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DLF: Herr Spiegel, alle Parteien, von der CDU/CSU bis zur PDS stehen hinter dem Gesetzentwurf über die Errichtung einer Stiftung zur Entschädigung überlebender Sklaven und Zwangsarbeiter. Das hat es in dieser Form noch nie gegeben. Was bedeutet diese parlamentarische Einmütigkeit in dieser Frage für Sie?

Margarete Limberg |
    Spiegel: Wenn es etwas Positives in diesem ganzen zähen Verhandlungsmarathon gibt, dann ist es dies, was Sie gerade erwähnt haben, dass alle im Bundestag vertretenden Parteien diesem Gesetz zustimmen, dass sie dahinter stehen. Das ist sehr positiv. Es gab in diesem Verhandlungsmarathon wirklich verschiedene Beobachtungen zu machen, die nicht so positiv waren. Dies vor allem, weil die Verhandlungen so zäh waren - und nicht allein die Tatsache, dass es so zäh war, sondern dadurch, dass die Verhandlungen so lange gedauert haben, ist auch die Auszahlung der Summen an die Entschädigungsberechtigten so weit hinaus- gezögert, dass zum Beispiel schon einige verstorben sind, eine ganze Reihe von Entschädigungsberechtigten. Und das ist natürlich sehr, sehr bedauerlich. Und auch jetzt stehen die Auszahlungen nicht unmittelbar bevor. Es hat in den letzten Monaten immer wieder geheißen: 'Jetzt ist der Druchbruch da'. Wir haben viele Durchbrüche erlebt, und ich hoffe, dass jetzt der Durchbruch wirklich der Durchbruch ist, den sich alle erhofft haben, auf den wir alle gewartet haben, und dass jetzt bald die Auszahlung wirklich zügig vorgenommen werden kann.

    DLF: Es haben in der Debatte am Freitag viele von einer 'historischen Stunde' gesprochen. Würden Sie diesen Ausdruck auch gebrauchen?

    Spiegel: Ich würde dem nicht widersprechen, wenn es auch vieles anzumerken gibt, weil es ja doch nicht so optimal gelaufen ist. Man glaubt immer allgemein in der Bevölkerung, hier würden Riesensummen an einzelne oder mehrere verteilt. Natürlich, die Summe insgesamt - die Globalsumme -, 10 Milliarden, ist viel Geld, zweifellos. Aber man muss berücksichtigen, dass die Höchstsumme, die an einzelne ausgezahlt werden kann - und da muss man ganz bestimmte Voraussetzungen erfüllen -, 15.000 Mark ist. Die durchschnittliche Summe an die meisten, die ausgezahlt wird, ist 3.000 Mark. Und wenn man bedenkt, dass einige oder fast alle von ihnen mehrere Jahre Zwangsarbeit geleistet haben und wirklich ihre Gesundheit aufs Spiel gesetzt haben - oder ihre Gesundheit aufs Spiel gesetzt wurde -, und jetzt am Ende ihres qualvollen Leidens ein Leben, das bald zu Ende geht - und die meisten von ihnen sind sehr schwer krank - und dann bekommen sie noch mal 3.000 Mark : Das ist nicht mehr als eine symbolische Anerkennung, wobei ich ganz speziell noch mal darauf hinweisen möchte: Höchstens zehn Prozent aller Entschädigungsberechtigten sind Juden. Aber wir vom Zentralrat der Juden, auch der Jüdische Weltkongress, der Europäisch-Jüdische Kongress haben sich sehr stark auch für diese Zahlungen und für die Entschädigungen eingesetzt, weil Juden gemeinsam mit Nichtjuden geschuftet haben, sich haben prügeln lassen zur Arbeit und während der Arbeit, Kameradschaften gebildet haben, auch zum Teil gemeinsam in den Tod gegangen sind, und deswegen fühlen wir uns auch verpflichtet, hier mitzuwirken an einer kleinen moralischen Wiedergutmachung für alle, auch wenn sie Nichtjuden sind.

