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Sprachkritik
"Wer Wende sagt, sagt eben nicht Revolution"

Der Rechtsphilosoph Rolf Gröschner ist ein kritischer Hörer des Deutschlandfunks. Ihm missfällt, dass - auch in den 89er-Geschichten aus Tag für Tag - von Wende die Rede war. Damit bleibe unerwähnt, dass es sich um eine Freiheitsrevolution gehandelt habe.

Rolf Gröschner im Gespräch mit Christiane Florin | 08.11.2019
9. November 1989, Menschen stehen auf der Berliner Mauer vor dem Brandenburger Tor und feiern den Mauerfall
9. November 1989, Menschen stehen auf der Berliner Mauer vor dem Brandenburger Tor und feiern den Mauerfall (© mauritius images/Rosseforp/imageBROKER)
"Mit der heutigen Tagung werden wir eine Wende einleiten. Werden wir vor allem die politische und ideologische Offensive wieder erlangen." (Egon Krenz)
Christiane Florin: Egon Krenz sagte das am 18. Oktober 1989 nach seiner Wahl zum SED-Generalsekretär. "Wende" – ein Wort, das Karriere machte und das bis heute verwendet wird für die Ereignisse 1989/90. In unserer Reihe mit 89er Glaubensgeschichten haben Sie es gehört, in vielen Anmoderationen hören Sie es auch.
Rolf Gröschner hält diese Wortwahl für einen Fehler und hat uns das per Mail wissen lassen. Rolf Gröschner war Professor für öffentliches Recht und Rechtsphilosophie in Jena. Vor einigen Monaten war er schon einmmal mein Gesprächspartner, denn er beitreibt den philosophischen Podcast "Freiheitsdialog". Ich habe ihn gestern interviewt. Herr Gröschner, warum sollten wir nicht so frei sein, das Wort "Wende" zu verwenden?
Rolf Gröschner: Weil dieses Wort das Geschehen auf den Straßen 1989 und die Wirkung, nämlich die Wirkung einer Revolution, verschweigt. Diese Revolution in der DDR – ich maße mir als Wessi nicht irgendeine Besserwisserei an -, es ist die Revolution nicht der Deutschen, sondern der Deutschen in der DDR. "Wende" ist dafür gänzlich unangemessen. Dafür nenne ich drei Gründe, die sich aus den Antworten auf drei ganz einfache Fragen ergeben:
Erstens: Wer hat das Wort erfunden? Zweitens: Was hat er damit gemeint? Und drittens: Wie wirkte es auf die, an die adressiert war, auf die, die es anging?
"Sind wir die Fans von Krenz?"
Florin: Egon Krenz hat es erfunden, das haben wir vorhin schon gehört.
Gröschner: Egon Krenz hat es erfunden am 18. Oktober 1989, indem er eine "Wende" versprach, mit der er die politische und ideologische Offensive wiedergewinnen wollte. "Wir", sagte er, "werden eine Wende einleiten." Und dieses "Wir" war natürlich das "Wir" der Parteifunktionäre. Er, Egon Krenz, war der letzte Generalsekretär der SED und oberster Repräsentant eines Regimes, das seine Bürger buchstäblich eingemauert hat. Und das auf Flüchtende mit einem Schießbefehl, - den Krenz geleugnet hat -, reagiert hat.
Egon Krenz als letzter Generalsekretär des ZK der SED im Herbst 1989 vor der Presse.
Der Begriff der "Wende" stammt von SED-Generalsekretär Egon Krenz (picture-alliance/ ZB / Peter Kroh)
Florin: Nun habe ich natürlich nachgeschaut, wo das Wort herkommt, - klar, von Egon Krenz -, aber auch, welche Entwicklung es dann genommen hat, und fand in einem Buch, das Germanistinnen und Germanisten herausgegeben haben, mit dem Titel "Schlüsselwörter der Wendezeit", die nicht ganz unerhebliche Information, dass dieses Wort zwar von einem Vertreter des DDR-Systems stammte, dass es aber dann von den Menschen auf der Straße sofort umgedeutet und in ihrem Sinne gedeutet wurde. Also es gab zum Beispiel die Forderung auf Transparenten: "Harte Wende ist jetzt Pflicht, Kurve kriegen reicht uns nicht". Wie sehen Sie diesen Wandel?
