Freitag, 29. März 2024

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Sprachwissenschaftler Eisenberg: Deutsche Sprache so differenziert wie noch nie

Der Sprachwissenschaftler Peter Eisenberg hat der deutschen Sprache einen guten Gesamtzustand bescheinigt. Sie gehöre zu den "bestausgebauten Sprachen der Erde". Der Gebrauch des Deutschen lasse manchmal zu wünschen übrig. Daran müsse gearbeitet werden. Selbsternannten Sprachrettern wie dem Autor Bastian Sick ginge es jedoch nicht um die Sprache, sondern um "Entertainment", kritisierte Eisenberg.

Moderation: Sandra Schulz | 11.03.2008
    Sandra Schulz: "Hier werden sie geholfen!" Dieser Satz ist grammatikalisch falsch. Richtig wäre die Wendung mit Dativobjekt, mit dem so genannten indirekten Objekt. "Hier werden sie geholfen", ein Werbespruch, der heute in aller Munde ist. Zum Sanierungsfall erklärte die Wochenzeitschrift "Die Zeit" die deutsche Sprache im vergangenen Jahr. Mit seinem Bestseller "Der Dativ ist dem Genitiv sein Tod" suggeriert der Autor Bastian Sick Ähnliches. Wie berechtigt ist die Sorge um die Verfassung unserer Sprache? Dieser Frage geht die Jahrestagung des Instituts für deutsche Sprache nach. Heute beginnt sie in Mannheim. Dabei ist auch Professor Peter Eisenberg, emeritierter Sprachwissenschaftler und Autor des Duden-Bandes Nr. 9 "richtiges und gutes Deutsch". Guten Morgen Herr Eisenberg!

    Peter Eisenberg: Guten Morgen Frau Schulz.

    Schulz: Was ist denn schlechtes Deutsch?

    Eisenberg: Es gibt viele Formen von schlechtem Deutsch: zum Beispiel die Form, dass man den so genannten Nominalstil pflegt oder dass man etwas Überflüssiges sagt, dass man zu viele Worte macht, oder dass man grammatische Fehler macht.

    Schulz: Jetzt feiert der Autor Bastian Sick ja große Erfolge. Er hat sogar einen Weltrekord aufgestellt mit der größten Deutschstunde der Welt. Ist das eine gute oder schlechte Nachricht für die deutsche Sprache?

    Eisenberg: Für die deutsche Sprache ist das im Prinzip gar keine Nachricht. Es geht hier nicht um die deutsche Sprache, sondern es geht um ein Entertainment, das wir ja heute auf sehr vielen Gebieten finden. Wenn der deutschen Sprache etwas zugefügt wird, dann eher ein Schade, aber ich hoffe und glaube, dass das auch nicht der Fall ist.

    Schulz: Warum eher ein Schade, ein Schaden besser gesagt?

    Eisenberg: Na ja, das ist schon ein interessanter Fall, ob wir sagen "ein Schade" oder "ein Schaden", "der Friede" oder "der Frieden". Aber darüber wollen wir uns jetzt nicht unterhalten. Das würde ein bisschen zu lange dauern. Der Schaden könnte dadurch entstehen, dass Herr Sick den Leuten einfach sagt, wie es richtig ist und wie es falsch ist. Das was er ihnen sagt, das stimmt in vielen Fällen nicht mit ihrem Sprachgefühl und auch nicht mit dem Zustand des gegenwärtigen Deutschen überein, sondern das sind Meinungen, die irgendwo herkommen. Niemand weiß genau, woher sie kommen, Herr Sick schon gar nicht. Die werden so unter die Leute gebracht nach dem Motto: Das ist richtig, das ist falsch - richte dich danach, etwas anderes gibt es nicht. So funktioniert eine natürliche Sprache wie das Deutsche nicht.

    Schulz: Bei einem Beispiel, das Sie auch mehrfach besprochen haben, da geht es um diese Wendung "zu Beginn dieses Jahres". Bastian Sick stellt "zu Beginn diesen Jahres" - eine Formulierung, die immer wieder zu hören ist, die auch immer wieder zu lesen ist - als falsch heraus. Was ist daran wiederum falsch, Formulierungen, die grammatikalisch nicht einwandfrei sind, als solche zu brandmarken?

