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Staatssicherheit
Leben in einer Welt des Verrats

Packend wie ein Agentenroman: Alexander Kobylinski erzählt in seinem Buch "Der verratene Verräter" von Wolfgang Schnur. Als Rechtsanwalt vertrat er einerseits die Interessen von DDR-Opposition, mischte in der Kirche mit und pflegte zuletzt Kontakte zu westlichen Politikern. Andererseits war er auch 25 Jahre Inoffizieller Mitarbeiter der Stasi.

Von Isabel Fannrich-Lautenschläger | 18.05.2015
    Zellentrakt im ehemaligen Stasi-Gefängnis in Berlin-Hohenschönhausen, heute eine Gedenkstätte.
    Wegen Flugblättern in der Untersuchungshaft: Zellentrakt im ehemaligen Stasi-Gefängnis in Berlin-Hohenschönhausen. (dpa / picture alliance / KUVARYHMÄ / Niclas Makela)
    Kobylinksi: "Und dann kam so ein Tag vor etwa fünf Jahren. Da gab es so eine zufällige Begegnung am Zoo. Ich kauf' eine Zeitung und plötzlich steht an der Kasse einer hinter mir und ich denk': Das ist doch der Schnur. (...) Und ausgerechnet über den Schnur, der sehr wichtig war als IM, über den gibt es nichts. Da dachte ich seit diesem Moment, das ist deine Aufgabe."
    Dies war allerdings nicht die erste Begegnung. 1984 rief der damals 19-jährige Alexander Kobylinski zusammen mit Freunden auf Flugblättern dazu auf, die DDR-Kommunalwahl zu boykottieren und wurde festgenommen. Rechtsanwalt Schnur vertrat ihn vor Gericht.
    Kobylinski: "Er hatte durchaus die Fähigkeit, Vertrauen aufzubauen. Das konnte er. Und ich versuche das ja auch zu beschreiben, als er mich das erste Mal besucht hat in der Untersuchungshaft. Wie er da aufgetreten ist. Er hat es immer geschafft, seine jeweilige Rolle ganz auszufüllen. Also er war mein Rechtsanwalt, dem ich völlig vertraut habe."
    Seine eigene Geschichte schildert der Autor nur am Rande. Ihn interessiert die Figur Wolfgang Schnur, die in der DDR eine Sonderrolle spielte. War Schnur doch einer der wenigen, die als Einzelanwalt arbeiten durften. Er fuhr ein West-Auto, setzte sich für Bürgerrechtler, Oppositionelle und kirchliche Belange ein und wagte dabei manches kritische Wort. Zugleich arbeitete er 25 Jahre lang bis zum Fall der Mauer als Informeller Mitarbeiter der Staatssicherheit – ein Top-Agent.
    Verrat von Mandanten, Freunden und Geliebten
    "Ich will wissen, wie man leben konnte in einer Welt des Verrats von Mandanten, Freunden, Geliebten und Kircheninterna. Wo doch alle in Schnur nur den mutigen Kämpfer für die Bedrängten und den 'bekennenden' Christen sahen."
    Dass über Schnur nun eine Biographie vorliegt, war überfällig. Es ist nicht die erste über einen Top-Spitzel der DDR. Im Unterschied zu anderen Darstellungen wie die über Ibrahim Böhme kommt Schnur hier persönlich zu Wort.
    Das Buch nimmt im März 1990 seinen Ausgangspunkt, als Schnur nach einem Kreislaufzusammenbruch wie verloren in einem Krankenhausflur steht. Sein Absturz sei bodenlos gewesen, schildert der Autor: Wie Böhme wollte auch der 45-Jährige sich bei der letzten DDR-Volkskammerwahl zum Ministerpräsidenten wählen lassen, wurde aber wenige Tage vorher entlarvt.
    "Zwanzig Jahre später. Ob er nicht Angst gehabt hätte, dass doch alles rauskommt, frage ich ihn, als wir uns wieder einmal zu einem Gespräch in einem Café in Berlin treffen. 'Nein. Ich war im Rausch der Macht. Das war völlig weg. Ich bin gar nicht auf die Idee gekommen.'"
    Um heraus zu finden, wer Wolfgang Schnur war, führte Kobylinski Interviews mit ihm, durchkämmte rund 12.000 Seiten in 39 Stasi-Aktenordnern und befragte außerdem Protagonisten aus Politik, Kirchen- und Oppositionskreisen. Das Resultat ist eine chronologisch aufgerollte Biographie, ein Agentenroman, spannend und zuweilen etwas flapsig geschrieben.
