen worden sind und dass es die Betroffenen dann vielleicht etwas anders gesehen haben. Das kann ich zwar verstehen. Ich glaube aber nicht, dass es insgesamt nützlich war.

    Lange: Was der SPD zur Zeit das Leben zusätzlich schwer macht sind so überflüssige Affären wie die um den Oberbürgermeisterkandidaten in Köln. Zumindest an dieser Front, Frau Schmidt, gibt es ja nun etwas Entlastung durch die Affäre um die LBS in Bayern. Justizminister Sauter ist am Wochenende entlassen worden, aber nicht so geräuschlos, wie sich das Ministerpräsident Edmund Stoiber vorgestellt hat. Ist Stoiber damit aus dem Schneider?

    Schmidt: Nein, damit ist er natürlich nicht aus dem Schneider. In meinen Augen musste Herr Sauter vor allen Dingen deshalb gehen, weil er die Wahrheit gesagt hat, nämlich die Wahrheit insofern, als er nicht der Hauptverantwortliche und nicht der Alleinverantwortliche ist und dass der Hauptverantwortliche - das hat er ja jetzt am Schluss sehr deutlich und laut gesagt - der Ministerpräsident selbst ist. Wir werden nach meinen Wünschen - und darüber wird die Fraktion zu entscheiden haben - in der nächsten Woche einen Untersuchungsausschuss einrichten. Der wird sich nicht an erster Stelle gegen Herrn Sauter richten - der wird sicherlich dann als Zeuge geladen werden -, sondern der wird sich gegen Herrn Stoiber richten. Herr Sauter ist in diesem Fall er sagt Menschenopfer, wir sagen nach dem Schachspiel ein Bauernopfer. Das soll nämlich ablenken von dem tatsächlichen Hauptverantwortlichen.

    Lange: Bisher haben sich ja die Affären der CSU in Bayern politisch so gut wie gar nicht für die SPD-Opposition ausgezahlt. Die belastenden Leute wurden rechtzeitig aus dem Verkehr gezogen. Hat Stoiber sich diesmal verkalkuliert?

    Schmidt: Ich kann es natürlich noch nicht abschließend bewerten. Ich glaube aber ja, weil das ist ja nicht das einzige, sondern es reiht sich ja in diesem Sommer und in diesem Jahr eine Affäre an die andere. Es wird sicherlich auch noch die Frage "was hat sich eigentlich bei der Landesbank getan in dem Asien-Geschäft" noch ein Nachspiel haben. Wir haben jetzt die nächste Affäre zu gewärtigen, und das ist auch kein Kinderspiel, und zwar die um den Waffenschieber Schreiber, der offensichtlich heftigst Politiker geschmiert hat. Ich sage, es ist nicht nur eine Frage des guten Geschmacks, ob man bei diesem Herrn dann Urlaub in seinen oder in ihm nahestehenden Häusern in Südfrankreich verbringt. Es ist eine nach der anderen, und gerade der Ministerpräsident hat sich ja damals aus der Amigo-Affäre gerettet, als er als der große Saubermann aufgetreten ist. Davon ist im Moment, glaube ich, nicht so sehr viel übrig. Hinzu kommt noch, dass er offensichtlich nicht in der Lage ist, irgendwann mal, wenn es schlecht ausgeht, seine Verantwortung zuzugestehen. Er geriert sich immer als der Alleswisser, als der Alleskönner, als der große Macher, als der Wirtschaftskompetente. Aus dem Alleswisser ist ein Nichtwisser geworden, aus dem Macher ist ein Nichtstuer geworden, und die große Wirtschaftskompetenz ist in einer Pleite geendet. Da meine ich, das ist wohl nicht ganz das, was sich die Menschen erwartet haben. Es wird zumindest an diesem Nimbus heftigst gekratzt werden.

    Lange: Renate Schmidt war das, Mitglied des SPD-Präsidiums und Landesvorsitzende der Sozialdemokraten in Bayern. - ich danke Ihnen für das Gespräch

    Link: (Heide Simonis: Gründe für den SPD-Erdrutsch bei den Landtagswahlen (6.9.99)==>/cgi-bin/es/neu-interview/387.html)

    /cgi-bin/es/neu-interview/385.html