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"Staatenlos" von Shumona Sinha
Ein wichtiger, verstörender Roman

Die bei Kalkutta lebende Politaktivistin Mina ist schwanger, aber unverheiratet; die von Franzosen adoptierte Marie sucht ihre leiblichen Eltern; und Esha, Lehrerin in der Pariser Banlieue, will französische Staatsbürgerin werden: In "Staatenlos" erzählt Shumona Sinha schonungslos über drei Frauen in ganz unterschiedlichen Sinnkrisen.

Von Christoph Vormweg | 01.12.2017
    Buchcover "Staatenlos" von Shumona Sinha, im Hintergrund eine Inderin beim Wäscheaufhängen
    Die drei Protagonistinnen in "Staatenlos" führen ein Leben im "Dazwischen". (Edition Nautilus / unsplash.com / Igor Ovsyannykov)
    Seit ihrem Wut-Roman "Erschlagt die Armen", der den Alltag indischer Asylbewerber in Paris beschreibt, ist Shumona Sinha für ihre unverblümte Provokanz bekannt. Auch ihr neuer Roman "Staatenlos" beginnt mit einem Schocker: Eine Frau liegt vergewaltigt und bis zur Brust verbrannt in ihrem Grab. Sie versucht, sich durch die Lehmschicht freizukämpfen. Hat sie das Unfassbare, dem auch das Baby in ihrem Bauch zum Opfer fiel, überlebt? Diese Frage bleibt lange offen.
    "'Staatenlos' ist ein Roman ohne Umschweife, geradeheraus und in aller Eile geschrieben. Denn ich wollte Stellung nehmen zu den Vergewaltigungen in Indien, auf die ich bei Lesungen immer wieder angesprochen werde.
    Das Land macht seit 20 Jahren einen unglaublichen ökonomischen Wandlungsprozess durch, der die sozialen Verhältnisse verändert hat. Die frühere Mittelschicht ist wohlhabend geworden, die jungen Frauen laufen heute in Jeans, Minirock und T-Shirts herum. Sie leben ihr Leben, rauchen und haben Liebhaber.
    Aber die Einstellungen der Männer in ihrer Klasse und in der Unterschicht: Die haben sich nicht gewandelt."
    "Ich verzerre die Wirklichkeit"
    Shumona Sinha fächert ein Szenario mit drei gebürtigen Inderinnen auf, die in Lebens- und Sinnkrisen stecken. Die Politaktivistin Mina kämpft in ihrem Heimatdorf bei Kalkutta gegen den Bau einer Autofabrik, der die Existenz ihrer Eltern gefährdet. Marie ist als Baby von reichen Franzosen adoptiert worden und auf der Suche nach ihren leiblichen Eltern. Und dann gibt es noch Esha, die endlich französische Staatsbürgerin werden will. In der Pariser Vorstadt unterrichtet sie, wie Shumona Sinha früher auch, Englisch und wird tagtäglich mit den religiösen und ethnischen Kleinkriegen am Rande der Metropole konfrontiert.
    "Ich lasse mich von der Realität, wie ich sie kenne, sehr stark inspirieren. Meine Romane sind aber immer auch fiktiv, also ein Gewebe aus persönlichen Erinnerungen und Erfundenem.
    Vor allem in die Figur Eshas habe ich viel Erlebtes hineingearbeitet. Doch schreibe ich mein Leben eben nicht 1:1 auf. Ich verzerre die Wirklichkeit. Denn der Roman ist für mich eine notwendige Perversion der Realität. Science Fiction ist das aber nicht. Dafür könnte das Dargestellte zu leicht Wirklichkeit werden."
    In ihrem vorigen Roman "Kalkutta", der die Wiederbegegnung der Protagonistin mit ihrer westindischen Heimat beschreibt, hat Shumona Sinha durch literarischen Feinschliff überzeugt: durch komplexe Bilderwelten und poetisch aufgeladene Formulierungen. In "Staatenlos" vermag ihre Prosa diesen Zauber nur stellenweise zu entfachen. Die engagierte politische Botschaft steht diesmal offensichtlich im Vordergrund. Trotzdem ist "Staatenlos" ein wichtiger, verstörender Roman. Denn er untergräbt durch das Hin und Her zwischen Kalkutta und Paris die selbstgefälligen westlichen Wahrnehmungsmuster – vor allem die vieler Männer. Am Beispiel ihrer drei Hauptfiguren führt Shumona Sinha vor, wie gefährdet Frauen heute sind: nicht nur in Indien, sondern auch in den Wohlstandszonen des Westens.
