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Sprecher der Jesiden zu Sacharow-Preis
"Eine Auszeichnung für alle IS-Geiseln"

Noch ungefähr 3.200 Jesidinnen befänden sich in den Händen der IS-Dschihadisten, sagte der Sprecher des Zentralrates der Jesiden in Deutschland, Holger Geisler, im DLF. Der Sacharow-Preis für Nadia Murad und Lamia Adschi Baschar, die von IS-Kämpfern versklavt worden waren, erinnere auch an deren Schicksal.

Holger Geisler im Gespräch mit Christoph Heinemann | 28.10.2016
    Der Sprecher des Zentralrates der Jesiden in Deutschland, Holger Geisler.
    Der Sprecher des Zentralrates der Jesiden in Deutschland, Holger Geisler. (Deutschlandradio - Andreas Buron)
    Es sei eine einfache Rechnung, die der IS aufgemacht habe, erklärte Geisler im Deutschlandfunk: Eine ganze Generation sollte verloren gehen, indem man diese Frauen und Kinder entführe. Doch diese Rechnung sei "Gott sei Dank" nicht aufgegangen. Nach Deutschland hätten es eine ganze Menge Jesidinnen geschafft - dank eines Aufnahmeprogramms der Landesregierung Baden-Württemberg, so Geisler. 1.200 Menschen seien es insgesamt. Einige seien im Leben angekommen, andere so stark traumatisiert, dass noch ein langer Weg vor ihnen liege. Flashbacks seien nicht ungewöhnlich.
    Solidarität mit den Opfern der IS-Terrormiliz bedeute, es müsse mehr solcher Aufnahmelager geben wie in Baden-Württemberg. Die befreiten Frauen müssten endlich eine psychologisch-medizinische Betreuung bekommen. Außerdem sollten die Jesiden im Nord-Irak ein Leben mit den gleichen Rechten und Pflichten wie ihre Mitbürger führen können.

    Das Interview in voller Länge:
    Christoph Heinemann: Auch das ist Europa. Zwei von der Terrorbande IS verschleppte und vergewaltigte Jesidinnen erhalten in diesem Jahr den Sacharow-Preis des Europaparlaments. Nadia Murad und Lamiya Aji Bashar, die von der IS-Miliz monatelang als Sklavinnen auch sexuell missbraucht wurden, hätten kaum beschreibbaren Mut und Würde bewiesen, so die Begründung. Die beiden Frauen leben heute teils in Deutschland. Frau Bashar rief die internationale Gemeinschaft zur Solidarität mit den Opfern der Terrorbande IS auf.
    Der Sprecher der Bundesregierung, Steffen Seibert, würdigte die Preisträgerinnen bei Twitter für ihren starken Einsatz für das jesidische Volk.
    Zum Schicksal der beiden Preisträgerinnen nur so viel: Frau Bashar wurde 20 Monate lang festgehalten und mehrfach an Männer verkauft, bis sie schließlich ihren Peinigern entkommen konnte. Auf der Flucht wurde sie schwer verletzt, als eine Landmiene explodierte. Sie erlitt Verbrennungen im Gesicht und verlor ein Auge.
    Am Telefon ist jetzt Holger Geisler, der Sprecher des Zentralrats der Jesiden in Deutschland. Guten Morgen.
    Holger Geisler: Schönen guten Morgen nach Köln.
    Heinemann: Herr Geisler, was bedeutet dieser Preis für die Ausgezeichneten und für alle Jesiden?
    Geisler: Na ja, es bedeutet erst mal für die Ausgezeichneten eine gewisse Anerkennung für die Leiden, die sie über sich ergehen lassen haben, und für den unermüdlichen Kampf, den sie verrichten. Aber zum anderen bedeutet es natürlich erst mal, dass es ein Preis für alle, in IS-Gefangenschaft befindlichen Geiseln ist. Ich erinnere nur daran: 2003 ist der Preis schon mal vergeben worden an Kofi Annan, an Mitarbeiter der UN für die Verstorbenen im UN-Dienst, und genauso sehe ich das auch. Alle Frauen sind damit gewürdigt worden und das ist ein ganz, ganz wichtiges Zeichen.
    "Sie leben unter erbärmlicchsten Bedingungen"
    Heinemann: Schauen wir in die Region. Der IS befindet sich ja auf dem Rückzug. Leben noch Jesiden im Nordirak und wenn ja unter welchen Bedingungen?
    Geisler: Ja, es leben noch sehr, sehr viele Jesiden im Nordirak, weil es gibt ja keine Aufnahmeprogramme, egal wo auf der Welt, und sie leben unter erbärmlichsten Bedingungen. Immer noch befinden sich über 400.000 Jesiden, das heißt über 70 Prozent der Jesiden, die im Nordirak leben, in Flüchtlingslagern, an deren Qualität und Ausstattung sich nichts geändert hat. Das ist ein tagtäglicher Kampf ums Überleben.
