Archiv

Trainer des SSC Neapel
Luciano Spalletti - Meister des Wandels

Zu Beginn der Saison hätte kaum jemand auf den SSC Neapel als Titelkandidaten in der Serie A gewettet. Jetzt ist Napoli 33 Jahre nach dem letzten Titel so gut wie Meister in Italien. Ein Verdienst vor allem des Trainers, Luciano Spalletti.

Von Tom Mustroph | 30.04.2023
Luciano Spalletti, Trainer des SSC Neapel beim Spiel bei Juventus Turin.
Trainer Luciano Spalletti hat beim SSC Neapel eine Meistermannschaft geformt. (IMAGO / Nicolo Campo / IMAGO)
In Neapel ist schon eine Woche lang Feiern angesagt. Nach dem späten 1:0-Erfolg bei Juventus Turin am letzten Wochenende waren auch die letzten Zweifel ausgeräumt, dass der SSC Neapel auf der Zielgeraden noch einmal abgefangen wird. Die Fahrt vom Flughafen durch die nächtliche Stadt gestaltete sich zu einem Triumphzug, wie er woanders erst beim eigentlichen Titelgewinn geschieht.
Der einzige, der auf die Spaßbremse drückte, war Trainer Luciano Spalletti: „Mir gefällt es nicht, vorab zu feiern. Es ist besser, das zu tun, wenn das Ereignis auch eingetroffen ist. Aber das Wichtige ist, was unsere Sportler die gesamte Woche über auch gemacht haben, dass man zusammenhält. Denn wenn man beieinander bleibt, ist es danach die doppelte Freude.“

Viele Abgänge im vergangenen Sommer

Der Zusammenhalt war tatsächlich eine der großen Qualitäten der Mannschaft, die der Trainer in dieser Saison zusammengestellt hat. Und das, obwohl der Aderlass im Sommer groß war. Top-Stürmer Dries Mertens ging weg, Top-Verteidiger Kalidou Koulibaly ebenfalls, und auch der Mittelfeldstratege Fabian Ruiz suchte für mehr Geld das Weite.
Trainer Spalletti klagte nicht darüber. Der Sohn eines Bauern, der selbst ein Weingut betreibt und dort Rebensaft mit fußballtypischen Namen wie „Rote Karte“ und „Zwischen den Linien“ in Flaschen abfüllt, inszeniert sich selbst gern als einen Mann vom Lande, der stoisch mit den Elementen umgeht. „Manchmal heißt es, ich sei ein Bauer. Und ja, das stimmt. Ein Bauer träumt nicht vom Morgen. Denn wenn das Wetter sich ändert und du die Ernte nicht einbringen kannst, sind alle weitreichenden Träume umsonst.“

Aus Randfiguren eine Mannschaft geformt

Ans Aussäen machte sich der Trainer-Bauer Spalletti aber doch. Und der Samen ging auf. Aus Spielern, die niemand zuvor kannte - wie Kvisha Kvaratskhelia -, und solchen, die bei seinen Vorgängern nur Randfiguren waren, formte er ein Team. Eines, das an sich selbst glaubte. Und das Spallettis Vorstellungen von Fußball kongenial umsetzen konnte.
Ein Vertreter des rauschenden Offensivfußballs war Spalletti schon vorher, etwa bei der AS Rom. In Ermangelung eines echten Mittelstürmers erfand er dort die "falsche Neun" mit Francesco Totti. Vor allem aber entwickelte er ein System mit ständigen Positionswechseln. Das nahm er nach Neapel mit. Die Außenverteidiger rücken bei Ballbesitz auf Höhe des zentralen Mittelfeldspielers auf. Die anderen beiden Mittelfeldspieler bieten auf den Halbpositionen weiter vorn Anspielmöglichkeiten für schnelle Dreierkombinationen. Ganz vorn lauert ein Sturmtrio, das in seiner Kombination aus Schnelligkeit, Dribbelstärke und Durchsetzungsvermögen zu den allerbesten in Europa gehört.
Das löst Begeisterung aus, sogar bei Leuten, die sonst nicht viel auf Trainerautoritäten geben. Zum Beispiel bei Antonio Cassano, dem ewigen enfant terrible des italienischen Fußballs : „Das wirkliche Genie ist er: Auf dem Platz, neben dem Platz, wie er arbeitet.“

Kvisha Kvaratskhelia zum Superstar entwickelt

In Neapel verzichtet Spalletti auf sein Markenzeichen der falschen Neun. Er hat ja eine formidable echte Neun mit Torschützenkönig Victor Osimhen.
Vor allem aber ist Spallettis Spielidee geeignet, die Vorzüge des aktuellen Superstars im Team zur Geltung zu bringen: Kvisha Kvaratskhelia. Vom jungen Georgier und dessen Widerstandskraft und Torgefahr ist der Trainer selbst begeistert. Er entwickelt ihn aber auch noch weiter, technisch, taktisch und vor allem mental: „Er verändert jetzt sehr stark auch seinen Charakter. Denn manchmal, wenn du zu gut, zu nett bist, verschafft dir das in dieser Welt keine Vorteile. Deine Halsschlagader muss hervortreten. Und jetzt, wenn er jetzt zum Torschuss ansetzt, sieht man seine Halsschlagader. Als er frisch zu uns kam, war das noch nicht so.“
Der Georgier Kvisha Kvaratskhelia ist unter Luciano Spalletti zum Superstar gereift.
Der Georgier Kvisha Kvaratskhelia ist unter Luciano Spalletti zum Superstar gereift. (IMAGO / Sportimage / IMAGO / Jonathan Moscrop)
Die hervortretende Halsschlagader ist für Spalletti Synonym für Willenskraft. Und neben dem berauschenden Spiel ist es vor allem die mentale Stärke des gesamten Teams, die für Neapel diese Saison so herausragend macht.

Spalletti ist zum Eremiten geworden

Zu verdanken ist das einem Trainer, dem es gelingt, die Freude am Spiel und den Willen zum Sieg gleichermaßen zu vermitteln. Spalletti ist angesichts dieser Aufgabe zum Eremiten geworden. Die Reben in der Toskana müssen ohne ihn auskommen. Denn er ist aufs Trainingsgelände des SSC Neapel gezogen. Er sieht Fußball, wenn er aufwacht. Sein letzter Blick, sein letzter Gedanke vor dem Einschlafen gilt ebenfalls dem Fußball.
Sowie dem, was dieser Trainer auch dieser wilden Stadt geben will, deren Klub er gerade auf neue Höhen führt: „Die Stadt vor Freude verrückt werden sehen – das ist meine Obsession. Dass sie verrückter wird, als sie schon ist. Inzwischen fühle ich mich auch ein bisschen als Neapolitaner. Und jetzt die Stadt in Freude explodieren sehen, ist die Sache, die mir am meisten Freude bereiten und mich glücklich machen könnte.“
Da haben sich eine Stadt, ein Klub und ein Trainer gefunden.