    DLF: Die deutsche Wirtschaft will sich ja mit 5 Milliarden DM an dieser Gesamtsumme von 10 Milliarden beteiligen. Sicherlich sind in den letzten Wochen immer neue und mehr Unternehmen hinzugekommen, die an dieser Stiftung mitwirken wollen, aber es sind bisher erst zwei bis drei Milliarden zusammen. Viele Unternehmen weigern sich. Wie beurteilen Sie das Verhalten der deutschen Unternehmen in dieser Frage?

    Spiegel: Also, ich will nicht sagen, 'der' deutschen Unternehmen, aber das Verhalten des Großteils der Unternehmen, die Geld und große Gewinne gemacht haben, indem sie Menschen zur Sklavenarbeit gezwungen haben - der Großteil dieser Firmen hat sich bis heute noch nicht bereit erklärt, sich diesem Fonds anzuschließen. Das ist der eigentliche Skandal an der Geschichte. Die übergroße Mehrzahl - das sind über 2.000 noch - denkt überhaupt zur Zeit noch nicht daran, sich dem anzuschließen. Die Summe steht fest: 5 Milliarden, und je mehr Firmen beitreten, je geringer wird dann die Summe für die Firmen, die sich bereit erklärt haben. Aber ich fürchte, dass nicht viel mehr Firmen kommen werden; dass die einfach sagen: 'Wir wollen damit nichts zu tun haben'.

    DLF: Also Sie glauben auch nicht, dass da zusätzlicher öffentlicher Druck noch etwas bewirken könnte? Oder was sollte Ihrer Ansicht nach geschehen?

    Spiegel: Also wir können nicht mehr tun als wir getan haben. Der Druck war schon massiv von nichtjüdischer Seite aus, von ausländischer Seite, besonders aus Amerika. Und jetzt kommt es darauf an, ob innerhalb von Deutschland, von nichtjüdischer Seite, von Behörden etwas geschieht. Ich habe gestern zufällig gehört, dass der Vorsitzende einer Industrie- und Handelskammer in Westfalen, zu der mehrere Bezirke gehören, seine Mitglieder aufgerufen hat, sich hier anzuschließen. Ich hoffe, dass das Schule macht; ich hoffe, dass die Mitglieder auf solche Stimmen hören werden und dass es auch in Deutschland weiter so gehen wird. Wichtig ist - und das ist für mich sehr wichtig -, dass diese 5 Milliarden und mit den 5 Milliarden vom Bund, also 10 Milliarden, dass die jetzt schnell zur Auszahlung gelangen.

    DLF: Die Debatte hat manchmal quälend lange gedauert. Oft schien es, als ob über dem Gefeilsche über Details die Betroffenen, die Opfer aus dem Blick gerieten. Welches Fazit ziehen Sie denn? Gab es in dieser Zeit Dinge, die Sie auch beeindruckt haben; gab es Dinge, die Sie besonders erschreckt haben?

    Spiegel: Beeindruckt hat mich sehr wenig, aber erschreckt hat mich sehr viel. Ich habe das Ihnen eben gesagt, was mich besonders - und uns besonders - erschreckt hat, nämlich dass es so lange gedauert hat, bis man zu einer Einigung gekommen ist. Aber es hat vereinzelt sehr positive Signale gegeben. Da gab es zum Beispiel eine relativ kleine Firma im Sauerland, die heute vielleicht, glaube ich, 20 Mitarbeiter hat - ich weiß es nicht genau. Und als der Firmeninhaber erfahren hat von Mitarbeitern, dass auch die Firma - ich glaube - damals fünf Sklavenarbeiter beschäftigt hatte, hat dieser Firmeninhaber sich eigeninitiativ auf den Weg gemacht nach Polen und hat Angehörige dieser damaligen Sklavenarbeiter ausfindig gemacht - sie selbst lebten nicht mehr - und hat aus seiner Firmenschatulle freiwillig Geld zur Verfügung gestellt, um diesen Familien eine kleine Anerkennung, eine kleine Art der Wiedergutmachung - eine symbolische Art - zu übergeben. Das fand ich schon sehr bemerkenswert. Das hat leider aber keine Schule gemacht, das sind Einzelfälle.

