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Staatsrechtler: Verfassungsgericht steckt in einem Dilemma

Das Urteil zum ESM-Rettungsschirm zeigt, wie sehr das Bundesverfassungsgericht an seine Grenzen stößt, wenn europäische Fragen zu klären sind, sagt der Staatsrechtler Christoph Schönberger. Stattdessen wachse die Bedeutung des Europäischen Gerichtshofes in Luxemburg und des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte in Straßburg.

Christoph Schönberger im Gespräch mit Tobias Armbrüster | 13.09.2012
    Tobias Armbrüster: "Ja, aber" – mit diesen beiden Worten wird heute in vielen Zeitungskommentaren das Urteil gestern in Karlsruhe zum permanenten Euro-Rettungsschirm ESM zusammengefasst. Die Richter haben die Gesetze zum ESM und zum Fiskalpakt grundsätzlich durchgewunken, verbinden das aber mit einigen Bedingungen. Unter anderem, heißt es im Urteil, muss die Bundesregierung sicherstellen, dass der Bundestag an allen wichtigen Entscheidungen weiter beteiligt wird. Aber was genau dieses Urteil nun heißt und wie es jetzt umgesetzt wird, überhaupt wie es jetzt weitergeht mit der europäischen Integration, das beschäftigt viele Politiker in Berlin und manche finden dafür deutliche Worte.

    Mitgehört am Telefon hat Christoph Schönberger, er ist Professor für Staatsrecht an der Universität Konstanz. Schönen guten Tag, Herr Schönberger.

    Christoph Schönberger: Schönen guten Tag, Herr Armbrüster.

    Armbrüster: Herr Schönberger, mehr Beteiligung für den Bundestag, das haben die Richter in Karlsruhe gestern in ihrem Urteil gefordert. War das eine Klarstellung, die überhaupt nötig war?

    Schönberger: Man kann sich fragen, ob sie nötig war, aber sie ist vielleicht durchaus als nützlich einzuschätzen. Es geht den Richtern ja hier in erster Linie darum, dass der ESM-Vertrag gewisse Verschwiegenheitspflichten für die dort Tätigen vorsieht, und die könnten vielleicht so interpretiert werden, dass sie auch zu einer Vorenthaltung von Informationen gegenüber dem Bundestag zwingen. Und um das auszuschließen, denke ich, hat das Gericht diese Klarstellung gewählt.

    Armbrüster: In einigen Kommentaren in Zeitungen heißt es nun heute Morgen, das sei eine hilflose Entscheidung gewesen, die Richter wären zurückgeschreckt vor einem deutlichen Wort. Hat Karlsruhe da im entscheidenden Moment keinen Mut gehabt?

    Schönberger: Nun, es ist eine dieser Ja-aber-Entscheidungen, wie wir sie in Angelegenheiten der europäischen Integration ja eigentlich seit 20 Jahren beobachten können. Das Gericht hat noch nie einem Vertiefungsschritt auf dem Weg von Vertragsänderungen letztlich seine Zustimmung verweigert. Es hat immer eine Zustimmung erklärt und hat bis jetzt immer versucht, diese Zustimmung mit begleitenden Vorbehalten zu qualifizieren und einzuschränken. Und insoweit ist diese Entscheidung eigentlich nicht überraschend, sie fügt sich in dieses Muster ein.

    Sie überrascht vielleicht allerdings vor dem Hintergrund einer öffentlichen Diskussion, die dem Bundesverfassungsgericht gewissermaßen angesonnen hat, hier so als eine letzte Mauer gegenüber der europäischen Integration zu fungieren. Man muss freilich auch sagen, dass das Gericht selber solche Erwartungen in seinen früheren Entscheidungen und insbesondere in seinem Lissabon-Urteil von 2009 auch selbst geschürt hat.

    Armbrüster: Ist das dann vielleicht die einheitliche Linie hier, dass das Bundesverfassungsgericht gerne darauf verweist, dass es eine wichtige Rolle spielt im Verfassungsgefüge Deutschlands, aber eben im entscheidenden Moment dann immer mitstimmt mit der Politik?

