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Spitzengespräch über Zuwanderungsgesetz als Chance

Wolfgang Koczian: Wären die Geburtswehen Garant für die Prächtigkeit des zu erwartenden Kindes, das Zuwanderungsgesetz müsste wie die schaumgeborene Aphrodite erscheinen. Leider verhält es sich nicht so, und auch das Krisengespräch gestern innerhalb der miteinander hadernden rot-grünen Koalition scheint nur bedingt richtungsweisend, da ohne Bezug auf Inhalt. Am Telefon Rita Süssmuth, Vorsitzende des Zuwanderungssachverständigenrates und ehemalige Bundestagspräsidentin. Guten Morgen Frau Professor Süssmuth.

08.05.2004
    Rita Süssmuth: Guten Morgen.

    Koczian: Zwei Sätze über Politik gelten wohl als allgemein anerkannt: Politik ist die Kunst des Möglichen, und sie hat den Interessen des Landes zu dienen. Beginnen wir mit dem Zweiten: Was ist Deutschlands Interesse bei der Zuwanderung?

    Süssmuth: Entschuldigen Sie, ich beginne trotzdem erstens mit den Schicksalsfragen von Menschen, die staatlich oder nichtstaatlich, geschlechtsspezifisch verfolgt sind und das Schicksal von Menschen, die zehn, zwölf Jahre hier sind, nirgendwo mehr eine Heimat haben und dann zurückgeführt werden. Das sind die humanitären Fragen, die dringend einer Lösung bedürfen. Aber jetzt das Interesse Deutschlands. Das Interesse Deutschlands muss darauf gerichtet sein, mit den Zugewanderten, die hier leben, friedlich, gut und nicht nur isoliert nebeneinander zu leben, sie zu integrieren, wie wir sagen, in Bildung, in Arbeit, in unser Alltagsleben und wenn wieder nichts passiert, werden wir der Integration oder Nicht-Integration einen weiteren, schweren Schlag zuführen. Das Interesse Deutschlands ist ferner, dass wir die Türen nicht länger so schmal öffnen für Höchstqualifizierte mit kurzen Verweildauern und sehr hohen Anforderungsbedingungen. Selbst wenn keiner aus unserem Land von den Hochqualifizierten auswandern würde, bräuchten wir sie, weil alle offenen Gesellschaften mit Menschen aus verschiedensten Kulturen ihre Zukunft gestalten. Wir brauchen sie, ein solches Gesetz, wir schicken ausländische Studierende 14 Tage nach ihrem Examen zurück. Eine solche Regelung hat inzwischen kein EU-Land mehr. Wir schädigen uns selbst, wenn wir nicht die, die wir dringend auch brauchen, in unser Land holen. Und mein letztes Interesse, wir brauchen endlich Klarheit für alle hier Lebenden, denn alles, was bisher auf dem Tisch liegt, ist ja kein Schleusenöffnungsgesetz, sondern ein Gestaltungsgesetz für die Zukunft mit geringfügigen Öffnungen und Begrenzungen und das Volk hat auch ein Anrecht darauf, zu wissen, wo es steht. Ich frage mich allmählich, was aus unserer Zukunft wird.

    Koczian: Zum anderen die Politik als Kunst des Möglichen. Wagen die Unterhändler das Mögliche oder verharren sie mit Blick auf das Wahljahr in ihren Schützengräben?

    Süssmuth: Ich kann Ihnen keine endgültige Antwort geben, aber ich muss klar sagen, ich begrüße das gestrige Ergebnis. Es mag ein letzter Versuch sein, aber der lohnt sich immer in einer so wichtigen Angelegenheit wie Migrationsfragen, die auf der Weltordnung oben an stehen und deswegen hoffe ich, dass sie sich als die Kunst des Möglichen und Notwendigen erweist und diese Chance, die alle miteinander noch einmal vereinbart haben, nicht vertan wird.

    Koczian: Rein rechtssystematisch muss die Sicherheit nicht mit der Zuwanderung geregelt werden, aber ist es nicht richtig, dass der Bürger es schwer verdaute, wenn beispielsweise ein Al-Quaida-Ausgebildeter, der nicht zurückgeschickt werden kann, hier freizügig seine Umtriebe fortsetzen könnte?

    Süssmuth: Ein kurzes Ja zu Ihrer Frage. Von daher sind ja auch Sicherheitsfragen von keiner Seite ausgeschlossen worden und nach dem 11. April in Madrid schon gar nicht mehr, aber auch unabhängig von Madrid. Und auch dort ist es wichtig, dass Notwendigste zu tun und nicht Höchstforderungen zu stellen, die wir dann nicht umsetzen können, auch aus verfassungsmäßigen Gründen. Aber ich denke, zu dem, was ich eben gesagt habe, wir alle müssen um die Sicherheit der Menschen, die hier leben, bemüht sein und können nicht Terroristen das Feld räumen.

    Koczian: Sie haben bereits geschildert, was die Folge wäre, wenn kein Gesetz zu Stande käme. Nun steckt der Teufel im Detail. Muss denn ein solches Gesetz sozusagen schon Einzelfallentscheidungen vorwegnehmen, also eine Detailhuberei betreiben oder sollte man sich auf Generalklauseln einigen, selbst wenn sie Formelkompromisse darstellen?