    DLF: Die deutschen Unternehmen - so lautet ja der Vorwurf - beteiligten sich an der Entschädigung nur, weil sie einen Boykott in den Vereinigten Staaten befürchteten. Mindert dies das Erreichte?

    Spiegel: Schauen Sie, das können Sie von vielen Seiten beurteilen. Die Tatsache ist, dass es jetzt einen Fonds gibt. Die Tatsache, dass eine Summe ausgezahlt wird, die zwar erheblich ist; dass Menschen, die Not gelitten haben, jetzt eine kleine Entschädigung bekommen - das mag alles überwiegen. Ich möchte da auch nicht mehr groß urteilen oder verurteilen oder beurteilen. Ich möchte nur das Ergebnis zur Kenntnis nehmen - das tue ich - und versuchen, immer wieder zu apellieren, jetzt bald die Auszahlung vorzunehmen.

    DLF: Ist dies dann der Schlußstrich unter die Entschädigungsfrage?

    Spiegel: Das weiß ich nicht, das möchte ich auch so nicht darstellen. Es gibt bestimmt noch viele Dinge, die unausgesprochen sind. Es gibt Dinge, die noch zu regeln sind. Aber es gibt - soweit ich weiß - eine Rechtsgrundlage hinsichtlich der Firmen, die sich jetzt beteiligt haben - aus Amerika heraus, damit sie in Amerika nicht wieder zur Verantwortung gezogen werden oder vor Gericht kommen; da gibt es Grundlagen und rechtliche Regelungen. Aber es gibt immer noch einzelne Fälle, die noch nicht geregelt worden sind. Die kenne ich nun aber im einzelnen nicht, da müsste ich das ganze Werk einmal nachsehen; und ich trage das nicht ständig unterm Arm.

    DLF: Herr Spiegel, Sie haben sich mehrfach besorgt geäußert über die Entwicklung des Rechtsextremismus in der Bundesrepublik. Vor allem in Teilen Ostdeutschlands scheint sein Einfluss zuzunehmen: In einigen Kommunen dominiert er die Jugendszene, die Zahl der Gewalttaten ist gestiegen, im Internet ergießt sich eine Flut von antisemitischer und ausländerfeindlicher Hetze, Neonazis marschierten durchs Brandenburger Tor, jüdische Friedhöfe werden geschändet. Macht Ihnen das Angst?

    Spiegel: Das besorgt mich. Wir beobachten das allerdings nicht erst in den letzten Tagen, sondern das ist eine Entwicklung, die in den letzten Jahren zu beobachten ist - genau wie der Antisemitismus in Deutschland immer noch existiert, und er hat auch seit 1945 überhaupt nicht aufgehört zu existieren. Wissenschaftliche Untersuchungen haben festgestellt, dass 15 Prozent der deutschen Bevölkerung zumindest latent antisemitisch eingestellt ist. Und dieser Rechtsradikalismus und vor allen Dingen die brutale Auswirkung dieses Rechtsradikalismus ist eine Feststellung, die wir leider hier machen müssen in Deutschland - vorwiegend natürlich in Ostdeutschland. Aber man macht einen Fehler, wenn man sagt: 'Den Rechtsradikalismus beobachten wir ausschließlich in Ostdeutschland'. Die Zentralen der rechtsradikalen Organisationen sind in Westdeutschland. Das schwappt natürlich sehr nach Ostdeutschland über, und vielleicht ist der Boden dort ganz anders. Es ist aber auch eine Tatsache, die wir beobachten in ganz Europa. Der Rechtsradikalismus ist nicht nur ein deutsches Problem, ich brauche Ihnen das nicht einzeln aufzuführen. Österreich - ich brauche das nicht zu erläutern, Frankreich, Belgien, Niederlande - und wer hätte noch vor Jahresfrist geglaubt, dass das liberale Schweden einmal so ein Problem haben würde mit dem Rechtsradikalismus, wie es das jetzt hat. Also, ich glaube, die EU ist hier aufgerufen, nicht nur die einzelnen Länder, wenn man hiergegen etwas tun will. Und ich höre immer wieder aus politischen Meinungsäuße-rungen, man muss und soll etwas tun. Aber da muss es eine vereinigte Aktion der europäischen Länder geben, um hier etwas zu bewirken. Und - Sie sprachen das auch an - ganz schlimm ist das, was sich im Internet abspielt. Und wenn man weiß, wer mit diesem Medium vor allen Dingen umgeht, weil er damit umgehen kann: Das ist die Jugend. Und dann, wenn Sie die rechtsradikalen Internetseiten sehen, was da ein Gift verspritzt wird, das unzensiert und ungehemmt über diese Medien verstreut wird und Zugang zu Jugendlichen findet, dann muss man sich auch nicht wundern, wenn Untersuchungen feststellen, dass jeder zweite Jugendliche in Deutschland im Alter zwischen 14 und 17 Jahren mit dem Begriff 'Auschwitz' überhaupt nichts anzufangen weiß.