    Schnur wurde im letzten Kriegssommer 1944 in Stettin geboren und von der Mutter in ein Kinderheim gegeben. Erst viel später erfuhr er von seinen Pflegeeltern auf Rügen, dass die Mutter noch lebte - im Westen.
    Die Stasi als Mutter-Ersatz
    1961 fuhr der 17-Jährige zu ihr. Sie ließ ihn nicht einmal über die Schwelle ihrer Wohnung. Und schickte ihn wieder in ein Heim. Diesen zweifachen Verrat durch die Mutter erklärt Kobylinski zum Dreh- und Angelpunkt von Schnurs weiterer Entwicklung. Zurück in der DDR, warb ihn die Staatssicherheit zunächst für kleine Tätigkeiten an. Endlich fühlte er sich angenommen, erläutert der Autor.
    Kobylinksi: "Er hat auch auf die Frage, die ich ihm gestellt habe, ob er nicht jemals Zweifel hatte, ob er sich darauf einlassen soll, weil ja völlig klar ist, dass er zum Verräter wird, und da sagte er: Nein, die haben mich angenommen, die haben mich akzeptiert und deshalb gab es keinerlei Skrupel – zu keinem Zeitpunkt."
    Schnur: "Ich kann das nochmal bestätigen: Mein Herz hängt an dieser Arbeit. (...) Ich fühle mich ja als einer dieser Kämpfer an der unsichtbaren Front, und weil ich auch davon überzeugt bin."
    Schnur im O-Ton. Die Staatssicherheit überwachte, wenig überraschend, jedoch auch ihn. Als „IM Torsten" erschlich er sich in den 70er Jahren das Vertrauen von Kirchenleuten und Bausoldaten. Dass er nach und nach zum Diener vieler Herren, als Anwalt von Ost und West bezahlt wurde, zeichnet das Buch in eindrucksvoller Weise nach.
    "Schnur tanzt endgültig auf allen Hochzeiten. Er ist inzwischen dicht dran an der Opposition, eilt von einem Prozesstermin in Sachen Wehrdienstverweigerung zum anderen, kommt seinen kirchlichen Verpflichtungen ebenso nach wie denen bei der Stasi, mit häufiger werdenden Treffs mit seinen Führungsoffizieren, und hält nach wie vor Kontakt zu Leuten aus der Ständigen Vertretung der Bundesrepublik in Ost-Berlin. Schnur absolviert ein schier unvorstellbares Arbeitspensum. Er wird doch überall gebraucht!"
    Schnur: "Ich glaube, nach wie vor ist sicherlich ein entscheidender Fehler, dass ich in der Tat mehr will, als ich vielleicht schaffe."
    "Ein Mann mit einem diabolischen Blick"
    Als einen Mann mit diabolischem Blick beschrieb ihn Horst Gienke, zu DDR-Zeiten Bischof der Pommerschen Evangelischen Kirche und IM. Merkwürdig genug, dass Schnur trotz des Unbehagens und der Zweifel, die er zuweilen auslöste, trotz seiner Westreisen, Autos und Freiheiten kaum jemandem suspekt wurde. Niemandem fiel auf, dass er als Rechtsanwalt für die Opposition keine großen Erfolge erzielte. Oder dass er kaltblütig Freunde verriet.
    "Da ist sie wieder, diese 'Gleichzeitigkeit' aus Verrat, Kalkül, Größenwahn und Hilfsbereitschaft, Mitleiden, der politischen Identifikation mit Mandanten, die verstört. Vielleicht gibt es den identitären Kern von Wolfgang Schnur einfach nicht. Deshalb kann das alles so scheinbar 'mühelos' miteinander auskommen."
    Alexander Kobylinski zeichnet das lesenswerte Porträt eines Getriebenen, der nach Aufmerksamkeit und finanziellem Profit zugleich suchte. Der Autor fängt die Anzeichen innerer Zerrissenheit und Überforderung ein: Schnur und seine Kreislaufzusammenbrüche, sein Nachdenken über einen Ausreiseantrag, die sprachlich immer distanzierteren Berichte an die Stasi.
    Die Frage aber, wie er den permanenten Verrat an allem und jedem mit sich vereinbaren konnte, hat Schnur - bedauerlicherweise, aber für einen Spitzel wenig überraschend - nicht beantwortet:
    Kobylinski: "Und dann guckt er einen so ein bisschen an, zuckt ein bisschen mit den Schulter und antwortet dann - und das war sehr typisch - und sagt: Ja, das war und ist eine meiner Fehleinschätzungen."
    Alexander Kobylinski: Der verratene Verräter. Wolfgang Schnur: Bürgerrechtsanwalt und Spitzenspitzel. Mitteldeutscher Verlag, Halle (Saale) 2015, 384 Seiten, 19,95 Euro.