Christoph Heinemann: Mit nicht geringer Dramatik hatte Andrea Nahles, tief verletzt, ihrer Partei Amt und Mandat vor die Füße geknallt. In einem aufwendigen Verfahren haben Wahlberechtigte dann überraschend Saskia Esken und Norbert Walter-Borjans für den Vorsitz nominiert. Zwei Aufgaben soll der SPD-Parteitag heute und morgen in Berlin lösen. Die neue Führung muss von den Delegierten gewählt werden und die SPD muss verlässlich die Frage beantworten, ob sie weiterhin in Bundesministerien regieren möchte oder nicht. Jein geht nicht.
Am Telefon ist Sarah Philipp, Parlamentarische Geschäftsführerin der SPD-Fraktion im Landtag von Nordrhein-Westfalen, Wahlkreis Duisburg. Guten Morgen!
Sarah Philipp: Guten Morgen!
Heinemann: Frau Philipp, wie würden Sie mit Blick auf die Regierungskoalition den Satz vervollständigen: An Nikolaus ist …
Philipp: Erst mal noch gar nichts entschieden. Wir sind jetzt vorm Parteitag. Der geht heute los. In den letzten Tagen ist ja viel gesprochen worden darüber, wie geht es weiter und was passiert da heute auf dem Parteitag. Ich freue mich da erst mal drauf, dass wir heute das neue Führungsduo dann auch wählen dürfen. Es gibt einen Leitantrag, das hatten Sie ja gerade schon in der Vorberichterstattung auch angesprochen, und darum wird es heute im Wesentlichen gehen. Es geht heute nicht darum, einzig und alleine, ob wir jetzt in der GroKo bleiben oder nicht. Das ist nicht die Kernfrage.
Heinemann: Sollte die SPD in der GroKo bleiben?
Philipp: Wir diskutieren heute in diesem Leitantrag ja Positionen, die uns wichtig sind, die wir nachschärfen wollen. Die Partei hat in der vergangenen Woche entschieden, dass sie kein "weiter so" will. Ich glaube, das hat die Wahl von Norbert Walter-Borjans und Saskia Esken ganz klar gezeigt. Dieses "Weiter so", was abgelehnt worden ist, das ist natürlich auch mit Erwartungen verbunden. Wenn man sich jetzt anschaut, was die Themen gewesen sind, wenn wir jetzt darüber reden, dass wir den Mindestlohn auf zwölf Euro festlegen wollen, dass wir sagen, beim Klimapaket, da muss noch mal nachgeschärft werden, und wenn wir über mehr Investitionen reden bei Verkehr und bei Bildung, dann sind das wichtige Punkte und darüber freue ich mich heute, dann mit der Partei auch diskutieren zu können.
Heinemann: Warum lässt man die Delegierten nicht darüber abstimmen, ob die SPD in der Bundesregierung bleibt?
Philipp: Na ja. Ich glaube, das ist jetzt erst mal, wie gesagt, nicht im Vordergrund. Das ist nicht das, was die Delegierten erwarten. Die sind heute hier hingekommen, …
Heinemann: Einige schon!
Philipp: Um einen neuen Kurs aber auch zu bestimmen. Diese Punkte heute festzulegen und dass die neue Parteispitze sich heute vorstellt, das ist unser Plan. Deswegen habt ihr uns gewählt oder deswegen wollt ihr uns heute wählen und das bringen wir euch mit und das ist das, was wir euch anbieten an Programm - das muss doch im Vordergrund stehen.
Einfach nur zu entscheiden, GroKo ja/nein, ohne irgendeine inhaltliche Basis, das kann so nicht funktionieren.
Philipp: Die GroKo ist kein Zukunftsmodell
Heinemann: Frau Philipp, Sie haben Frau Esken eben gehört. Wie kann man denn vor der Wahl sagen, die GroKo habe keine Zukunft, und danach dann vielleicht doch?
