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Staatsrechtler Kirchhof schlägt "fundamentale Erneuerung" des Steuerrechts vor

Er war 2005 Schatten-Finanzminister im Kabinett Merkel und hatte vergeblich eine radikal vereinfachte Besteuerung vorgeschlagen: Am Montagabend hat Paul Kirchhof einen erweiterten Entwurf präsentiert - und weiß sechs Landesfinanzministerien hinter sich.

Paul Kirchhof im Gespräch mit Peter Kapern |
    Peter Kapern: Erinnern Sie sich noch, meine Damen und Herren, die Einkommenssteuererklärung, die auf einen Bierdeckel passen sollte? Aus dem Reformprojekt ist ja nie etwas geworden und das, obwohl sein Umfang geradezu winzig war im Vergleich zu dem steuerpolitischen Reformentwurf, um den es jetzt geht. Er geht weit über das hinaus, was uns einmal Friedrich Merz schmackhaft machen wollte, und stammt aus der Feder des ehemaligen Verfassungsrichters Paul Kirchhof, der ein komplett neues Steuerrecht entwickelt hat. Paul Kirchhof? – Da klingelt doch was? – Genau! Bundestagswahlkampf 2005. Zum Schattenkabinett von Herausforderin Angela Merkel zählte genau dieser Paul Kirchhof. Und das schien auch zu passen: schließlich wollten auch die Union und ihre Kanzlerkandidatin damals eine tief greifende Steuerreform.
    Gestern Abend hat Paul Kirchhof also dieses Opus Magnum des deutschen Steuerrechts in Karlsruhe vorgestellt. Vor der Sendung habe ich ihn gefragt, warum er sich für einen totalen Neuanfang im Steuerrecht entschieden hat, statt das bestehende Recht zu reformieren.

    Paul Kirchhof: Eine Reform des Bestehenden reicht nicht aus, weil unser gesamtes Steuerrecht gegenwärtig so unübersichtlich, so unverständlich ist, dass der Bürger nicht weiß, warum er so viel und sein Nachbar vielleicht so wenig bezahlen muss, weil er nicht weiß, warum er seine Steuererklärung unterschreiben muss, denn er versteht sie nicht. Wir haben eine Unübersichtlichkeit, dass die Unternehmen nicht mehr planen können, verlässlich, wir haben eine ständige Änderung der Gesetzgebung, dass die Autorität des Gesetzes sehr geschwächt wird, und deswegen hilft nur eine fundamentale Erneuerung, nicht eine Reparatur im Detail.

    Kapern: Nun machen Sie aus gegenwärtig ungefähr 33.000 Steuerparagrafen, die es in Deutschland auf den verschiedenen Ebenen gibt, in Ihrem Entwurf nur noch 146. Wie kann das funktionieren, aus 33.000 mach 146?

    Kirchhof: Wir können die Skepsis überwinden, wenn wir bewusst machen erstens, wir haben nur noch vier Steuern: eine Steuer auf das Einkommen, auf den Umsatz, auf Erbschaft und Schenkung und auf den Verbrauch. Zweitens: Wir haben keine Ausnahmen, Privilegien und Lenkungstatbestände mehr. Ein Beispiel: Der Bürger bezieht sein Einkommen, damit er mit diesem Einkommen tun und lassen kann, was er für richtig hält. Der Steuergesetzgeber traut ihm aber nicht zu, dass er es selber wisse. Und deswegen schafft er Steueranreize, dass er im Schiffbau investiert, in den Filmen investiert, in den Denkmalschutz, in Schrottimmobilien, und dadurch entsteht diese Verkomplizierung. Das Grundprinzip der Besteuerungsgleichheit ist nicht mehr erkennbar, der Bürger ringt mit dem Steuerrecht, um clever zu sein und die Steuern zu vermeiden, statt eine maßvolle Steuerschuld auf alle Steuerschuldner gleichmäßig zu verteilen.

    Kapern: Nun haben Sie gerade das Steuern des Staates durch das Erheben oder Erlassen von Steuern sehr negativ, oder, um es so auszudrücken, sehr einseitig dargestellt. Es kann ja auch im Interesse des Staates liegen, ein bestimmtes Verhalten seiner Bürger zu fördern, also beispielsweise das Fahren von kleineren Autos, oder das Wärmedämmen von Häusern. Das ist ja gerade ein aktuelles Thema. Wie sonst soll der Staat dieses erwünschte Verhalten erzeugen, wenn nicht dadurch, dass der Bürger es in seinem Portemonnaie spürt?

