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Staatsbesuch von Frankreichs Präsident Chirac

Liminski: Es scheint eine Vorliebe gaullistischer Präsidenten zu sein. Wenn sie grundlegend Neues für ihr Land und für Europa verkünden wollen, tun sie das gern in Deutschland. Das war bei De Gaulle so, das war auch bei dem Sozialisten Mitterrand so, das ist so bei Chirac und das setzt Europa jeweils auf die Spur der Zukunft. De Gaulle begründete diese Linie 1962, als er vom Balkon des Rathauses in Bonn den Menschen, die dort stellvertretend für das deutsche Volk standen, zurief:

    O-Ton De Gaulle: Wenn ich Sie alle so um mich herum versammelt sehe, wenn ich Ihre Kundgebungen höre, empfinde ich noch stärker als zuvor die Würdigung und das Vertrauen, das ich für Ihr großes Volk, jawohl für das große deutsche Volk hege.

    Liminski: So weit General De Gaulle 1962 vom Balkon des Bonner Rathauses. Und am Telefon begrüße ich nun den Ministerpräsidenten des Freistaats Bayern, Edmund Stoiber. Guten Morgen Herr Stoiber!

    Stoiber: Guten Morgen.

    Liminski: Herr Stoiber, Chirac stand gestern ganz in der Linie seines großen Vorbilds De Gaulle. Er kam mit Elogen und Zusicherungen für die Deutschen: ein Platz im UN-Sicherheitsrat, Deutsch als Elitesprache bleibt erhalten, um nur zwei Beispiele zu nennen. Ist die deutsch-französische Freundschaft derzeit ohne Probleme, sozusagen ein Ausbund an Harmonie?

    Stoiber: Eine Partnerschaft ist nie ohne Probleme, aber ich glaube, dass es eine der großartigsten Entwicklungen in Deutschland, in Frankreich, in Europa in den letzten Jahrzehnten gewesen ist, dass Deutschland und Frankreich, ganz gleich wer jetzt französischer Staatspräsident, wer Ministerpräsident in Frankreich war, wer deutscher Bundeskanzler gewesen ist, dass diese deutsch-französische Freundschaft ein Eckpfeiler deutscher Staatsräson ist und auch französischer Staatsräson. Alle kleinen Auseinandersetzungen, vielleicht auch mal großen Auseinandersetzungen spielen in dem Zusammenhang keine Rolle. Die Rede von Staatspräsident Chirac war gestern wieder eine so großartige epochale Rede, wie sicherlich auch die Reden von Giscard D'Estaing oder von Pompidou gewesen sind.

    Liminski: Präsident Chirac hat von den verschiedenen Ebenen in Europa gesprochen, in diesem Zusammenhang auch vom Subsidiaritätsprinzip. Die Kompetenzen zwischen Europa, Nationen und Regionen müsste man noch definieren, sagte er. Wichtig sei die Bürgernähe. Können Sie ihm da weitere Definitionshilfe bieten? Oder anders gefragt: wie weit zieht der Ministerpräsident eines traditionsreichen Landes in Deutschland den Kompetenzkreis der Regionen?

    Stoiber: Zunächst glaube ich ist viel bemerkenswerter, dass der französische Staatspräsident hier eine Position, eine Forderung aufgestellt hat, die ja lange Zeit aus französischem Mund, aus europäischem Mund nicht zu vernehmen war und die eigentlich in Deutschland, die von den Ländern, von Bayern immer wieder gefordert worden ist. Ein sich weiter integrierendes Europa braucht klarere Abgrenzungen von Kompetenzen zwischen den Nationalstaaten und der europäischen Ebene und zwischen der europäischen Ebene und auch den Regionen. Deswegen ist das eigentlich eine ganz große Stunde der Subsidiarität gewesen, die im Bundestag gestern zu spüren gewesen ist, denn Subsidiarität heißt, möglichst viel soll auf den unteren Ebenen angesiedelt werden, gelöst werden und nur die großen Themen sollen auf den oberen, also auf der europäischen Ebene gelöst werden. Das, glaube ich, ist jetzt ein Markenstein gewesen. Wenn der französische Staatspräsident mit der französischen Staatstradition des Zentralismus diese Position für Europa einnimmt, dann gibt es hier einen großen, großen Schub für die weitere Entwicklung Europas. Auf Ihre konkrete Frage: Das ist nicht nur eine Frage der Länder und der Regionen, sondern wir brauchen starke Kommunen, wir brauchen starke Länder in Deutschland. Wir brauchen starke Regionen auch in Frankreich, in anderen Ländern. Wir brauchen weiterhin natürlich auch selbstbewusste Nationen. Aber weil wir viele Dinge nicht mehr regeln können, die innere Sicherheit ist heute europäisch zu regeln, die Frage der Zuwanderung nach Europa ist europäisch zu regeln, die Frage der Verteidigung Europas ist europäisch zu regeln, die Frage der Außenpolitik ist heute keine primär nationale Angelegenheit mehr, sondern wenn wir Außenpolitik betreiben, müssen wir uns in Europa mit Frankreich, mit den großen Ländern, mit Großbritannien, mit den Ländern abstimmen. Das nun in eine Art Verfassungsvertrag zu gießen, das ist jetzt die große Aufgabe der nächsten Zeit. Ich hoffe, dass schon in Nizza beim Gipfel, bei der Regierungskonferenz zum Ende der französischen Ratspräsidentschaft hier ein Einstieg in eine konkrete Kompetenzabgrenzung erfolgen kann, zumindest ein klarer Hinweis, in welche Richtung diese Kompetenzabgrenzung erfolgen muss.

