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Staatsbesuch
Gauck brüskiert Erdogan

Bundespräsident Joachim Gauck hat bei seinem Staatsbesuch in der Türkei den Kurs des türkischen Regierungschefs Erdogan ungewöhnlich scharf kritisiert. Zu fragen sei, warum eine so starke Regierung wie die Erdogans die Justiz und die Medien beeinflussen müsse.

28.04.2014
    "Muss man denn Twitter oder YouTube verbieten?", fragte Gauck bei einer Pressekonferenz mit Staatspräsident Abdullah Gül in Ankara. "Wird das wirklich die Demokratie befördern? Solche Fragen muten wir uns zu." Gauck erwähnte auch den jüngsten Streit zwischen der Regierung von Ministerpräsident Recep Tayyip Erdogan und dem Verfassungsgerichtspräsidenten Hasim Kilic. Dieser hatte mit Blick auf die jüngsten Verfügungen der Regierung in Ankara gesagt, in einem Rechtsstaat seien Gerichte keine Befehlsempfänger. Gauck erklärte hinsichtlich einer möglichen türkischen Reaktion auf seine Kritik, unter Freunden müsse man auch Dinge sagen können, die der andere vielleicht nicht gerne höre. Die schwere Kost begleitete später Gaucks Mittagessen mit Erdogan.
    Bundespräsident Joachim Gauck (M.) wird durch den türkischen Präsidenten Abdullah Gül vor dem Präsidentenpalast in Ankara mit militärischen Ehren begrüßt.
    Bundespräsident Joachim Gauck (M.) wird durch den türkischen Präsidenten Abdullah Gül vor dem Präsidentenpalast in Ankara mit militärischen Ehren begrüßt. (dpa / Rainer Jensen)
    Die europäische Demokratie sei das beste Modell auch für die Zukunft der Türkei, sagte Gauck. Auf die Frage, ob dazu auch eine EU-Mitgliedschaft gehöre, antwortete der Bundespräsident: "Wir wissen nicht, ob und wann das sein wird." Staatspräsident Gül äußerte, auf Demokratiedefizite in der Türkei angesprochen: "Kein Land ist vollkommen." Die Türkei habe in den letzten zehn Jahren enorme Fortschritte gemacht.
    "Gefährdung der Demokratie"
    Vor Studenten der renommierten Middle East Technical University in Ankara sagte Gauck, er beobachte in der Türkei mit Sorge Tendenzen, den Rechtsstaat und die Gewaltenteilung zu beschränken. "Ich gestehe: Diese Entwicklung erschreckt mich - auch und besonders, wenn Meinungs- und Pressefreiheit eingeschränkt werden." Gauck sagte weiter: "So frage ich mich heute und hier, ob die Unabhängigkeit der Justiz noch gesichert ist, wenn die Regierung unliebsame Staatsanwälte und Polizisten in großer Zahl versetzt und sie so daran hindert, Missstände ohne Ansehen der Person aufzudecken."
    Gauck würdigte den rasanten Wirtschaftsaufschwung und demokratische Errungenschaften der Türkei, etwa die Tatsache, dass der Einfluss des Militärs zurückgedrängt und der Dialog mit den Kurden geführt werde und dass Erdogan den Armeniern sein Mitgefühl für erlittene Verbrechen ausgesprochen habe. In letzter Zeit gebe es aber auch "Stimmen der Enttäuschung, der Erbitterung und Empörung über einen Führungsstil, der vielen als Gefährdung für die Demokratie erscheint". Mit Blick auf seine eigene Lebenserfahrung in der früheren DDR sagte der Bundespräsident: "Wo die freie Meinungsäußerung eingeschränkt wird, wo Bürger nicht oder nicht ausreichend informiert, nicht gefragt und nicht beteiligt werden, wachsen Unmut, Unerbittlichkeit und letztlich auch die Bereitschaft zur Gewalt."
    Gestern hatte der Bundespräsident im südtürkischen Kahramanmaras die Raketenabwehrstaffeln der Bundeswehr und ein Lager für syrische Flüchtlinge besucht. Dort hatte Gauck die Anstrengungen der Türkei bei der Hilfe für die Menschen in Not gewürdigt. Morgen fliegt er nach Istanbul weiter.
    #GauckinTurkey Begegnung mit Soldaten der #Bundeswehr der Patriot-Stellung in Kahramanmaraş http://t.co/AOaLmzvOza pic.twitter.com/BhV13zmINa— Germany in Greece (@GermanyinGreece) April 28, 2014
    Bundestagsvizepräsidentin Roth warnt vor "Repressionen"
    Bundestagsvizepräsidentin Claudia Roth, derzeit in Istanbul, appellierte an die türkische Regierung, die Demokratie nicht weiter einzuschränken. Sie befürchte, dass "Erdogan Stabilität gleichsetzt mit mehr Repressionen", sagte Roth.
    Claudia Roth, stellvertretende Parlamentspräsidentin des Bundestages
    Claudia Roth, stellvertretende Parlamentspräsidentin des Bundestages (picture alliance / dpa / Maurizio Gambarini)
    Nach der Blockade von Twitter und Youtube in der Türkei kritisierte auch die ehemalige Grünen-Chefin Erdogans "Angriff auf soziale Medien": Die Ausweitung der Befugnisse des Geheimdienstes MIT nannte sie einen "krassen Widerspruch zur Demokratie". Mit dem Gesetz würden "Parallelstrukturen geschaffen, die immun sind vor demokratischen Kontrollen".
    (sdö/kis)