    Heinemann: Wie viele Menschen befinden sich noch geschätzt in den Händen des IS?
    Geisler: Wir hoffen - und so sage ich das einfach mal -, dass sich noch 3.200 Frauen und Kinder in den Fängen des IS befinden. Wenn sie sich dort nicht befinden würden, wären sie tot.
    "Eine Rechnung, die Gott sei Dank nicht aufgegangen ist"
    Heinemann: Wieso haben es die IS-Terroristen besonders auf die Jesidinnen abgesehen?
    Geisler: Es war eine ganz einfache Rechnung, die Gott sei Dank nicht aufgegangen ist. Sie sind davon ausgegangen, wenn sie diese Frauen und diese Kinder entführen, dass eine ganze Generation verloren geht, dass sie, falls sie tatsächlich irgendwann mal zurückkommen, verstoßen werden aus der Religion, und diese Rechnung ist nicht aufgegangen. Diese Frauen stehen in der Mitte der Gesellschaft und genau da gehören sie auch hin.
    Heinemann: Wie leben denn diejenigen, die dem IS entkommen konnten, zum Beispiel in Deutschland, wenn sie es hierher geschafft haben?
    Geisler: Nach Deutschland haben es ja eine ganze Menge Frauen und Kinder geschafft, dank eines Aufnahmeprogramms, das die Landesregierung Baden-Württemberg aufgelegt hatte. Wir haben hier 1.200 Menschen in Baden-Württemberg, Niedersachsen und Schleswig-Holstein, und auch die leben sehr unterschiedlich. Einige sind wirklich wieder im Leben angekommen, sind Stück für Stück zusammengesetzt worden, und andere sind immer noch so stark traumatisiert, dass es noch ein ganz, ganz langer Weg sein wird.
    Ich selber habe die beiden Preisträgerinnen vor zwei Wochen in Brüssel getroffen, habe mich total gefreut zu sehen, dass wieder Leben in diesen geschundenen Selen und Körpern ist, und trotzdem ist das ganz fragil. Es kann von einer Sekunde auf die andere wieder einen Flashback geben und sie befinden sich seelisch wieder in den Fängen des IS, und das ist natürlich ganz, ganz hart. Und wenn wir dann rüberschauen in den Nordirak zurück: Frauen die befreit worden sind, werden behandelt wie jeder andere Gefangene. Gibt es freie Plätze in Camps, werden sie aufgenommen; gibt es die nicht, müssen sie sehen wo sie bleiben. Das bedeutet unter anderem das Leben auf der Straße.
    "Nur ein Tropfen auf den heißen Stein"
    Heinemann: Frau Bashar hat die internationale Gemeinschaft zu Solidarität mit den Opfern der Terrorbande aufgerufen. Wie ist es um diese Solidarität bestellt, die internationale?
    Geisler: Das habe ich ja gerade gesagt. Das Leben im Nordirak ist nicht besser geworden in den letzten zwei Jahren. Aufnahmeprogramme wie von Baden-Württemberg sind wunderbar, aber sie sind natürlich nur ein Tropfen auf den heißen Stein.
    Heinemann: Was hieße denn Solidarität? Was genau fordern Sie?
    Geisler: Solidarität heißt für mich, dass die Weltgemeinschaft den Begriff Genozid, den sie ja inzwischen anerkannt hat, mit Leben füllt, dass den Preisen, die verteilt worden sind - das war ja nicht nur der Sacharow-Preis, der Europarat hatte ja vorher auch schon den Vaclav-Havel-Preis an Frau Murad überreicht -, dass denen Taten folgen. Und Taten würde für mich heißen, wir sorgen dafür, dass die befreiten Frauen endlich eine vernünftige psychologisch-medizinische Betreuung kriegen und dass die Menschen im Nordirak das bekommen, was ich unter Menschenwürde verstehe: ein Leben mit den gleichen Rechten und gleichen Pflichten wie ihre Mitbürger. Das ist das Mindeste. Nicht mehr und nicht weniger erwarten wir.
    Heinemann: Herr Geisler, Sie haben im August bei uns im Deutschlandfunk den Fall eines damals fünf Jahre alten Jungen geschildert, der mit ansehen musste, wie IS-Terroristen seine Mutter ermordeten. Er lebt heute in Baden-Württemberg, eben in diesem Programm, das Sie angesprochen haben. Sein Vater konnte nach Griechenland fliehen. Da der Junge sich aber nur in diesem "Sonderaufnahmeprogramm" befindet und nicht in einem Asylverfahren, konnte der Vater nicht nach Deutschland kommen.
