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SPD und NS-Vergangenheit
Den eigenen Widerstand nicht betonen

Direkt nach dem Krieg hat die SPD versucht, den Deutschen entlastende Angebote zu bieten, denn nur die waren mehrheitsfähig. So beschreibt die Historikerin Kristina Meyer in ihrem Buch "Die SPD und die NS-Vergangenheit 1945-1990" auch, wie der eigene Widerstand gegen die Nazis bewusst nicht betont wurde - denn die Deutschen wollten nicht an ihre Mitläuferschaft erinnert werden.

Von Henry Bernhard | 11.07.2016
    Sie sehen das Logo der SPD, davor unscharf eine Person, die vorbeigeht.
    Die Politik der SPD nach dem Zweiten Weltkrieg arbeitet Kristina Meyer auf. (picture-alliance / dpa / Fredrik Von Erichsen)
    Der Zweite Weltkrieg war noch nicht zu Ende, da sammelte der Sozialdemokrat Kurt Schumacher in Hannover schon wieder Genossen um sich, um die SPD neu aufzubauen. Noch ohne Genehmigung durch die Besatzer, aber versehen mit der unbeugsamen Autorität des Mannes, der zehn Jahre im KZ gesessen hatte. Schumacher sah in der SPD die einzige Partei, die den Nationalsozialisten von den 20er-Jahren an konsequent und unbefleckt widerstanden hatte – auf der Straße, als einzige Stimme im Reichstag gegen das Ermächtigungsgesetz, im Widerstand. Daraus erhob er den Führungsanspruch seiner Partei nach dem Krieg – auch gegenüber den Alliierten. Wobei er durchaus mit deren Wohlwollen rechnen konnte, wie die Jenaer Historikerin Kristina Meyer schreibt.
    "Sozialdemokratische Verfolgte zählten beim Neuaufbau der örtlichen Verwaltung zu den bevorzugten Ansprechpartnern der Besatzungstruppen. Der erstaunlich schnelle und energische Wiedereinstieg dieser Sozialdemokraten in den politischen Arbeitsalltag war nicht nur das Ergebnis eines Vertrauensvorschusses, den ihnen die Besatzungsmächte gewährten, sondern auch Ausdruck eines besonderen Pflicht- und Verantwortungsbewusstseins der Zurückgekehrten."
    Meyer beschreibt, mit vielen Einzelbeispielen belegt, wie sich eben noch verfolgte, gedemütigte, gequälte oder auch emigrierte Männer in den Dienst der Allgemeinheit stellten:
    "Die Verfolgten erhofften sich natürlich Anerkennung für den geleisteten Widerstand und das erlittene Leid in Haft und Emigration. Aber ganz schnell hat sich innerhalb der Partei ein Bescheidenheitsgestus herausgebildet, ein ganz betont zurückhaltender Umgang mit der eigenen Widerstands- und Verfolgungserfahrung. Kurt Schumacher hat das sozusagen als vorbildhaft in die Partei hineingetragen."
    Mehrheitsfähig waren entlastende Angebote
    Die Parteidisziplin forderte, sich selbst zurückzunehmen und das Große und Ganze im Blick zu haben: Die linken Kräfte einen, Mitglieder gewinnen, Wähler gewinnen, ein mehrheitsfähiges Angebot machen. Und mehrheitsfähig waren eben nicht leidvolle Geschichten aus dem KZ, nicht heldenhafte Erzählungen aus dem Widerstand in einer Zeit, in der sich die meisten Deutschen als Opfer sahen. Mehrheitsfähig waren entlastende Angebote für die Deutschen.
    "Dahinter stand ja auch immer die Deutung, dass das NS-Regime durch Zutun von Industrie, Wirtschaft, Bürgertum in den Sattel gehoben worden war. Und man konzentrierte sich auf die wenigen "Gangster", von denen immer die Rede war, die Hauptverantwortlichen. Und diese Minderheit hatte es geschafft, durch ihre geschickte Propaganda die große Masse der Ahnungslosen, der "idealistischen" Deutschen für ihre Ziele zu vereinnahmen."
    Die Autorin beleuchtet quellengesättigt den autoritären Kurs Kurt Schumachers, der lieber die eigenen Genossen düpierte als die Masse der Deutschen, die es zu gewinnen galt. Auch mit der konsequenten Zurückweisung der Kollektivschuldthese. Um sich abzugrenzen von den Kommunisten, den Bürgerlichen; um den sozialdemokratischen Widerstand – ganz allgemein, nie zu konkret – herauszuheben; um sich von den Alliierten abzugrenzen; um die Masse der Deutschen zu entlasten.
