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Sprachblockaden
Anti-Stotter-Camp statt Strandurlaub

Viele Jugendliche verbringen die Sommerferien im Süden, am Badesee oder auf der Couch. An der Universität Hannover nutzen 15 junge Menschen dagegen die freie Zeit, um fließend Sprechen zu üben - denn sie sind Stotterer.

Von Torben Hildebrandt | 06.08.2014
    Ein geöffneter Frauenmund
    Sprechen, ohne zu stottern: Das wollen die Teilnehmer des Sommercamps erreichen. (dpa / picture alliance)
    "Stell Dir vor, Du bist ein Saurier und verteidige Dein Revier." Das ist die Aufgabe an diesem Morgen. 15 junge Leute stapfen durch den Seminarraum, sie rudern mit den Armen, verlagern ihr Gewicht nach vorne und hinten und geben urige Laute von sich.
    Rolf Bindel steht inmitten der "Saurier" und gibt Anweisungen. Er ist Professor für Sprachbehindertenpädagogik und hat das Sommercamp vor zwölf Jahren erfunden.
    "Baut Euch groß auf! Ihr wollt ja der stärkere sein. Uuuuaahh!"
    Was für Außenstehende seltsam aussieht, ist Teil der Therapie: Mit dem Saurier-Trick will Rolf Bindel erreichen, dass die Jugendlichen und jungen Erwachsenen locker werden, dass sie Ballast abschütteln. Auch Daniel Tegtmeyer ist in die Rolle des Dinos geschlüpft. Daniel heißt eigentlich anders, er möchte nicht, dass sein Arbeitgeber ihn erkennt. Der 30-Jährige stottert seit dem Kindesalter. Das Sommercamp besucht er schon seit Jahren:
    "Mein Sprechen verbessert sich halt hier sehr stark. Und im normalen Umfeld wird es schnell wieder schlechter. Und deswegen nehm ich wieder teil. Weil es eben hier eine Möglichkeit ist, entspannt zu sprechen und was mit in den Alltag zu nehmen. Und das sind schöne Tage."
    Das Stottern verursacht Stress
    Im Camp ist das Stottern wie weggezaubert. Daniel konzentriert sich auf die richtige Atmung, er macht lange Pausen. Im richtigen Leben hat er dazu kaum Zeit. Wenn er mit Freunden diskutiert oder Einkaufen geht - dann wird es hektisch:
    "Das Problem ist, das man nicht ausreden kann und ständig unterbrochen wird. Es ist auf jeden Fall ein schlechtes Gefühl und ich schäme mich auch dafür, es verursacht auf jeden Fall Stress."
    Das Sommercamp für junge Menschen, die stottern, ist eine Art Biotop. Den 15 Teilnehmern stehen 18 Therapeuten und Studenten gegenüber. In den Gruppen- und Einzeltherapien braucht niemand Angst zu haben, Stottern ist hier normal. Die Teilnehmer übernachten im Pfarrhof des kleinen Ortes Bergkirchen. Die Gruppe frühstückt zusammen, dann sind fünf bis sechs Stunden am Tag Therapie. Und später stehen alle zusammen am Grill oder singen Karaoke. Das Abendprogramm ist Teil des Konzepts, sagt Jana Pflughoft vom Institut für Sonderpädagogik der Uni Hannover:
    "Das ist ja gerade das Wichtige in unserem Camp. Dass die Teilnehmer das Erlernte vom Tag umsetzen können - in der Kommunikation mit den anderen Teilnehmern, aber auch mit den Teamern."
    Sprachblockaden lösen
    Einer dieser Teamer ist Patrick Wurster. Der Sprachtherapeut ist barfuß unterwegs, er trägt Shorts und T-Shirt - und übt mit den Teilnehmern, Sprachblockaden zu lösen:
    "Dann haben wir den Hals. Das sind die Vokale. Wenn der -ächz- hier zugeht, dann müsst ihr über eine offene Atmung ..."
    Die Übungen haben Erfolg: Jan Dierks zum Beispiel während der ersten drei Tage in Bergkirchen erst ein einziges Mal gestottert. Er hat Probleme mit den K-,T- oder P-Lauten - und zwar immer dann, wenn er nur ein Wort und keinen ganzen Satz sprechen muss. Beispiel Currywurst:
    "Das wäre dann wirklich... K-K-K-K-K-Currywurst. Wenn man an der Theke etwas bestellt. Wenn man auf einem Fest eine Currywurst bestellt, dann sagt man ja keinen Satz. Weil hinter einem eine lange Schlange ist. Dann kommt es auf das Wort an: Currywurst. Und das würde dann nicht funktionieren."
    Im ganzen Satz kann Jan Dierks besser mit der Atmung arbeiten und mit den Pausen zwischen den Worten spielen. Der 30-Jährige ist zum dritten Mal im Sommercamp. Sonst arbeitet er im Bauamt in Westerstede im Ammerland. Im Pfarrhof sitzen Schüler neben Berufstätigen. Jeder zweite Besucher muss nicht mehr wieder kommen. Für Professor Rolf Bindel sind das Glücksmomente.
    "Das Versprechen, dass es jetzt endgültig geheilt ist, das kann ich nicht machen. Aber wir haben andererseits tatsächlich Fälle, wo es geheilt ist."
    Wenn die Teilnehmer am Wochenende wieder nach Hause fahren, sind die Übungen nicht vorbei: Sie sind mit ihren Therapeuten zum Skypen verabredet. Das hilft, die Erfahrungen aus Bergkirchen ins richtige Leben mitzunehmen.