    DLF: Was ist dagegen zu tun? Hat die Politik, hat die Gesellschaft in diesem Land bisher angemessen darauf reagiert, oder was meinen Sie?

    Spiegel: Schauen Sie, wenn ich die Formel wüßte, wie man das ändern kann - ich weiß es nicht. Ich weiß nur, dass dieser Antisemitismus oder das, was sich gegen Juden richtet, ein Antisemitismus ist ohne Juden. Wir sind 80.000 Mitglieder in jüdischen Gemeinden, also - wenn ich es richtig rechne - 0,1 Prozent der Bevölkerung. Man kann ja nicht behaupten, dass das Straßenbild der deutschen Städte geprägt ist vom Erscheinungsbild von Juden. Das ist nicht der Fall. Ich behaupte einfach, dass 99 Prozent der deutschen Bevölkerung persönlich einen Juden nicht kennen. Sie kennen Juden vielleicht aus den Medien, wissen vielleicht, wer Jude ist und wer auch nicht. Was ist es dann, wer hat versagt? Ich stelle aber hingegen fest, dass das Interesse von Jugendlichen - besonders in Schulen - groß ist, etwas zu erfahren, was im Holocaust passiert ist - und noch mehr: Wie konnte es überhaupt dazu kommen. Aber aufgefordert sind alle Einrichtungen, die mit der Erziehung von Jugendlichen zu tun haben. Und da ist vielleicht nicht das richtige Maß getroffen worden. Ich will Ihnen ein Beispiel erzählen: Ich war kürzlich eingeladen in einer Grundschule, und dort hat die vierte Klasse - also Kinder von 9 oder 10 Jahren - das 'Tagebuch der Anne Frank' gelesen. Und sie haben sich auf eine unglaublich beeindruckende Weise mit diesem Tagebuch der Anne Frank und auch mit der Judenverfolgung auseinandergesetzt und daraus eine Ausstellung gemacht. Ich kann nur sagen: Wenn das zu einem Pflichtfach würde in allen vierten Klassen in ganz Deutschland, dann brauchten wir uns um die Zukunft in dieser Hinsicht überhaupt gar keine Sorgen mehr zu machen.

    DLF: Gerade in Ostdeutschland hat man es auch erlebt, dass Politiker auf die Arbeitslosigkeit und auf Verwahrlosung verwiesen. Aber das kann ja Rechtsextre-mismus und Antisemitismus nicht erklären oder nicht rechtfertigen.