    Schönberger: Ich denke schon, so kann man das beschreiben. Das Gericht hat versucht, sich im Spiel zu halten, insbesondere eben in den ja immer deutlicher an Bedeutung gewinnenden Prozessen der Europäisierung. Es möchte dort als Akteur präsent bleiben. Zugleich hat es aber eigentlich nie eine Möglichkeit gefunden, letztlich nein zu sagen.

    Es hat immer Neins angekündigt, es hat immer potenzielle Integrationsgrenzen beschrieben, besonders deutlich eben in dem erwähnten Lissabon-Urteil, es hat aber im entscheidenden Moment, dann, wenn ein neuer Vertrag vorlag, eigentlich dann doch immer ja gesagt. Und dieses Muster ist natürlich auch ein gewisses unbefriedigendes Muster, und das ist natürlich bei einer so dramatischen Entscheidung wie der gestrigen besonders deutlich geworden, dass dieses Muster vielleicht jetzt langsam auch an seine Grenzen kommt.

    Armbrüster: Warum an seine Grenzen?

    Schönberger: Nun, ich denke, es nutzt sich ab. Wenn wir sozusagen schon erwarten können, dass solche Entscheidungen immer mit einem "Ja, aber" enden, dann ist natürlich die Spannung aus solchen Entscheidungen im großen Umfang heraus. Das Gericht lebt ja ein wenig auch davon, von der Unsicherheit, wie die Entscheidung ausgehen könnte, von der Möglichkeit, nein zu sagen, und je deutlicher wird, dass das Gericht überhaupt gar nicht die Möglichkeiten sieht, nein zu sagen, auch aufgrund seiner institutionellen Stellung im deutschen politischen Gefüge, je deutlicher das wird, desto weniger werden sich Erwartungen auf ein derartiges Nein eben in Zukunft noch auf Karlsruhe richten.

    Armbrüster: Bei den Karlsruher Richtern ist jetzt auch die Klage gegen die Europäische Zentralbank gelandet. Ganz offensichtlich: Das ist keine deutsche, sondern eine EU-Institution. Stößt das Bundesverfassungsgericht hier auch von seinem Mandat her so langsam an seine Grenzen?

    Schönberger: Ja, das Bundesverfassungsgericht ist eben in diesen Angelegenheiten eigentlich schon seit seiner Entscheidung vom Vertrag von Maastricht 1993 immer in diesem Dilemma, dass diese Angelegenheiten ja zunehmend Angelegenheiten auf der europäischen Ebene sind, innerhalb der Europäischen Union verhandelt werden müssen, und dass dort auch entsprechende rechtliche Organe wie insbesondere der Europäische Gerichtshof in Luxemburg ja auch zur Überprüfung zur Verfügung stehen. Und das Gericht hat in der Vergangenheit aber immer erklärt, es behalte sich vom deutschen Verfassungsrecht immer noch eine Kontrolle auch solcher europäischen Vorgänge und Prozesse vor, und insofern hat es immer noch in seinem Argumentationsarsenal durchaus auch die Möglichkeit, etwa vom deutschen Verfassungsrecht her, EZB-Beschlüsse zu überprüfen.

    Armbrüster: Das heißt, Sie glauben nicht, dass die Karlsruher Richter irgendwann sagen würden, das ist nun wirklich nicht unser Belang hier, EZB, das ist Sache der EU, da lassen wir die Finger von?

    Schönberger: Die interessante Frage wird für das Gericht, glaube ich, sein, ob es vielleicht zum ersten Mal erwägt, eine entsprechende Frage dem Europäischen Gerichtshof vorzulegen. Es gibt ja in den europäischen Verträgen ein entsprechendes Verfahren, in dem nationale Gerichte Rechtsfragen des europäischen Rechts durch europäische Gerichte klären lassen können.

    Und das Bundesverfassungsgericht hat vor einer derartigen Vorlage an den Europäischen Gerichtshof bis jetzt immer zurückgeschreckt, weil es da wohl den Eindruck vermeiden wollte, es unterwerfe sich einem europäischen Gericht. Gerade in dieser Frage lässt sich aber durchaus denken, dass das Gericht hier eine entsprechende Vorlage machen könnte.