    Kirchhof: Der Staat soll die große Macht seines Geldes einsetzen, auch um ein erwünschtes Verhalten des Bürgers anzuregen und zu fördern und vielleicht sogar Steuern einzusetzen, um ein unerwünschtes zu belasten. Aber entscheidend ist, dass die Leistungssubvention, also das Hingeben von sichtbarem Geld aus dem Staatshaushalt in das Portemonnaie des Bürgers, wesentlich gerechter ist als die Steuervergünstigung.

    Kapern: Das heißt aber doch, Herr Kirchhof, dass Sie Steuerprivilegien durch direkte Subventionen ersetzen wollen?

    Kirchhof: Ich möchte tendenziell die Subventionen möglichst zurücknehmen, aber es bleibt ein erheblicher Umfang, wie gegenwärtig ja auch, wo die Leistungssubventionen, bei denen der Staat sichtbar zahlt und das Parlament sagt, für dieses Projekt, sagen wir, stehen zehn Millionen zur Verfügung, was die Steuersubvention kostet, also die Steuerverschonung, das weiß ja niemand, während bei der Leistungssubvention bestätigt das Parlament jedes Jahr erneut, für diesen Zweck habe ich so und so viel Geld und nicht mehr, und der Bürger weiß, dass er es bekommt.

    Kapern: Nun wollen Sie ja alle Ausnahmetatbestände streichen?

    Kirchhof: Ja.

    Kapern: Nehmen wir mal einen davon heraus: die Steuerfreiheit für Nachtzuschläge.

    Kirchhof: Ja.

    Kapern: Wenn eine Krankenschwester künftig ihre Nachtzuschläge versteuern muss, was, Herr Kirchhof, ist daran gerecht?

    Kirchhof: ... , dass sie im Ergebnis weniger Steuern zahlt. In unserem System steht die Krankenschwester besser als vorher. Sie verliert zwar das kleine Privileg, dass die Tarifzuschläge für die Nachtarbeit bei ihr begünstigt sind - bei anderer Nachtarbeit sind sie nicht begünstigt -, aber wir geben ja den Wegfall dieser Ausnahmetatbestände, die dem Staat sehr viel mehr Geld einbringen, insgesamt durch Absenkung der Steuersätze und Erhöhung der Grundfreibeträge an die Allgemeinheit der Steuerpflichtigen zurück.

    Kapern: Wer würde denn unter dem Strich schlechter dastehen als heute?

    Kirchhof: Natürlich gibt es bei jeder Reform, die aufkommensneutral ist, ... Der Staat bekommt vorher und nachher die gleiche Summe Geldes; das muss so sein, weil wir im Moment finanziell so angespannt sind. Die Verlierer sind diejenigen, die Steuer gestalten können, die mit der Geschicklichkeit des kundigen Vertragspartners ihre Verträge so gestalten, dass sie, obwohl sie beachtliche Gewinne machen, obwohl sie eine große Erbschaft haben, obwohl sie bedeutende Umsätze haben, die Regelbesteuerung nicht bezahlen. Wir wollen wieder vermeiden, dass diese Verträge zulasten Dritter, Verträge zulasten der übrigen Steuerzahler, in Zukunft möglichst ausgeschlossen sind. Dann haben wir da das gewaltige Mehraufkommen und dann zahlen alle Bürger gleich, je nach Höhe ihres Einkommens. Wer ein hohes Einkommen hat, zahlt hohe Steuer, wer ein geringes Einkommen hat, zahlt wenig oder gar keine Steuer, aber entsprechend ihrem Einkommen gleich belastet werden und diesen Staat finanzieren.

    Kapern: Sie haben eben gesagt, dass die Steuereinnahmen des Staates nicht sinken würden. Nun haben Sie eingangs geschildert, wie kompliziert das deutsche Steuerrecht ist. Wie können Sie da so sicher sein, dass am Ende des Tages der Staat nach Ihrem Modell nicht schlechter fährt?