    Spiegel: Nein, wir müssen der Jugend klarmachen: Wohin führt das und wohin hat das geführt? Wohin hat übertriebener Nationalismus, Nationalsozialismus, Nazismus, Rechtsradikalismus geführt? Wir erleben ja heute noch die Auswirkungen. Wenn es den Nationalsozialismus nicht gegeben hätte, hätte es keinen Krieg, keinen Holocaust gegeben, es hätte keine Teilung Deutschlands gegeben, es hätte keine Wiedervereinigung geben müssen. Und bis heute haben wir die Auswirkungen. Das heißt also, man muss den jungen Leuten klarmachen, was sie sich selbst antun - genau so gut, wie es wichtig ist, den jungen Menschen klarzumachen, was Deutschland sich mit der Ermordung des deutschen Judentums angetan hat, nämlich sich selbst amputiert hat. Dafür muss man aber auch dann mal klar vor Augen führen, was die Leistungen der Juden - der jüdischen Gemeinschaft - in der deutschen Kultur, in der deutschen Wissenschaft und in der deutschen Wirtschaft gewesen sind. Von den Nobelpreisträgern, die Deutsche waren, waren mehr als 50 Prozent Juden. Das muss man den jungen Leuten einmal klarmachen. Und ich glaube, da ist nicht genug getan worden.

    DLF: Sie haben schon die Entwicklung in Österreich angesprochen. In Deutschland gibt es noch keinen Haider. Kann uns das beruhigen?

    Spiegel: Das kann uns wahrlich nicht beruhigen, wenn man vor allen Dingen die Zahlen hört, die Sie eben auch angesprochen haben - nämlich die des Verfassungsschutzberichtes des Bundesinnenministers - dass die Zahl der gewaltbereiten rechtsradikalen Jugendlichen immer mehr zunimmt. Das kann uns nicht beruhigen. Wir wollen mal die nächsten Wahlen abwarten, und ich hoffe, dass den rechtsradikalen Parteien genau so eine Abfuhr erteilt wird, wie es bei den letzten Wahlen gewesen ist. Aber man darf die Hände nicht in den Schoß legen. Man darf nicht vergessen, dass bei den letzten Wahlen zum Hamburger Senat die rechtsradikale DVU nur mit 0,1 Prozent an der 5-Prozent-Hürde gescheitert ist. Wenn in Hamburg seinerzeit die anderen beiden rechtsradikalen oder rechtsorientierten Parteien sich der DVU angeschlossen hätten, säßen die Rechtsnationalen in Hamburg mit 9 Prozent in der Bürgerschaft. Das darf man nicht vergessen. Also, man muss natürlich genau aufpassen, und ich hoffe nicht, dass das, was die großen Parteien jetzt zur Diskussion Anlass geben, dass das Menschen veranlassen könnte, hier eine radikale Partei zu wählen - egal, von welcher Seite auch immer. Und wissen Sie: Der Nationalsozialismus in Deutschland hat auch mal klein angefangen. Und alle, die 1933 mit ihrer Stimme den Nationalsozialisten zum Erfolg verholfen haben, waren auch nicht Nationalsozialisten, sondern waren zum großen Teil Protestwähler - genau so wie in Österreich. Nicht alle, die die FPÖ gewählt haben, waren rechtspopulistisch, sondern haben protestiert mit ihrer Stimme. Man muss sehr genau aufpassen, was man mit seiner Stimme bei der Wahl macht. Einfach sagen: 'Ach, jetzt wähle ich mal die Partei; die anderen sollen mal spüren, dass das auch anders geht' - davor möchte ich aber ganz eindringlich warnen.

    DLF: Hat eigentlich der Kurs der EU, der ja auch umstritten ist, Österreich zu isolieren, Ihrer Meinung nach schon etwas bewirkt? Ist es der richtige Weg, damit umzugehen?

    Spiegel: Also ich glaube, es ist der richtige Weg, denn ich sehe dazu keine Alternative. Die Alternative wäre ja, das zur Kenntnis zu nehmen und zur Tagesordnung überzugehen. Wir dürfen nicht vergessen, dass zum ersten Mal seit 1945 eine rechtspopulistische Partei ministrabel geworden ist, in der Regierungs-Verantwortung ist, und hier die Wertebeständigkeit der EU verschoben worden ist. Das ist ein ungeheurer Vorgang, den man gar nicht genug bewerten kann und gegen den man nicht genug angehen kann. Und Herr Haider hat ja verschiedentlich sich auch geäußert, und man sollte seine Äußerungen sehr, sehr wohl zur Kenntnis nehmen und sie auch so beurteilen, wie man sie beurteilen muss.