    Liminski: Herr Ministerpräsident, seit einigen Wochen wird in Berlin und Paris über ein altes Thema diskutiert, nämlich die künftige Konfiguration Europas. Dabei stehen sich im Grunde genommen doch die beiden alten Begriffe Staatenbund und Bundesstaat gegenüber. Ich greife jetzt Ihr Wort auf von dem großen Schub für die Subsidiarität. Kann es eine Fusion der beiden Konzepte geben? Ist vielleicht die Subsidiarität das Bindeglied oder das Fusionsprinzip für das künftige Europa der Vaterländer?

    Stoiber: Durchaus, aber ich glaube, dass heute niemand mehr ernsthaft von dem Modell der Vereinigten Staaten von Europa, vergleichbar den Vereinigten Staaten von Amerika spricht. Präsident Chirac hat gestern sehr, sehr deutlich gemacht, dass es einen "Superstaat Europa" nicht geben wird. Das heißt, hier ist sehr viel Realismus eingekehrt. Europa bekommt ja seine Stärke gerade aus den unterschiedlichen Nationalitäten. Europa ist ein Kontinent der Unterschiedlichkeit, der Vielfältigkeit der Kulturen, der Vielfältigkeit der Sprachen. Daraus bezieht es ja auch seinen besonderen Reiz, seine besondere Kraft, seine besondere Stärke. Natürlich hat man in den 60er, 70er, 80er Jahren geglaubt, man könne eine Art "Bundesstaat Europa" herstellen. Vor allen Dingen in Deutschland hat man geglaubt, die deutsche Nation könne in einer europäischen Nation in irgendeiner Weise aufgehen. In der Zwischenzeit glaube ich denkt niemand mehr in diese Richtung, zumindest nicht mehr seit gestern, denn hier ist ja deutlich gemacht worden: wir wollen ein vereintes Europa, aber wir wollen natürlich auch starke, selbstbewusste Nationen. Frankreich wird immer Frankreich bleiben als ein wichtiger Teil Europas, aber es wird niemals in einem europäischen Staat aufgehen. Das ist eine ganz bemerkenswerte Botschaft. Auch hier stelle ich fest, dass unsere Diskussion, die der CSU, der Staatsregierungen der letzten Jahre, in die richtige Richtung geführt hat. Wir haben uns gegen einen Bundesstaat Europa gewehrt. Wir sind oft deswegen als Europaskeptiker oder Europakritiker abqualifiziert worden. Gestern ist dieser Satz von Chirac im Bundestag beklatscht worden, und zwar von allen. Da sieht man, wie sich die Entwicklung fortgestaltet hat.

    Liminski: Chirac hat indirekt auch eingestanden, dass der Großtanker Europa durch schwere See stampft, nur noch begrenzt manövrierfähig ist. Die Entscheidungsmechanik ist einfach zu unflexibel und muss schon angesichts der Erweiterung geändert werden. Nun schlägt er eine Avantgarde-, eine Pioniergruppe vor. Bedeutet das in der Folge nicht ein weniger an Eigenständigkeit für die Nationalstaaten und für die Regionen?