    "So entstand ein um die Schimäre der Kollektivschuld kreisender Diskurs, in dem es kaum um vergangene Schuld ging, sondern vor allem um Profilierung in den politischen Auseinandersetzungen der Gegenwart."
    Kurt Schumachers Flexibilität reichte so weit, dass er seine rechte Hand im Hannoveraner Büro, einen Genossen, der in der Zeit des Nationalsozialismus Parteifreunde an die Gestapo verraten hatte, nicht behelligte, als er von dessen Spitzel-Vergangenheit erfuhr. Ebenso sanft verfuhr man mit Menschen, die einstmals der NSDAP angehört hatten und nun in die SPD eintreten wollten. Anfangs strenge Kriterien wurden – analog zur Entnazifizierung – bis zur Unkenntlichkeit aufgeweicht. Dieser Opportunismus blieb in der SPD nicht unwidersprochen; aber letztlich fügten sich die Genossen der bitteren Einsicht, meint die Autorin:
    "Diese Minderheit der ehemaligen Widerstandskämpfer musste immer die Masse der ehemaligen Mitläufer für sich und für ihre Argumente gewinnen und nicht umgekehrt. Man redet viel zu schnell von einer Reintegration ehemaliger Nationalsozialisten in die demokratische Gesellschaft der Bundesrepublik. Nein! Das war die Mehrheit der Menschen. Umso mehr war eine Partei wie die SPD darauf angewiesen, dass diese Masse der ehemaligen Volksgenossen und Mitläufer sich auf ihre Politik einließ."
    Ideologische und rhetorische Geschmeidigkeit
    Diese ideologische und rhetorische Geschmeidigkeit brauchten die Sozialdemokraten nicht nur bei der Frage von Widerstand versus Mitläufertum in Nationalsozialismus, sondern auch bei Themen wie der Wiedergutmachung oder der Bestrafung von NS-Kriegsverbrechern. Waren viele Sozialdemokraten sehr engagiert dabei, die Entschädigung von Juden und anderen NS-Opfern voranzutreiben, argumentierte die SPD öffentlich nicht etwa moralisch oder juristisch, sondern, dass die Wiedergutmachung dem deutschen Ansehen im Ausland nütze.
    Gegen den vehementen Protest vieler Genossen setzten sich 1951 führende Sozialdemokraten um Kurt Schumacher, Carlo Schmid, Erich Ollenhauer, Herbert Wehner und Fritz Erler beim amerikanischen Hohen Kommissar John McCloy dafür ein, dass 28 in Nürnberg von den Alliierten zum Tode verurteilten NS-Verbrecher nicht hingerichtet werden – und argumentierten dabei mit dem Grundgesetz, dass die Todesstrafe abgeschafft hatte.
    "Die SPD hat damit vor allem eine Strategie verfolgt: Sie wollte die alliierte Justizpraxis diskreditieren. Man wollte sich einerseits vom harten Kern dieser Amnestie-Lobby distanzieren, die natürlich aus ganz anderen Motiven für die Freilassung und Begnadigung der NS-Verbrecher plädierte; aber man wollte vor allem der Bevölkerungsmehrheit und der verbreiteten Stimmung nach Entlastung entgegenkommen."
    Kristina Meyer zeigt, wie frustrierend das Zurückstecken für ehemalige Widerstandskämpfer war. Erst in den 70er- und 80er-Jahren, als lokale Geschichtswerkstätten den Widerstand im Nationalsozialismus aufarbeiteten, hätten noch lebende SPD-Veteranen Genugtuung darin gefunden, dass ihre Widerstandsgeschichte endlich gewürdigt wurde. Ihre Enttäuschung haben dennoch viele mit ins Grab genommen. Diese Geschichte faktenreich, gut strukturiert, angenehm und leicht nachvollziehbar aufgeschrieben zu haben, ist ein Verdienst der Historikerin Kristina Meyer. Ihr Buch gehört unbedingt in die Geschichtsdebatte der SPD.
    Buchinfos:
    Kristina Meyer: "Die SPD und die NS-Vergangenheit 1945 - 1990", in der Reihe "Beiträge zur Geschichte des 20. Jahrhunderts", Wallstein Verlag, 549 Seiten, Preis: 42 Euro