Weg vom Schneller-Höher-Weiter
Noten im Schulsport - ja oder nein?

Bewegung macht Spaß und ist gut für die Gesundheit. Das sollen Kinder im Sportunterricht lernen. Doch vielen bereitet der Gedanke an das Fach Bauchschmerzen. Ein Grund dafür ist der Leistungsdruck. Das hat Folgen, auch für ihr weiteres Leben.

    An den Kleiderhaken im Flur einer Grundschule hängen Turnbeutel und Jacken der Schulkinder.
    Für die einen ist der Schulsport die beste Unterrichtsstunde der Woche, den anderen graut es auch noch Jahre später bei dem Gedanken daran (dpa / picture alliance / Inderlied/Kirchner-Media)
    Stoppuhr, Maßband und Bewertungstabelle: In vielen Schulen gehört die Notenvergabe nach dem Schneller-Höher-Weiter-Prinzip zum Sportunterricht dazu. Kritiker einer solchen Leistungsbewertung halten das für unfair und warnen: Der Leistungsdruck verdirbt Kindern und Jugendlichen nachhaltig die Freude an Sport und Bewegung.

    Inhalt

    Noten im Schulsport – ja oder nein?

    Für die einen ist es das absolute Lieblingsfach, für die anderen die unangenehmste Unterrichtsstunde der Woche. Kaum ein anderes Fach polarisiert so stark wie der Schulsport. Während sich manche auf Geräteturnen und Leichtathletik freuen, graut es anderen auch noch Jahre später bei dem Gedanken an Trillerpfeife und Turnmatte.
    Eines der größten Streitthemen ist die Notenvergabe. Kritiker wie Arne Schmidt vom Landesschülerrat Mecklenburg-Vorpommern halten die Beurteilung via Maßband, Stoppuhr und starrer Bewertungstabelle für ungerecht und demotivierend. Ihr Argument: Das Ergebnis hängt zu sehr von den körperlichen Voraussetzungen der Kinder und Jugendlichen ab. Sportlich sein lässt sich nicht pauken wie Vokabeln.
    Klar ist: Angeborene Eigenschaften wie Körpergröße, Kraft oder Beweglichkeit führen zu ungleichen Startbedingungen in der Klasse. Wenn also nur messbare Ergebnisse wie die Zeit beim 50-Meter-Sprint oder die Weite beim Sprung zählen, hat derjenige einen Vorteil, der von Natur aus sportlich ist oder im Verein trainiert. Wer hingegen körperlich benachteiligt ist – etwa Kinder mit Übergewicht oder chronischen Krankheiten wie Asthma – hat es bei einer solchen Leistungsbewertung schwer.
    Schmidt hält das für fatal: „Die Leistungsbewertung benachteiligt die Falschen." Schülerinnen und Schüler, die ohnehin schon sportlich sind, punkten auch im Unterricht. Die anderen, die eigentlich für Sport und Bewegung motiviert werden sollen, kassieren hingegen Niederlagen und schlechte Noten – mit Folgen für ihr späteres Leben.

    Sportunterricht und seine Langzeitfolgen

    Denn zum Leistungsdruck kommt oft die Angst, vor der Klasse bloßgestellt zu werden. Schulsport bedeutet, den eigenen Körper zeigen und mit ihm umgehen zu müssen. Wer nicht so schnell rennt oder weit springt wie die anderen, empfindet schnell Scham und Unsicherheit. Schmidt ist überzeugt, Niederlagen und negative Erfahrungen aus dem Sportunterricht haben einen Einfluss bis ins Erwachsenenalter.
    Seine Einschätzung deckt sich mit einer Umfrage des Onlinemagazins Krautreporter. Die Befragung ergab, dass 80 Prozent derjenigen, die Schulsport als belastend und in vielen Situationen sogar als beschämend und demütigend empfanden, auch später keine Freude an Sport und Bewegung haben. Sie leben also langfristig weniger gesund.
    Deshalb sieht Dominic Ullrich, Vizepräsident Jugend des Deutschen Leichtathletik-Verbandes, die Lehrkräfte in der Pflicht, ihren Unterricht so zu gestalten, dass auch in einer sportlich heterogenen Klasse alle Erfolgserlebnisse haben können. Das sei schließlich die große Stärke des Schulsports: „Es gibt kein Fach, das mehr Selbstwirksamkeit als Erfahrung ermöglicht als der Sport.“