    Und damit nicht genug: Beim Versuch, sich zu seinem Sohn durchzuschlagen, wurde er in Bulgarien inhaftiert. Wie geht es dem Jungen, wie geht es dem Vater heute?
    Geisler: Dem Jungen geht es genauso schlecht wie beim letzten Interview. Er spricht immer noch kein einziges Wort. Insofern weiß überhaupt keiner, was in diesem kleinen Körper, in dieser kleinen Seele vor sich geht.
    Beim Vater hatten wir gestern ein Vorgespräch geführt, wo ich gesagt habe, an der Lage hat sich nichts geändert. Ich hoffe jetzt einfach, dass wir auch durch die Katholische Kirche und ein paar andere diplomatische Beziehungen jetzt einen Lichtstreifen am Horizont haben, und ich hoffe, dass ich dann vielleicht in der nächsten Woche mal etwas Positives berichten kann. Aber das ist jetzt ganz vorsichtiger Optimismus. Aber wie Sie hören freue ich mich da auch sehr drüber.
    "Es geht darum, pragmatische Hilfe zu leisten"
    Heinemann: Wie reagieren Behörden, wenn Sie ihnen diesen Fall schildern?
    Geisler: Na ja, auf jeden Fall nicht pragmatisch. Ich bekomme immer wieder zu hören, warum etwas nicht geht, und bekomme auch zu hören, was für Fehler gemacht worden sind.
    Das mag alles sein, aber es geht einfach nicht darum, irgendwelche Paragrafen zu benennen oder auszureizen, sondern es geht darum, pragmatische Hilfe zu leisten. Auch das wäre ein Akt der Solidarität. Das Bundesinnenministerium hätte diesen Vater ohne Probleme im Zuge einer Härtefallregelung nach Deutschland holen können. Da gab es aber leider keine Bewegung.
    Heinemann: Das heißt, Steffen Seiberts Würdigung der Preisträgerinnen für ihren starken Einsatz für das jesidische Volk steht kein starker Einsatz der Bundesregierung für einen fünfjährigen Jungen und seinen Vater gegenüber?
    Geisler: Wenn Sie es so ausdrücken wollen, möchte ich Ihnen da nicht widersprechen. Und ich sage es mal so: Wir sind der deutschen Regierung für viele Dinge, die sie für die Jesiden getan hat, zu großem Dank verpflichtet. Gleichwohl könnte viel, viel mehr passieren und müsste viel, viel mehr passieren. Baden-Württemberg sollte da einfach ein Vorbild auch für Berlin sein. Dann wären wir auf einem guten Weg.
    Wenn Sie einfach nur nach Griechenland rübersehen und unter was für menschenunwürdigen Bedingungen dort die Jesiden in der EU leben, dass wir nicht wissen, ob sie den Winter überleben werden, und wir bekommen diese Menschen innerhalb der EU nicht zu ihren Verwandten nach Deutschland, dann ist das schon ein Trauerspiel.
    "Jetzt kommen keine Flüchtlinge mehr, obwohl sie vor den Türen stehen"
    Heinemann: Herr Geisler, ein Jahr wie 2015 werde es nicht wieder geben, werde sich nicht wiederholen. Das hat die Kanzlerin angekündigt. Die Integration wird dauern, das ist inzwischen klar. Sicherheitsexperten sind auch alarmiert. Ist durch die grenzenlose Zuwanderung des letzten Jahres die Bereitschaft gesunken, wirklich Hilfsbedürftige aufzunehmen?
    Geisler: Na ja. Es war ja sicherlich so, dass wir im letzten Jahr von den Ereignissen etwas überrollt worden sind, und ich würde ja d'accord gehen, wenn ich sage, eine unkontrollierte Einwanderung ist nicht möglich. Natürlich müssen wir registrieren wer kommt. Aber es ist jetzt schon absurd, 2015 waren wir überfordert, weil wir die ganze Hardware nicht vorhalten konnten, wir hatten keine Aufnahmeeinrichtungen, wir hatten kein Personal. Jetzt hätten wir das alles, jetzt kommen keine Flüchtlinge mehr, obwohl sie vor den Türen stehen.
    Ich sage nur, auf der Balkan-Route befinden sich mehrere tausend Flüchtlinge, in Griechenland befinden sich über 50.000 Flüchtlinge. Deutschland hat sich zu einer Relocation für über 17.000 Leute aus Griechenland, 10.000 aus Italien bereit erklärt. Von diesen sind bis jetzt keine 200 gekommen. Das ist natürlich dann schon mal überlegenswert, mit welcher Intention da gearbeitet wird.
    Heinemann: Holger Geisler, der Sprecher des Zentralrats der Jesiden. Danke schön für das Gespräch und auf Wiederhören.
    Geisler: Ich bedanke mich bei Ihnen. Auf Wiederhören.
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.