    Kirchhof: Also, es ist in der Tat in unseren Schätzungen – wir können ja etwa die Bedeutung des Wegfalls eines Privilegs wirtschaftlich nur schätzen -, da ist ein Unsicherheitsfaktor von ein, zwei, drei Prozent unausweichlich. Alles andere wäre unseriös, wenn man Gegenteiliges behaupten würde. Deswegen würde ich dem Finanzminister, der diese große Reform wagen wird und damit in die Geschichte eingehen wird, raten – übrigens auch den Wähler überzeugen wird und dann bei der nächsten Wahl der große Sieger sein könnte -, er soll bei dem Übergang im ersten Jahr zwei, drei Punkte mehr nehmen, dann aber mit seinem guten Namen und der Verlässlichkeit der Regierung versprechen, dass wenn sich in zwei Jahren, wenn die Steuererklärungen abgewickelt sind, herausstellt, es war zu viel, was ich vermute, dann gibt er den gesamten Betrag an die Steuerpflichtigen zurück, beziehungsweise er rechnet das auf ihre zukünftige Steuerschuld an.

    Kapern: Also erst mal Steuern erhöhen, um die Mehreinnahmen, die dann möglicherweise entstehen, gleich wieder zurückzugeben. Das ist für Politiker ein, um es vorsichtig zu sagen, gewagter Weg. Sie hatten ja schon mal gravierende Steuervorschläge gemacht im Wahlkampf 2005; damals sind Sie auf massiven Widerstand gestoßen. Was macht Sie optimistisch, dass es diesmal anders sein könnte?

    Kirchhof: Damals waren wir in der Aufgeregtheit eines Wahlkampfes, das verändert die Menschen, das verändert auch den Wahrheitsgehalt von Informationen. Also wenn wir etwa damals gehört haben, der Krankenschwester ginge es schlechter, dem Nachtarbeiter ginge es schlechter, ist das unrichtig; ihnen geht es besser, selbstverständlich! Also ich bin jetzt optimistisch, weil alle Menschen – ich erlebe das täglich, wenn ich irgendwo auftrete zum Sprechen, oder auch, wenn mich jemand als einen Steuerexperten erkennt -, dann fragen die Menschen, wann geht es nun los, wann kommt nun endlich die Reform. Sie leiden an der Last, eine Steuererklärung machen zu müssen, die man kaum machen kann, und sie haben vor allem das ungute Gefühl, ich zahle zu viele Steuern, weil ich nicht clever genug bin. Wenn es uns jetzt gelingt, erst die Bevölkerung anzusprechen, die Medien zu überzeugen, dass dies ein fairer, unbefangener, in niemandes Auftrag erstellter wissenschaftlicher Entwurf ist, der das Leben der Menschen und der Wirtschaft in Deutschland wesentlich verbessern könnte, dann wird letztlich die Politik, die in einer Demokratie sich ausrichtet an den Bedürfnissen der Menschen und nicht einzelner Gruppen, sich auch auf dieses Pferd setzen, und dann haben wir etwas getan, was uns sehr zufrieden macht.

    Kapern: Herr Kirchhof, zum Abschluss eine Frage zur aktuellen Steuerdebatte. Da wird ja heftig gestritten über Steuersenkungen in einer Zeit, in der sich der Staat noch immer weiter verschuldet. Wie bewerten Sie das?

    Kirchhof: Also ich würde sagen, wenn Senkungen möglich sind, ist das immer gut: einmal für den Bürger, zum anderen aber auch, weil der Staat sich in seiner ungeheueren Finanzmächtigkeit zurücknimmt. Ich persönlich hätte Zweifel, ob der Staat im Moment, wo er in einer Phase der weiteren Neuverschuldung ist, dass wir uns hier Steuersenkungen leisten können. Aber ich wäre natürlich der Letzte, der sich nicht freuen würde, wenn das ginge: einmal zugunsten der Menschen, aber auch Rücknahme der staatlichen Finanzgewalt und Konsolidierung des Finanzsystems Staat.

    Kapern: Ein Gespräch mit dem ehemaligen Verfassungsrichter Paul Kirchhof, der ein komplett neues Steuerrecht für Deutschland entwickelt hat. Eine Anhängerin dieses Konzepts in der Politik hat er bereits mobilisiert: Thüringens Ministerpräsidentin Christine Lieberknecht hat sich dafür ausgesprochen, es politisch umzusetzen.