    Schulen als Bewegungsorte

    Auf dem Lehrplan stehen vielerorts noch immer die Klassiker: Leichtathletik, Geräteturnen, Schwimmen und Ballsportarten. Aber worum geht es beim Sportunterricht überhaupt? Was sollen Lehrkräfte den Schülerinnen und Schülern in der Turnhalle, auf dem Sportplatz und in der Schwimmhalle vermitteln?
    Aus Sicht von Arne Schmidt vor allem eines: Freude an der Bewegung – auch nach Ende der Unterrichtsstunde. Den Schülerinnen und Schülern müsse eine „richtige“ Verbindung zum Sport vorgelebt werden, sodass sie sich auch nach der Schule oft und gerne bewegen. 
    Und das scheint aktuell drängender denn je. Denn Kinder in Deutschland bewegen sich zu wenig. Zu diesem Ergebnis kommt etwa ein Bericht der Stiftung Kindergesundheit. Demnach erreichen nur etwa zehn Prozent der Mädchen und 20 Prozent der Jungen die von der Weltgesundheitsorganisation (WHO) empfohlenen 60 Minuten Bewegung pro Tag. 15 Prozent der deutschen Kinder gelten zudem als übergewichtig.
    Die Autoren sehen die Schulen in der Pflicht. Schulen müssten ihre Potenziale als Bewegungsorte ausschöpfen, um physische Aktivität zu fördern und so „den Grundstein für lebenslange Gesundheitsgewohnheiten“ zu legen, heißt es in dem Bericht.

    Doppelauftrag des Sportunterrichts

    Aus Sicht von Dominic Ullrich geht es im Schulsport zudem um mehr als Bewegung. Schülerinnen und Schüler sollen sich ausprobieren und Erfahrungen sammeln. Sport sei „ein motorisches, ein soziales und ein kulturelles Betätigungsfeld“, sagt Ullrich und verweist auf Fertigkeiten wie Teamkompetenz und Kooperationsfähigkeit.
    Damit Schulsport seine Potenziale ausschöpfen kann, könne man sich an der Erfolgsformel, den sogenannten „Fünf B“, orientieren: „Kinder und Jugendliche bewegen, begeistern und beteiligen, um sie damit zu bilden und zu binden.“
    Sportpädagogik-Professorin Antje Klinge von der Ruhr-Universität Bochum spricht vom Doppelauftrag des Sports: Es gehe im Unterricht nicht nur um die Frage, wie erlerne ich verschiedene Bewegungsarten, sondern auch um Persönlichkeitsentwicklung. Also um Erziehung zum Sport ebenso wie um Erziehung durch Sport. Letzteres komme jedoch an vielen Schulen zu kurz.
    Klinge fordert darüber hinaus einen stärkeren Fokus auf den Körper und seine Möglichkeiten. Schülerinnen und Schüler sollen vermittelt bekommen, sich in ihrer Körperlichkeit anzunehmen. Angesichts der „Instagramisierung“ aktueller Körperbilder hält sie es für ein wichtiges Ziel des Schulsports, dass die Kinder und Jugendlichen lernen, sich in ihren Körpern wohlzufühlen.

    Alternativen zum Schneller-Höher-Weiter-Maßstab

    Wenn also Sportnoten bei manchen Schülerinnen und Schülern für Stress statt Motivation sorgen, wäre es dann nicht sinnvoll, auf eine solche Leistungsbewertung zu verzichten? Schmidt ist überzeugt, es brauche zumindest ein Umdenken. Denn: „Wer nur wegen der Note Sport treibt, der macht das ja nicht freiwillig.“ Um aber nachhaltig Freude an Bewegung zu wecken, brauche es „faire Noten" statt Frust.
    Er fordert deshalb, Leistungsbewertungen nach dem Schneller-Höher-Weiter-Maßstab für niedrige Jahrgangsstufen abzuschaffen und jüngere Schülerinnen und Schüler stattdessen nach Kompetenzen wie Einsatzbereitschaft und Teamfähigkeit zu beurteilen. Auch Sportpädagogik-Professorin Klinge hält Noten für Engagement, Mitarbeit und Bemühen für eine sinnvolle Bewertungsalternative.