    Süssmuth: Bei den Formelkompromissen hat es Grenzen. Also, erste Antwort, der Gesetzgeber hat dann die Details zu lösen, aber es geht ja zunächst einmal um die Grundsatzlinie. Und in den Grundsatzlinien haben wir eben gesagt, muss die Sicherheitsfrage eine Rolle spielen, ob man sie nun in- oder außerhalb des Zuwanderungsgesetzes löst. Aber entscheidend ist, dass die Kompromisse, auf die man sich einigt, nicht in drei oder vier Richtungen zu interpretieren sind und soviel muss dann auch die Kompromisseinigung deutlich machen.

    Koczian: Wie auch immer das ausfällt, der Weg zu den Verwaltungsgerichten muss im Rechtsstaat ja dennoch offen bleiben?

    Süssmuth: Ich bin froh, und es gilt diesen Rechtsstaat, Stichwort Verwaltungsgerichte, zu schützen, der bleibt auch offen und insofern denke ich, ist es in einer besonders gefährdeten Situation vielleicht die höchste Staatskunst, immer wieder genau abzuwägen zwischen dem freiheitlichen Rechtsstaat und der notwendigen Sicherheit. Das sind manchmal sehr schwierige Balanceakte.

    Koczian: Das Ganze hat über das Gesetz hinaus auch mit politischer Kultur zu tun, sie waren ja Bundestagspräsidentin. Haben wir im Umgang der Fraktionen miteinander mit einem Verfall dieser Kultur zu tun, weil die gemeinsame Aufgabe immer mehr aus dem Auge verloren wird?
    Süssmuth: Wir sollten jetzt nicht diesen Vorgang als einzigartig darstellen, denn wir kennen schwierigste Verhandlungen, auch Blockaden auf wechselnden Seiten. Nur muss ich Ihnen sagen, unsere Lage ist, weltweit und in unserem eigenen Land, so kompliziert, so verändert und dramatisch verändert, wirtschaftlich, sozial, Gefährdung in der Sicherheit, dass es wirklich notwendig ist, dass nicht nur politische Kultur, sondern dazu gehört die politische Verantwortung, es notwendig macht, sich überall dort zu einigen, wo man sich einigen kann, im Interesse des Landes.

    Koczian: In diesem Zusammenhang ein Blick auf die ausführenden Organe. Es gibt sicherlich angenehmere Aufgaben, als die ausländerrechtlichen Vorschriften umzusetzen, aber in manchen Ausländerämtern verspürt man einen regelrechten Jagdeifer. Müsste das nicht alarmieren?

    Süssmuth: Ich denke, dass Ausländerämter sich zugleich als Integrationsämter verstehen müssten, davon sind wir weit entfernt. Natürlich ist es eine schwierige Aufgabe, dem einen zu sagen, du kannst bleiben und dem anderen zu sagen, du musst zurück in dein Herkunftsland gehen. Aber die Sprache, der Ton, ist ganz ausschlaggebend, damit die wahnsinnigen Ängste, die Zugewanderte vor den Auslandsämtern haben, abnehmen. Auch das muss ein Teil unserer humanitären Verwaltungsakte sein.

    Koczian: In den Niederlanden setzen viele Bürgermeister die neuen Abschiebevorschriften einfach nicht um. Wäre das ein Vorbild?

    Süssmuth: Nein, das ist kein Vorbild. Wenn man es einfach nicht umsetzt, dann macht am Ende die Gesetzgebung keinen Sinn, sondern es ist die Umsetzung auch vorher zu bedenken. Dies ist, glaube ich, auch eine niederländische Antwort vieler Bürger bis hinein zu den Institutionen, die auch mit ihrer eigenen Gesetzgebung Schwierigkeiten haben.

    Koczian: Sie gehören ja auch einem UNO-Gremium über Migration an. Im weltweiten Maßstab ist Deutschland eher zu den großzügigen oder zu den kleinlichen Ländern zu rechnen, was die Aufnahme Fremder angeht? Zum Beispiel auch, was die afrikanischen Staaten leisten.

    Süssmuth: Deutschland gehörte über Jahrzehnte zu den wirklich beispielhaften Ländern in der Aufnahme von Flüchtlingen, aber wir haben uns eingereiht in binationale und supranationale Einigungen. Die Vorstellung, Deutschland sei das offenste Land, stimmt nicht und zum anderen ist es so, trotz der hohen Flüchtlingszahl, die wir aufgenommen haben, müssen wir sehen, dass andere Länder, wie Pakistan, jährlich zwei Millionen Flüchtlinge aufnimmt. Wir haben im Augenblick die niedrigste Rate, wir lagen in den letzten Jahren mal bei 100.000, Sie erinnern sich, wir lagen mal bei fast 500.000 und liegen jetzt so um die 60.000. Also, die Zahlen schwanken ja auch, aber es geht darum, dass wir einerseits deutlich machen, der humanitäre Schutz wird gewährleistet, deswegen auch jetzt die europäische Zusammenarbeit und die Richtlinien in diesem Feld, wenigstens Mindeststandards für jedes EU-Mitgliedsland zu sichern, und aus internationaler Entwicklung weiß ich, es bedarf dringend der internationalen Abstimmung zwischen den Staaten, wie sie mit Flüchtlingen entsprechend der Genfer Flüchtlingskonvention umgehen.

    Koczian: In den Informationen am Morgen hörten Sie Rita Süssmuth, die Vorsitzende des Sachverständigenrates für Zuwanderung und Integration. Danke schön.

    Süssmuth: Bitte.