    Eisenberg: Der Fall ist gleich ein etwas komplizierterer. Ich will mal versuchen, ihn einfach zu erklären. "Am Anfang dieses Jahres" ist nicht falsch. Das heißt Herr Sick vertritt in diesem Fall die Meinung, dass etwas richtig ist, was tatsächlich richtig ist. Der Fehler, den er macht, besteht darin, dass er sagt, "am Anfang diesen Jahres" sei falsch. Es gibt eine allgemeine Entwicklung im Deutschen, die dazu führt, dass wir möglichst in einer solchen so genannten Nominalphrase nur ein "s" haben. Das "s" ist ein sehr starker Konsonant. Den hört man gut und von dem will man nicht zu viele in einer Nominalphrase - möglichst nur einen. So hatten wir vor 200 Jahren noch solche Wendungen wie "ich bin gutes Mutes" oder "sie kommt schnelles Schrittes". Da sehen Sie genau dieselbe Entwicklung. Heute sind wir guten Mutes und kommen schnellen Schrittes. Das heißt das eine "s" haben wir durch ein "n" ersetzt. Das "n" ist wesentlich schwächer, wesentlich allgemeiner verwendbar und genau derselbe Prozess spielt sich hier ab bei "am Anfang diesen Jahres". Sprecher und Sprecherinnen mit einem sehr gut entwickelten Sprachgefühl benutzen diese Wendung vornehmlich. Das wissen wir aus empirischen Erhebungen. Und es besteht überhaupt kein Grund dafür, dass sie sich von Herrn Sick sagen lassen sollen, dieses sei falsch oder schlechtes Deutsch. Im Augenblick sind beide Formen weit verbreitet. Beide sind richtig. Und die Vorstellung, dass immer nur eine einzige richtig sein könnte, gehört zu den allgemeinen Vorurteilen, die man als Sprachwissenschaftler nur bekämpfen kann. Das ist nicht der Fall. Auch in vielen anderen Fällen ist es nicht so. Wir Sprachwissenschaftler wissen ungefähr, wie groß die Variationsbreite im Deutschen ist. Und wenn wir Leuten wie Herrn Sick die Fälle erst mal nennen würden, die er bearbeiten könnte, dann hätte er unendlich viel zu tun. Wir haben in sehr, sehr vielen Fällen verschiedene Möglichkeiten, uns auszudrücken, und so auch in diesem. Und warum sollen wir den Leuten diese Ausdrucksmöglichkeiten wegnehmen?

    Schulz: Wie erklären Sie sich aber, dass Bastian Sick so einen großen Erfolg hat? Die Leute scheinen sich ja nach dieser Eindeutigkeit zu sehnen.

    Eisenberg: Es gibt dafür eine ganze Reihe von Gründen. Einer ist, dass die Sprache etwas ist, was in den vergangenen Jahren immer wichtiger geworden ist für das Selbstverständnis der Leute. Auch im Rahmen der deutschen Identitätsdebatten spielt ja etwa die Fremdwort-Problematik eine immer größere Rolle. Die Leute suchen auf allen möglichen Gebieten Sicherheit und wenn jemand kommt und sagt, ich sage euch wie es richtig ist, ich biete euch Sicherheit, und wenn er das dann auch noch auf eine ganz nette Form macht, so dass man sich gut unterhalten fühlt, und wenn man außerdem noch eine riesige Medienmacht im Hintergrund hat mit einer gewaltigen Werbekapazität. Sie dürfen ja nicht glauben, dass Herr Sick sein Buch geschrieben hat und dann wurde das ein Bestseller. So war das nicht. Er ist Angestellter oder arbeitet bei "Spiegel online". Dahinter steht eine riesige Medienmacht und wenn sie heute in eine große Buchhandlung kommen, dann sehen sie erst mal: Sick, Sick, Sick steht überall.

    Schulz: Heißt das denn auch, dass die Deutschen nicht das richtige Verhältnis zu ihrer Sprache haben?

    Eisenberg: Das heißt erst mal, dass die Leute sich schon in einem gewissen Umfang für ihre Sprache interessieren. Es wird den Deutschen ja oft vorgehalten, dass sie ein gebrochenes Verhältnis zu ihrer Sprache haben, dass sie ihrer Sprache nicht loyal genug gegenüber sind. Das stimmt im allgemeinen nicht. Die Deutschen haben ihre Sprache eigentlich ganz gern. Ich glaube nur nicht, dass sich das darin ausdrückt, dass sie Herrn Sick nachlaufen. Es drückt sich zum Beispiel darin aus, dass sie eine vom Staat verordnete Orthographie-Reform nicht akzeptieren. Da hat wirklich das Volk gesprochen und gesagt nein, das wollen wir nicht. Das ist ein Eingriff in unsere Sprache. Das nehmen wir nicht hin vom Staat. An so etwas zeigt sich die Sprachloyalität der Deutschen, aber nicht darin, dass sie nun zu Herrn Sick oder zu anderen Entertainern laufen. Ich meine alle Gegenstände, die im Entertainment behandelt werden, müssten ja dann Gegenstände sein, die die Leute sehr lieben. Das glaube ich eigentlich nicht.

    Schulz: Und insgesamt gesprochen - das Lamento wird ja allenthalben geführt -, wie steht es um die Verfassung der deutschen Sprache?

    Eisenberg: Da muss man unterscheiden. Die deutsche Sprache selbst als ein System, das ein Vokabular hat, das eine Syntax hat, das Ausdrucksmöglichkeiten bereitstellt, ist so groß und so umfangreich und so differenziert wie es noch nie war. Die deutsche Sprache ist eine der bestausgebauten Sprachen der Erde. Sie bietet uns eigentlich alles, was wir uns nur wünschen können. Aber der Gebrauch, den wir von ihr machen, der ist nicht immer gut genug. Daran müssen wir arbeiten - ganz besonders in der Schule, aber auch in den Medien. Das gehört auch zu den Aufgaben, die sich das Institut für deutsche Sprache stellt, bei dem wir ja ab heute zu Gast sind. Daran müssen wir arbeiten, aber wir dürfen nicht in den Fehler verfallen, dass wir sagen, die deutsche Sprache ist schlecht oder die deutsche Sprache verfällt. Das ist wirklich nicht der Fall!

    Schulz: Ein Plädoyer gegen Kulturpessimismus war das von Professor Peter Eisenberg. Vielen Dank!