    Faire Noten statt Frust

    In höheren Jahrgangsstufen fordert Schmidt „fairere und vergleichbare Bewertungen“. Dafür müssten die körperlichen Voraussetzungen der Kinder und Jugendliche berücksichtigt werden, zum Beispiel die Körpergröße beim Hochsprung. Ähnlich argumentiert Dominic Ullrich: Wer „faire Noten“ möchte, müsse entsprechend „faire Inhalte“ anbieten. Sprich die Stärken und Schwächen der Kinder und Jugendlichen einbeziehen und ihre individuellen Fortschritte bewerten.
    Noten im Sport ganz abzuschaffen, sieht Ullrich allerdings kritisch. Auch Nils Neubauer von der Universität Münster warnt vor einer Abwertung des Unterrichtsfachs, würde nur im Sport auf eine Leistungsbewertung verzichtet.

    Individueller Fortschritt

    Wie Ullrich plädiert auch Neubauer dafür, die persönliche Entwicklung der Schülerinnen und Schüler zu beurteilen, statt Noten nach starren Leistungstabellen zu vergeben. „Wenn das passiert, weil ich eine gut ausgebildete Lehrkraft habe, dann tut Leistung nicht weh, sondern macht Spaß.“
    Auch Helga Leineweber, die an der Deutschen Sporthochschule in Köln Sportdidaktik und Sportunterricht lehrt, hält den Leistungsgedanken an sich nicht für falsch. Allerdings, betont sie, müsse Leistung anders ausgelegt werden, etwa indem Kooperations- und Gruppenleistungen anerkannt würden.
    Aus Sicht von Ullrich und Neubauer lautet das Schlüsselwort: Partizipation. Neubauer schlägt vor, zusammen mit den Schülerinnen und Schülern festzulegen, welche Leistungen wann und nach welchen Kriterien bewertet werden sollen. Auch was den Unterrichtsinhalt angeht, sei Mitbestimmung möglich, etwa indem gemeinsam entschieden wird, was die Klasse im Sportunterricht macht oder indem Schülerinnen und Schüler zwischen verschiedenen Sportkursen wählen können.

    Modellversuch: Schulsport ohne Noten

    Am Montessori-Schulzentrum in Leipzig wird seit gut einem Jahr getestet, ob Schulsport ohne Noten funktioniert. Für die fünften und sechsten Klassen wurden die Sportnoten abgeschafft. Stattdessen gibt es nun persönliche Sporthefte und eine Bewertung des individuellen Lernfortschritts der Schülerinnen und Schüler durch die Lehrkräfte.
    Die Idee hinter der neuen Regelung: Die Kinder zu einem lebenslangen Sporttreiben durch Spaß an Bewegung zu motivieren und mehr Fairness mit Blick auf körperliche Unterschiede zu schaffen. Allerdings bedeutet die individuelle Betreuung mehr Aufwand für die Lehrkräfte, erklärt Sportlehrerin Anne Korn. Ein motiviertes Kollegium sei deshalb die Voraussetzung für solche alternative Bewertungen.
    Am Montessori-Schulzentrum ist man überzeugt: Der Aufwand lohnt sich. Schulleiter Sebastian Heider zieht eine positive Bilanz. Von den Eltern komme viel Zuspruch, eine große Diskussion um den Verlust von Leistung und Wettkampf sei weitestgehend ausgeblieben. 2026 sollen die Schulversuche in Sachsen ausgeweitet und an rund 20 Gymnasien und Oberschulen alternative Bewertungsmethoden ausprobiert werden.

    irs