    DLF: Das heißt also: Isolierung, solange die FPÖ an der Regierung beteiligt ist?

    Spiegel: Ich sehe zur Zeit keine Alternative. Man sagt immer, es wäre eine Einmischung in innere Angelegenheiten Österreichs. Wenn es aber um Gerechtigkeit, wenn es um Versöhnung der Menschen, wenn es um Frieden geht, gibt es keine inneren Angelegenheiten.

    DLF: Herr Spiegel, Sie sind seit Anfang des Jahres als Nachfolger von Ignaz Bubis Vorsitzender des Zentralrats der Juden in Deutschland. Was hat sich für Sie seither verändert?

    Spiegel: Oh, eine ganze Menge. Mein Alltag hat sich verändert, mein Telefon hat sich verändert: Ich muss öfter zum Telefon greifen als früher und ich muss öfter unterwegs sein als früher. Aber das ist mir alles vorher klar gewesen. Und die Aktualität der Politik zwingt mich immer wieder, Stellung zu beziehen - auch wenn ich das gar nicht immer so will. Aber es ist nun einmal so. Ich bin am 9. Januar gewählt worden, und ich habe gedacht: Na ja, jetzt kann ich mich erst einmal auf die kommenden Aufgaben in Ruhe vorbereiten. Es dauerte keine drei Tage, da hatte ich meine erste Stellungnahme abzugeben. Das war seinerzeit die unselige Aktion, die Herr Möllemann vorhatte hinsichtlich einer wohldurchdachten und zu begrüßenden Aktion, nämlich für mehr Lehrer zu sorgen. Aber er glaubte damals, das mit dem Bild des größten Völkermörders der Geschichte, nämlich mit Hitler, zu machen. Und das hat einiger Erklärungen bedurft, bis er eingesehen hat, dass das nicht das richtige Foto für ein Plakat ist. So etwas geschieht immer wieder. Aber ich glaube, dass ich noch nicht so vereinnahmt werde, dass ich nicht auch zu meinen privaten Dingen komme - also ich versuche es jedenfalls. Ob ich es gut oder schlecht mache, das mögen andere beurteilen.

    DLF: Sie wollten ja nicht der 'ewige Mahner' sein, wie Ihr Vorgänger.

    Spiegel: Nein, ich hab das nicht vorgehabt, aber ich mahne schon, wenn ich glaube, dass ich mahnen muss. Und immer dann, wenn ich der Ansicht bin, dass nicht nur die jüdische Gemeinschaft bedroht oder in Gefahr oder irgendwie auch schlecht dazu Stellung genommen wird, wenn sie in Gefahr ist, sondern auch, wenn unsere Demokratie in Deutschland, unsere gemeinsamen Werte, unsere gemeinsame Freiheit in Gefahr ist, werde ich mich zu Wort melden. Das war immer so, das ist so und das wird auch so sein.

    DLF: Herr Spiegel, nach 1945 schien ja zunächst ein Wiederbeleben jüdischen Lebens in Deutschland fast undenkbar. Jetzt ist in den letzten Jahren die jüdische Gemeinde sehr rasch gewachsen und sie wächst immer noch sehr rasch. Sie gehört zu denen, die am schnellsten wachsen in der Welt. Das ist ja für die existierenden Gemeinden eine enorme Herausforderung - Sie haben das auch immer wieder angesprochen. Sie haben auch materielle Unterstützung der öffentlichen Hand angemahnt. Sind Sie damit weitergekommen? Haben Sie da schon Reaktionen erhalten?