Gröschner: Ich glaube, dass es insbesondere in der Bürgerrechtsbewegung die maßgeblicheren Stimmen dafür gibt, dieses Wort von Egon Krenz eben nicht weiter gebrauchen zu sollen. Ich darf Rainer Eppelmann zitieren, der in einer für mich sehr überzeugend geschriebenen Analyse die Frage stellte: Sind wir die Fans von Egon Krenz? Ich verstehe Ihre Frage, Frau Florin, möchte jetzt aber als Wessi nicht zwischen denjenigen Gruppierungen der DDR, die für das Wort sind und denjenigen, die dagegen sind, irgendwie mich entscheiden. Ich bin emeritierter Staatsrechtslehrer und Rechtsphilosoph und habe in meinen Sprachspielen – Wittgenstein lässt grüßen! - eine ganz eigene Vorstellung davon, wie man historische Momente bezeichnen muss. Es ist für mich überhaupt keine Frage, dass dieses Geschehen des unblutigen Umsturzes in der DDR eine Revolution ist - und zwar eine Freiheitsrevolution im Sinne der großen Aristotelikerin Hannah Arendt.
"Die Sprachliche Sensibilität geht verloren"
Florin: Und warum verfing dieser AfD-Wahlslogan "Vollende die Wende"?
Gröschner: Ich halte das für eine wirklich peinliche Dummdreistigkeit...
Florin: Aber es hat ja gewirkt.
Gröschner: Vielleicht muss man sagen, dass sprachliche Sensibilität nicht so sehr weit verbreitet ist. Das ist ein gesamtdeutsches Phänomen: Es wird zu wenig gesprochen, in den Familien, in den Schulen und auch in der Universität geht eine Sensibilität für Sprache verloren.
Florin: Wie waren die Reaktionen in Ihrer Zeit als Professor in Jena, wenn Ihr Gegenüber das Wort "Wende" benutzt hat und Sie gesagt haben: Moment mal, Widerspruch! Ich würde ein anders Wort verwenden: "Revolution"?
Gröschner: Ich habe das in aller Deutlichkeit in den Hörsälen geäußert. Vielleicht war es so, dass die Funktion des Professors dazu geführt hat, dass das nicht zu Widerspruch geführt hat. Ich habe dazu auch ein Buch mit dem Historiker Wolfgang Reinhard herausgegeben, "Tage der Revolution – Feste der Nation". Ich bin bemüht, die Sensibilität dafür zu wecken, was man, wenn man "Wende" sagt, nicht sagt: Man sagt eben nicht "Revolution". Und dieses Revolution braucht den Vergleich mit der amerikanischen 1776 und der französischen 1789 nicht zu scheuen!
"Mir geht es um den öffentlichen Gebrauch, auch in den Medien"
Florin: Wir haben in dieser Woche in "Tag für Tag" fünf Geschichten von Menschen gehört, die darüber gesprochen haben, wie das Jahr 1989 ihr Leben – und da wir eine Religionssendung sind – ihren Glauben verändert hat. Und einige dieser Gesprächspartnerinnen und Gesprächspartner haben selber von "Wende" gesprochen, weil sie damit, glaube ich, sagen wollten, sie haben eine völlig neue Perspektive gewonnen, auch auf ihren Glauben. Sie haben es als sehr tiefen Wandel, als Einschnitt in ihr Leben empfunden. "Revolution", das Wort, das Sie vorschlagen, wird viel vorsichtiger verwendet. Vielleicht auch deswegen, weil die Menschen sich nicht selber so als Revolutionär gesehen haben, sondern auch das Gefühl hatten, einer Veränderung ausgesetzt gewesen zu sein, die sie nicht alleine in der Hand hatten.
Gröschner: Das kann ich natürlich hundertprozentig nachvollziehen. Ich bin nicht der Besserwessi, der jetzt für den privaten Gebrauch sozusagen, für die Beschreibung der eigenen Biografie, der eigenen Verstricktheit in Geschichten vorschreiben möchte, wie man dieses Geschehen zu nennen hat. Mir geht es darum, dass im öffentlichen Gebrauch des Wortes, insbesondere in den Medien, so selbstverständlich an einer Stelle, an der "Revolution" angemessen und angezeigt wäre, "Wende" gesagt wird.