    Armbrüster: Kann es dann sein, dass wir hier gerade so eine Art Umbruch erleben, dass Karlsruhe langsam an Gewicht und Einfluss verliert und der Europäische Gerichtshof in Luxemburg gewinnt?

    Schönberger: Ich glaube, dass wir diesen Umbruch schon seit längerer Zeit beobachten können. Dem Gericht ist es bis jetzt nur gelungen, durch seine Formeln von Integrationsgrenzen den Eindruck ein wenig zu verwischen, und einer breiteren Öffentlichkeit sind ja die entsprechenden Europäisierungsprozesse im Detail auch gar nicht so vertraut. Wir erleben seit längerem, dass das Europarecht ganz maßgeblich vom Europäischen Gerichtshof in Luxemburg geprägt wird. Wir erleben im Bereich der Grundrechte die Entwicklung, dass die Grundrechte, die ja für das Bundesverfassungsgericht lange Zeit sehr wichtig waren, zunehmend vom Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte in Straßburg geprägt werden. Also das Gericht ist seit längerem in einem Prozess verwickelt, in dem es fast zwangsläufig an Einfluss und Bedeutung verlieren muss, und ich denke, das gestrige Urteil ist gewissermaßen vielleicht auch für eine breitere Öffentlichkeit der Ausdruck dieses Prozesses.

    Armbrüster: Herr Professor Schönberger, wenn wir uns das alles so angucken, was da auch gelaufen ist in den vergangenen Wochen und auch heute an Deutungen und Interpretationen, da kann man leicht den Eindruck haben, die europäische Integration ist vor allem eine Jobgarantie für Europas Juristen, eben weil es immer mehr zu klären gibt. Ist das korrekt?

    Schönberger: Das ist sicherlich richtig. Die europäische Integration ist ein sehr komplizierter Prozess, in dem das Recht eine ganz maßgebliche Rolle spielt, und weil hier ja auch immer wieder Europarecht und nationales Recht aufeinandertrifft, weil wir immer unterschiedlichere und komplexere Rechtsschichten haben, die aufeinander abgestimmt werden müssen, ist natürlich die Rolle der Juristen insgesamt in diesem Prozess eine bedeutende und wahrscheinlich noch weiter wachsende.

    Armbrüster: Heißt das auch, dass Juristen durchaus auch ein Interesse daran haben, dass nicht nur die europäische Integration weitergeht, sondern dass das alles auch ein bisschen komplizierter wird?

    Schönberger: Das ist vielleicht eine ganz allgemeine Frage an Juristen. Juristen haben sicherlich immer ein institutionelles Interesse daran, dass Rechtsfragen von ihnen geklärt werden und insoweit Rechtsfragen nicht unbedingt allen Laien in der gleichen Weise verständlich sind. Ich denke aber, über dieses institutionelle Interesse hinaus gibt es einfach eine erhebliche Zahl von Sachproblemen, die sehr komplexe rechtliche Regelungen erzwingen, und die müssen zwangsläufig eben dann von den Juristen interpretiert werden.

    Das interessante ist, glaube ich, beim Bundesverfassungsgericht der Prozess, dass dieses Gericht eben auf das nationale Recht, auf das deutsche Grundgesetz beschränkt ist in seinem Interpretationsanspruch. Und je mehr das nationale Recht in der Gestalt des Grundgesetzes in diesem Prozess relativiert wird, also die zentrale Bedeutung einbüßt, die es lange Zeit gehabt hat, geht eben auch die Rolle des Bundesverfassungsgerichts bei der Interpretation dieser Prozesse zurück.

    Armbrüster: Live hier bei uns im Deutschlandfunk war das Christoph Schönberger, Professor für Staatsrecht an der Universität Konstanz. Schönen Dank, Herr Schönberger.

    Schönberger: Bitte schön!

    Armbrüster: Auf Wiederhören.

    Schönberger: Auf Wiederhören.


    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.