Philipp: Das ist ja auch immer eine Frage von Zeitpunkt. Ich bin da völlig überein, zu sagen, das ist kein Zukunftsmodell, und man muss sich natürlich schon immer auch die Frage stellen, wie geht es eigentlich mit der SPD perspektivisch weiter. Und ich bin auch der festen Überzeugung: Wenn ich wieder stark werden möchte als Partei und wenn ich den Leuten draußen zeigen will, was ich für ein Angebot habe und warum es wichtig ist, dass die SPD regiert, dann muss ich auch eine gute Alternative einfach anbieten. Diese ewigen Großen Koalitionen, die tun ja auf Dauer nicht gut. Das ist ja gar keine Frage. Aber jetzt hopplahopp da auszusteigen, ohne den Leuten auch einen Plan vorzulegen, was wollten wir eigentlich besser machen, was haben wir noch im Angebot, das halte ich auch für falsch.
Heinemann: Frau Philipp, wir wollen hören, was Simone Lange gestern bei uns gesagt hat, die Oberbürgermeisterin von Flensburg, selbst ehemalige Kandidatin für den SPD-Parteivorsitz.
Simone Lange: Ich bin viel in der Bundesrepublik unterwegs, die letzten Monate zurzeit, und ich muss ganz ehrlich sagen, die Mitgliedschaft will kein "weiter so" in der GroKo. Die Mitgliedschaft ist mutig. Die Mitgliedschaft weiß, dass die Welt nicht untergeht, wenn wir Neuwahlen haben, vor dem regulären Termin.
Und sie sind auch bereit, dafür zu kämpfen, und sie verstehen auch, dass es durchaus eine Chance für die SPD sein kann zu sagen, wir wählen neu, wir wählen mutig und wir stellen auch neue Kandidatinnen und Kandidaten auf.
Heinemann: Wie wollen Frau Esken und Herr Walter-Borjans der Mitgliedschaft ein "Weiter so" verkaufen?
Philipp: Wie schon gesagt: Dieser Leitantrag heute, da sind viele Punkte drin, die das Angebot der beiden deutlich machen. Sie sind auf Tour gewesen bei den Regionalkonferenzen und haben gesagt, wir wollen kein "Weiter so". Das ist, glaube ich, deutlich geworden, und die Entscheidung der Mitglieder ist ja auch an der Stelle eindeutig gewesen.
Wenn man jetzt über diese inhaltlichen Punkte heute reden kann, dann ist das, glaube ich, eine gute Diskussionsgrundlage.
Dann muss man an irgendeinem Punkt sagen: So, liebe Union, das sind die Entscheidungen, die die Partei getroffen hat. Das ist unser Angebot. Und dann muss man darüber reden und dann muss die Union auch entscheiden, wie weit sie da noch gehen möchte.
Philipp: Ich erwate kein kopfloses Handeln
Heinemann: Auf die kommen wir noch zu sprechen. Aber was raten Sie denjenigen SPD-Mitgliedern, die Frau Esken geglaubt haben und sie und Herrn Walter-Borjans gewählt haben, weil sie gern die Koalition verlassen hätten?
Philipp: Die Aufgabe von Parteivorsitzenden muss es doch auch immer sein, alle mitzunehmen und alle einzubinden.
Heinemann: Vielleicht ist die Aufgabe, aber auch erst mal die Wahrheit zu sagen.
Philipp: Ja, ich würde das jetzt nicht auf Wahrheit oder Unwahrheit festlegen. Das finde ich an der Stelle etwas problematisch. Dass es ein GroKo-kritischer Kurs ist der beiden, das steht ja außer Frage, und ich glaube, das ist auch deutlich geworden, dass mit dieser Wahl auch perspektivisch ein Ende dieser GroKo auch mit verbunden ist.
Ich halte es auch für wichtig zu sagen, okay, beim nächsten Mal, wenn wir in die Bundestagswahl gehen, dann muss doch das Ziel sein, dass am Ende nicht schon wieder Große Koalition rauskommt. Das ist, glaube ich, ein sehr vernünftiges Ziel, was die beiden auch deutlich gemacht haben. Aber das heißt ja im Umkehrschluss nicht, dass ich jetzt in Panik gerate und hopplahopp sage, heute müssen wir jetzt aus der GroKo raus, ohne irgendwie zu wissen, was der Plan ist. Kopfloses Handeln, das ist nicht das, was ich von meiner Parteispitze erwarte.