"Eine Revolution kann nicht 'friedlich' sein"
Florin: Frank Richter, der Theologe, inzwischen Politiker, der 1989 katholischer Priester in Dresden war, hat davon erzählt, dass er dafür gebetet hat, dass die Proteste ohne Gewalt blieben - keine Gewalt, "Friedliche Revolution". Das ist ja auch ein Wort, das wir Journalistinnen und Journalisten, wir von den Medien, häufig verwenden. Auch oft als dezidierte Entscheidung gegen das Wort "Wende". Was stört Sie denn jetzt an der "Friedlichen Revolution"? Das verwenden Sie ja auch nicht?
Gröschner: Das ist nun etwas, was nun wirklich eine Fachsprache, nämlich die Fachsprache der Staatsrechtslehre, der Staatstheorie und der Rechts- und Staatsphilosophie betrifft: In der Verbindung "Friedliche Revolution" ist das Adjektiv "friedlich" die Eigenschaft einer Revolution. Eine Revolution kann aber, und jetzt bin ich als Jurist wirklich ein Haarspalter, eine Revolution kann nicht "friedlich" sein, weil es seit Thomas Hobbes' "Leviathan" (1651) der Zweck des Staates schlechthin ist, Frieden auf Erden zu gewährleisten.
In dieser Tradition haben die Revolutionäre auf den Straßen nicht ihren Frieden mit dem Staat gemacht, sondern sie haben den Frieden mit dem Staat aufgekündigt. Deswegen ist nach Revolutionsforschern anerkannt, dass es ein Widerspruch in sich ist, wenn man sehr genau betrachtet, was "Friedliche Revolution" heißt. Ich bestreite selbstverständlich nicht, dass die Demonstranten friedlich waren. Aber "Friedliche Demonstranten" ist eine andere Wortzusammensetzung als "Friedliche Revolution". Sie waren friedlich, aber der Erfolg ihrer Revolution zeigt: Es war ein Umsturz, der den Frieden mit dem Staat aufgekündigt hat.
Die Sprache formt das Denken
Florin: Sie haben jetzt mehrfach für sprachliche Sensibilität plädiert – was verändert sprachliche Sensibilität?
Gröschner: Sprache ist das Kleid unserer Gedanken. Und wenn wir jetzt am Samstag, den 9. November an die Revolution in der DDR 1989 denken, dann, finde ich, ist es ein Feiertag einer Freiheitsrevolution. Natürlich weiß ich um die Ambivalenz des 9. November. Aber wenn wir jetzt mal diese Freiheitsrevolution feiern, dann kleiden wir uns gewissermaßen festlich. Und dieses festliche Kleid ist in der Sprache "Freiheitsrevolution", "Unblutiger Umsturz" - es ist nicht "Wende" und es ist, pardon, auch nicht "Friedliche Revolution".
Der Jurist Rolf Gröschner und der Religiongspädagoge Wolfgang Mölkner und sind die Köpfe hinter der Homepage "Freiheitsdialog".
Professor emeritus Rolf Gröschner (Deutschlandradio/Eva Mölkner)
Florin: Vielen ist nicht so zum Feiern zumute – wenn sie an die Ereignisse vor 30 Jahren denken schon, aber angesichts der Situation heute eben dann nicht...
Gröschner: Ich habe die Ambivalenz des 9. November angesprochen: Es gibt ja nicht nur den 9. November 1989...
Florin: Na, ich meinte aber jetzt schon die Ambivalenz ja auch des neunten November 1989.
Gröschner: Ich stimme Ihnen natürlich zu: Wenn ich jetzt eine Patentlösung dafür hätte, wie unsere Welt gerettet werden kann. Dann hätte ich was anderes verdient als ein schönes Interview mit Ihnen...
Florin: (lacht) Ja, aber nach der Weltrettung habe ich nicht gefragt, sondern nach dem Zusammenhang zwischen sprachlicher Sensibilität und gesellschaftspolitischem Diskurs.
Gröschner: Wenn wir nicht mehr sensibel mit unserer Sprache, unserem geliebten Deutsch umgehen, dann werden natürlich auch die Gedanken weniger scharf sein. Die objektiv bestehenden Probleme der Angleichung auch der Lebensverhältnisse in Ost und West und die Fragen, wie gehen wir mit rechten und linken Rändern unseres politischen Spektrums um: All dies ist schwierig genug – es wird aber noch schwieriger, wenn wir nicht sprachlich sensibel versuchen, dort zu differenzieren, wo Unterschiede gemacht werden müssen.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.