    "Unser Körper ist unser erster Lebensraum, unsere erste Heimat. Von dem Moment an, wo wir nicht mehr das Recht haben, über unseren Körper zu bestimmen, sind wir Vertriebene - verjagt aus unseren Körpern. Wir sind dann gewissermaßen staatenlos, wie man an den drei Hauptfiguren sieht."
    Marie sucht in Indien den Körper, der ihr das Leben geschenkt hat. Sie fühlt sich wurzellos. Der Wohlstand ihrer Adoptiveltern ist kein Trost mehr für sie. Mina dagegen hat sich in ihrem Dorf bei Kalkutta – ohne es zu wissen – schon im Babybett verliebt. Denn tagsüber wurden Sam und sie von derselben Frau gehütet. Als sich die beiden als Erwachsene wiedersehen, funkt es sofort und Mina wird schwanger. Die sozialen Spielregeln aber lassen keine Heirat zu. Also wird sie mit ihrem Kind der Schande aus dem Elternhaus verbannt.
    Eine bedrohliche, fast schon paranoide Stimmung
    Esha scheint die einzige, die als Frau in ihren Träumen angekommen ist. Sie wohnt allein in Paris, hat Arbeit und trifft sich bei Bedarf mit Internetbekanntschaften. Mehr noch: Das Verfahren zu ihrer Einbürgerung ins französische Paradies läuft.
    "Sie ist ein bisschen verrückt. Denn sie glaubt, dass sie die freie Liebe leben kann: um niemandem zu gehören, um frei zu sein wie die Hippies. Aber das funktioniert nicht. Wir leben in der Post-Hippie-Zeit mit all ihren Enttäuschungen, mit Eltern, die ihre Kinder zurückgelassen haben, mit Aids. Der Traum von der freien Liebe ist gescheitert. Esha aber lebt weiter in ihren Träumen der 1960er, -70er Jahre, mit ihren Phantasmen von Frankreich und Europa im Kopf.
    Ihre erste Liebe war - ein wenig wie bei mir - die Liebe für ein imaginäres, erträumtes, idealisiertes Frankreich. So, wie sie es als Mädchen in Filmen gesehen und in Büchern gelesen hatte. Sie hatte von einem Frankreich der Kultur geträumt, der Brüderlichkeit und der Solidarität. Deshalb ist das eher eine Geschichte der vielen Enttäuschungen, ich würde sagen: eine widerrufene, gescheiterte Liebesgeschichte."
    Eshas Problem ist ihre Hautfarbe. Die Männer gaffen ihr nach oder verfolgen sie. Denn sie führt eine Existenz – so wörtlich – "ohne Herrchen, nicht reinrassig". Mehr noch: Die "rote Linie", die sie jeden Morgen bei der Fahrt zu ihrer Schule in der Pariser Vorstadt überschreitet, wird immer durchlässiger. Die Zu-kurz-Gekommenen trauen sich neuerdings auch ins Zentrum der Metropole, um ihren Unmut zu äußern. So wird Esha in der Metro mehrfach von Rechtsradikalen provoziert. Eine bedrohliche, fast schon paranoide Stimmung legt sich über den Roman "Staatenlos". Für seine Konstruktion spielen die sozialen Netzwerke eine wichtige Rolle. Denn Esha ist immer in Kontakt mit Indien: Ob mit ihrer Mutter, die lieber möchte, dass sie zurückkommt, oder mit Marie, die dort an der Seite von Mina politisch agitiert. Der Roman kreuzt so Eindrücke von der wachsenden Aufruhrstimmung im westlichen Indien mit den politischen Schieflagen in Frankreich. Denn der Krieg scheint auch dort angekommen. Warum sonst, fragt sich Esha, werden jüdische Friedhöfe geschändet? Wer provoziert hier wen mit welchem Ziel?
    Fragen, die den Leser weiter verfolgen
    Die Stärke von Shumona Sinhas gut gebautem Roman ist, dass sie viele Fragen aufwirft, die offen bleiben, die den Leser nach der Lektüre weiter verfolgen. Die Verdächtigen werden benannt, die Täter aber nicht definitiv entlarvt – auch nicht die Vergewaltiger der brutalen Eingangsszene.
    Selbst wenn Shumona Sinhas Prosa diesmal konventionell bleibt, steckt ihr Roman doch voller sehr präziser Beobachtungen – gerade unseres westlichen Alltags.
    Am Ende stellt sich sogar die Frage, ob die Pariser Freiheit überhaupt mehr hergibt als Konsumräusche. Mehr noch: Das Einbürgerungsverfahren droht an Eshas mangelnder Bereitschaft zur horizontalen und geheimdienstlichen Kollaboration zu scheitern. Wie Mina und Marie sitzt auch sie zwischen den Stühlen.