Heinemann: Frau Philipp, wieso sollten CDU und CSU einem SPD-Leitantrag folgen?
Philipp: Die müssen ja nicht unserem Leitantrag folgen, auch wenn da sehr gute Sachen drinstehen, die wir heute als SPD verabschieden müssen. Aber es geht doch um Gespräche und es geht darum, wie es in dieser Großen Koalition dann auch weitergeht, und da halte ich es für sehr vernünftig – und das sollten doch beide Seiten auch für vernünftig halten, weil es ganz normal ist im Zusammenarbeiten -, sich zusammenzusetzen, über aktuelle Punkte zu reden und dann darüber zu sprechen, wie es weitergeht.
Das ist ja auch erst mal ein ganz normaler Vorgang in so einer Koalition. Die machen ja nicht irgendwann einen Koalitionsvertrag, legen den irgendwie in den Schrank und gucken dann mal so, was der Tag bringt, sondern es ist ja eigentlich ganz normal, immer mal wieder zu gucken, wie ist eigentlich die aktuelle Sachlage. Von daher haben wir diese Revisionsklausel. Dieses Thema Halbzeitbilanz spielt eine Rolle.
Und das ist jetzt auch ein guter Zeitpunkt für uns zu sagen als SPD, wir haben hier diese Punkte, die uns wichtig sind, und darüber möchten wir mit euch reden und dann möchten wir von euch auch wissen, wieweit ihr dabei geht, liebe Union.
"Ich hoffe sehr, dass Olaf Scholz im Kabinett bleibt"
Heinemann: Wie geschwächt ist Olaf Scholz?
Philipp: Ich halte ihn für einen tollen Finanzminister, für ein Kabinettsmitglied, das wirklich tolle Arbeit macht.
Von daher hat er sich diesem Wettbewerb gestellt. Das ist auch ganz normal. Das fanden die Mitglieder ja auch gut, dass sie eine Auswahl hatten. Ob das jetzt eine Schwäche ist, das würde ich so nicht sehen. Ich hoffe sehr, dass er im Kabinett bleibt und weiterhin unser Finanzminister bleibt.
Heinemann: Der Vizekanzler und Bundesfinanzminister kann nicht einmal die eigenen Parteimitglieder überzeugen. Und das soll keine Schwächung sein?
Philipp: Wie gesagt, eine Auswahl ist immer gut. Die Leute haben das so entschieden, die Mitglieder, dass sie sich für dieses andere Duo entschieden haben. Das heißt im Umkehrschluss aber nicht automatisch, dass wir aus der Koalition rausgehen. Genauso wenig heißt es dann, dass der Finanzminister geschwächt ist.
Das würde ich ganz klar trennen. Das was ich in den letzten Tagen gehört habe, als ich in Duisburg in den Ortsvereinen unterwegs gewesen bin – die haben das auch nicht im Zusammenhang diskutiert. Für die sind das zwei unterschiedliche Paar Schuhe.
"Ich würde das jetzt nicht als Schwächung sehen"
Heinemann: Vielleicht ist die Außenwirkung doch eine andere. – Wie kann denn jemand Vizekanzler und Finanzminister bleiben, dem die eigenen Anhänger nicht einmal den SPD-Vorsitz zutrauen?
Philipp: Na ja, was heißt "nicht einmal"? – Ich finde, wenn man Parteiarbeit und auch wenn man sich Regierung anschaut, dann ist das ja doch eine unterschiedliche Art auch des Handelns. Wie gesagt: Ich würde das einfach trennen. Das, was er im Kabinett macht, und das, was die Bundesregierung, was die SPD-Minister machen, ist das eine.
Die Erwartung der Mitglieder an eine Parteiführung – da geht es ja einmal auch darum, was sind die Themen nach außen; es geht aber auch darum, was habe ich eigentlich für einen Führungsstil, was habe ich für einen Plan davon, wie Partei nach innen organisiert ist und wie das Ganze strukturiert ist -, da haben die Leute eine andere Erwartungshaltung gehabt. Da haben sie sich dann für dieses Duo entschieden.
Und wie gesagt: Ich würde das jetzt nicht als Schwächung sehen. Das sind zwei Sachen, die kann man gut voneinander trennen.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.