Seit dem Angriff der Terrororganisation Hamas auf Israel wird in Deutschland wieder verstärkt von einer „Staatsräson“ gegenüber Israel gesprochen. Der Begriff ist hierzulande vor allem mit der Geschichte des Nationalsozialismus und dem Holocaust verbunden. Angela Merkel (CDU) verwendete ihn in ihrer Zeit als Bundeskanzlerin zunächst in einem außenpolitischen Kontext – es ging um die nukleare Bedrohung Israels durch den Iran.
Eine konkrete, gar militärische Beistandsverpflichtung, wie manche es verstanden hatten, ließ sich daraus allerdings nie ableiten. Merkel sprach von einer historischen Verantwortung für Israels Sicherheit als Teil der deutschen Staatsräson, ließ jedoch offen, was darüber hinaus dazugehören könnte. Auch die aktuelle Regierung sagt: „Die Sicherheit Israels ist deutsche Staatsräson.“ Dabei bleibt die Frage: Was folgt in letzter Konsequenz daraus?
Was bedeutet Staatsräson?
Es gibt keine klare Definition, was Staatsräson heute konkret bedeutet. Der Begriff ist rund 500 Jahre alt und wird auf sehr unterschiedliche Weise verwandt. Er geht auf die Herrschaftstheorien der Philosophen Niccolò Machiavelli und Giovanni Botero zurück. Demnach ist Staatsräson das, was dazu dient, das Überleben und den Erfolg eines Staates zu sichern.
Seit Machiavelli dient der Verweis auf die Staatsräson dazu, sich über Recht und Ethik hinwegzusetzen. So stellte der außenpolitische Realismus des damaligen US-Außenministers Henry Kissingers in der Zeit des Vietnamkrieges und der amerikanischen Neokonservativen nach den Terroranschlägen vom 11. September 2001 die Staatsräson über das Völkerrecht. Das führte die USA in militärische und politische Niederlagen und endete in den Folterkellern und rechtsfreien Zonen von Abu Ghraib im Irak und Guantanamo auf Kuba.
Staatsräson bezeichnet zudem den Vorrang nationaler Interessen im Konflikt mit anderen Werten, zum Beispiel den persönlichen Freiheitsrechten. Man muss ihr aber nicht unbedingt folgen: Der SPD-Politiker Carlo Schmid, einer der Väter des Grundgesetzes, begründete das verfassungsmäßige Recht auf Kriegsdienstverweigerung explizit damit, dass die Staatsräson nicht über allem stehen dürfe.
Wieso ist Israels Sicherheit deutsche Staatsräson?
Als erste Politikerin sorgte Bundeskanzlerin Angela Merkel mit dem Begriff der Staatsräson für Aufsehen. Vor dem Hintergrund des Mordes an sechs Millionen Jüdinnen und Juden während des Nationalsozialismus sagte Merkel im März 2008 im israelischen Parlament, der Knesset: „Diese historische Verantwortung für die Sicherheit Israels ist Teil der Staatsräson meines Landes.“
Damit löste sie damals in Deutschland erstmals eine Debatte über den Begriff aus. Tatsächlich hatte die Kanzlerin laut "Spiegel"-Recherchen die Formulierung schon in den Jahren zuvor öfter benutzt, ohne dass die breite Öffentlichkeit groß Notiz davon genommen hatte.
Merkels Diktum hat auch die aktuelle Bundesregierung aufgegriffen und weiter verkürzt: "Die Sicherheit Israels ist für uns Staatsräson“, heißt es im Koalitionsvertrag der Ampel-Regierung. Sowohl Merkels Nachfolger im Kanzleramt, Olaf Scholz (SPD), als auch Außenministerin Annalena Baerbock (Grüne) haben das mehrfach öffentlich wiederholt.
Für die Staatsrechtlerin Marietta Auer vom Max-Planck-Institut ist die Verwendung des Begriffs in Bezug auf Israel ungewöhnlich - denn eigentlich sage Staatsräson, dass das Überleben des eigenen Staates über alles andere gestellt werde. Und eben nicht das Überleben eines anderen Staates.
Wie wird die deutsche Staatsräson in Bezug auf Israel diskutiert?
Auch wenn sich seit Angela Merkel alle deutschen Parteien der Mitte das Diktum der deutschen Staatsräson gegenüber Israels Sicherheit zu eigen gemacht haben – unumstritten war es nie. 2012 distanzierte sich der damalige Bundespräsident Joachim Gauck öffentlich während einer Israel-Reise von Merkels Äußerungen, und auch Gaucks Nachfolger Frank-Walter Steinmeier hat laut dem "Spiegel" bereits daran gezweifelt, dass Merkel sich der Tragweite dieses Satzes in jeder Hinsicht bewusst gewesen sei.
Ein ganz anderes Problem hat in der aktuellen Debatte der SPD-Außenpolitiker Michael Roth aufgeworfen: Ihm sei der Begriff Staatsräson zu technokratisch, er finde in der Bevölkerung zu wenig Akzeptanz. „Warum sind wie nicht einfach Freundinnen und Freunde“, sagte Roth im Deutschlandfunk.
Der CDU-Außenpolitiker Roderich Kiesewetter wiederum beruft sich auf die deutsche Staatsräson und leitet daraus Konsequenzen ab. Vor dem Hintergrund eines drohenden iranischen Angriffs forderte er im August die Beteiligung der Bundeswehr an einer von den USA angeführten Schutzkoalition für Israel. Wenn Israels Sicherheit wirklich deutsche Staatsräson sei, müsse die Bundesregierung endlich Realpolitik betreiben, statt weiter romantische Hoffnungen zu pflegen, sagte er gegenüber dem "Spiegel".
phm/jde