    Stoiber: Nein. Schauen Sie, in der Frage der Außenpolitik, in der Frage der Verteidigungspolitik, in der Frage der Sicherheitspolitik können sie natürlich enger zusammenarbeiten. Sicherlich kann Frankreich und Deutschland und Holland oder die Benelux-Staaten, um mal ein Beispiel zu nennen, hier natürlich, wenn sie wollen, enger zusammenarbeiten, als dass vielleicht mit Griechenland im Moment möglich ist. Das heißt, das spricht nicht gegen die Kompetenzen der Regionen oder die Kompetenzen der Länder, sondern dort, wo einzelne Länder enger und schneller vorangehen wollen in der Lösung europäischer Probleme, da soll das auch möglich sein. Man muss nur bei dem Thema sehr, sehr sorgfältig beachten, dass dieses Thema Avantgarde, dieses Thema Gravitationszentrum in Europa, dieses Kerneuropa oder wie auch immer man das beschreibt, was Sie gerade in Ihrer Frage angesprochen haben, niemals verstanden werden als eine Ausgrenzung anderer, kleinerer Länder, denn dann würde genau der europäische Integrationsprozess Schaden leiden. Wenn die Avantgarde zu einer Spaltung Europas führen würde, wäre es genau das Gegenteil von dem, was Chirac ja will. Deswegen muss man im Zusammenhang mit dieser Avantgarde, mit diesem Kerneuropa, das vielleicht jetzt Kompetenzen schneller zusammenlegt, Lösungen schneller gemeinsam macht, sehr aufpassen, dass die Institutio, das Europäische Parlament, die Europäische Kommission, der Europäische Gerichtshof, nicht in irgendeiner Weise relativiert oder gar gefährdet werden.

    Liminski: Herr Stoiber, die Förderation der europäischen Staaten ist ja eigentlich ein altes französisches Projekt. Schon vor knapp 300 Jahren gab es dort die Idee eines europäischen Senats, zu dem übrigens auch Bayern zählte, und der alte Fritz hat das damals mit der Bemerkung abgetan, bei diesem Gedanken sei die Meinung der Fürsten und anderer Petitessen nicht bedacht worden. Wir haben heute eine Kommission, ein Parlament, einen Rat, einen Gerichtshof. Würde ein Senat der Regionen nicht das föderale Element in Europa stärken? Muss hier nicht auch institutionell weitergedacht werden?

    Stoiber: Ja, aber das ist eigentlich schon durch den Vertrag von Maastricht eingeleitet worden. Hier hat man ja neben dem Parlament und neben der Kommission und neben dem Ministerrat, den drei großen Institutionen Europas, diesen Ausschuss der Regionen installiert, in dem die Regionen in ihrer ungeheueren Vielfalt als beratendes Organ für Kommission, für Parlament konzipiert ist. Das gibt es im Grunde genommen. Es geht jetzt nur darum, diesem Ausschuss der Regionen, der sicherlich eine Art Senat der Regionen darstellt, ein Stück mehr Kompetenzen zu geben, Kompetenzen in der Weise, dass er mittel- und langfristig ein Initiativrechtsmittel bekommt, das heißt Gesetzgebung anstoßen kann, dass er der Kommission auch bestimmte Vorgaben machen kann, dass er zum Europäischen Gerichtshof gehen kann, wenn seine Rechte verletzt sind, also eine Art Klagerecht des Ausschusses der Regionen, der Region selber vor dem Europäischen Gerichtshof. Das sind alles Dinge, die jetzt in der Fortentwicklung passieren müssen. Dann bekommen wir genau diesen Senat der Regionen, der natürlich das föderale Element in Europa stärkt, wobei man fairerweise dazu sagen muss, dass die Regionen in Europa unterschiedliche Qualität haben. Es gibt Regionen, die nur Vollzugsorgane der nationalen Regierungen sind, und es gibt Regionen wie die deutschen Länder oder auch die Länder in Österreich, die eigene Gesetzgebungskompetenz haben und für sich selber in der Frage zum Beispiel der Schulpolitik oder in der Frage der Universitätspolitik aus eigener Kompetenz Gesetze machen können. Insoweit haben wir sehr unterschiedlich strukturierte Regionen, aber das wird sich im Laufe der Jahre sicherlich in die Richtung entwickeln, die Sie gerade angesprochen haben. Wir tun alles dazu, dass dieser Ausschuss der Regionen eine Art Senat der Regionen und damit eine Art Stärkung des föderalen Elements in Europa werden wird.

    Liminski: Das war der Ministerpräsident des Freistaats Bayern, Edmund Stoiber. - Besten Dank für das Gespräch!

    Link: Interview als RealAudio