    Spiegel: Wir sind weiter im Gespräch. Wir haben die finanzielle Hilfe noch nicht, und ich sehe auch ein, dass das so schnell nicht geht, denn wir wissen ja, dass die finanziellen Mittel weder in den Kommunen, noch in den Ländern, noch im Bund so in Hülle und Fülle zur Verfügung stehen, dass man sie nur abrufen muss. Das ist nicht der Fall. Wir sind im Gespräch auf allen politischen Ebenen und mit allen politischen Parteien, um hier unserem Bedürfnis entgegenzukommen. Wir sind gezwungen, eine große Integrationsarbeit zu machen, wenn wir diese vielen Menschen, die zu uns kommen, auch integrieren wollen bei uns. Und das ist mit einem großen Finanzbedarf verbunden. Wir brauchen Fachleute auf allen Gebieten. Ich bin relativ optimistisch, dass uns das im Verlauf dieses Jahres noch gelingen kann.

    DLF: Was sind denn die Hauptprobleme dabei?

    Spiegel: Zunächst einmal: Wenn Menschen zu uns kommen, die außer ihrer Sprache keine andere Sprache sprechen, müssen wir ihnen helfen, die deutsche Sprache zu erlernen. Sonst haben sie keine Chance, hier in Deutschland sich zu integrieren, vor allen Dingen nicht, in den Arbeitsprozess zu gelangen. Und solange sie einer Arbeit nicht nachgehen können, ist das ein Problem und sie fallen dann der Sozialhilfe zur Last. Und das möchten wir so schnell wie möglich versuchen. Also, wir brauchen dazu Sprachlehrer, wir brauchen dazu Sozialarbeiter, die den Menschen helfen. Aber wir brauchen auch Fachleute auf religiösem Gebiet - Rabbiner und Religionslehrer, die diesen Menschen helfen und ihnen beibringen: Was ist Judentum, was ist jüdische Religion - weil sie das in ihren Heimatländern nicht erfahren konnten und nicht erfahren durften, weil das mit großen Gefahren verbunden war - vor allen Dingen in der Zeit des Kommunismus.

    DLF: Ist die Fortführung jüdischen Lebens in Deutschland immer noch ein Gradmesser für die Stabilität dieser Demokratie?

    Spiegel: Wenn Sie das so sehen wollen, will ich dem nicht widersprechen. Ich glaube jedenfalls, dass es für die Außenpolitik unseres Landes hier nicht schlecht ist, wenn es eine Tatsache ist, dass Juden im nennenswerten Ausmaße sich entschließen, in Deutschland Fuß zu fassen und in Deutschland ihre Zukunft zu verbringen. Ich glaube das, und das höre ich auch immer wieder von allen Vertretern aller politischen Parteien. Das höre ich immer wieder, und ich habe auch keine Zweifel an diesen Aussagen. Wenn aber das so ist, dann muss man uns auch helfen bei unserer Arbeit. Zur Zeit sind mehr als 80 Prozent aller jüdischen Gemeinden finanziell in einer Notlage.

    DLF: Herr Spiegel, es hat vor wenigen Tagen ein Urteil des obersten Zivilgerichts in London gegeben. Da wurde der Historiker Irving als Holocaustleugner und Antisemit in einer wirklich sehr deutlichen Sprache bloßgestellt. Was bedeutet dieses Urteil über diesen Einzelfall hinaus?

    Spiegel: Ich will das so nicht beurteilen jetzt, weil das eine Selbstverständlichkeit ist. Ich will nur mal daran erinnern oder Ihnen vor Augen führen: Können Sie sich vorstellen, Menschen, die in dieser Hölle gewesen sind, diese Qualen erlitten haben, die die nächsten Familienangehörigen verloren haben - zum Teil gesehen haben, wie sie erschossen, erschlagen und verbrannt wurden. Und dann gibt es einen langjährigen Prozess gegen jemanden, der sagt: 'Das hat es alles nicht gegeben'. Und jetzt hat es einige Jahre gedauert, bis man sagt: 'Doch, das hat es gegeben'. Kann man sich in die Situation dieser Menschen überhaupt versetzen, wenn sie das lesen und hören müssen, was dieser Mensch gesagt hat - und jetzt erst ein Gericht sagt: 'Der Mann hat nicht recht'.