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Stadt der Verlorenen
Leben im größten Flüchtlingslager der Welt

Fast 500.000 Menschen leben in Dadaab, dem größten Flüchtlingslager der Welt im dürren Nordosten Kenias. Hierhin fliehen seit fast 25 Jahren Somalis vor Bürgerkrieg, Gewalt und Islamismus. Der Journalist Ben Rawlence hat neun Flüchtlinge vier Jahre lang begleitet und mit "Stadt der Verlorenen" ein eindrückliches Buch darüber geschrieben.

Von Marc Engelhardt | 21.03.2016
    Flüchtlinge nehmen im Camp Dagahaley im kenianischen Dadaab eine Mahlzeit ein.
    Die Flüchtlinge in Dadaab dürfen die Grenzen des Lagers nicht verlassen und müssen dennoch täglich befürchten, abgeschoben zu werden. (dpa/picture alliance/WFP/Rose Ogola)
    Zu Beginn des Buchs sitzt Ben Rawlence im Weißen Haus, es ist das Jahr 2014. Er soll dem Nationalen Sicherheitsrat der USA erklären, was es mit Dadaab auf sich hat, dem größten Flüchtlingslager der Welt, mitten im dürren Nordosten Kenias. Doch die Schilderungen des Autors, der vier Jahre mit den vorwiegend somalischen Flüchtlingen von Dadaab verbracht hat, kommen nicht an.
    Er berichtet von einer wimmelnden Großstadt mit Kinos, mehreren Fußball-Ligen, Hotels und Krankenhäusern. Doch die Sicherheitsberater des US-Präsidenten haben nur ihr eigenes Bild im Kopf. Warum eigentlich, fragen sie, schließen sich die Flüchtlinge nicht alle der somalischen Terrormiliz Al-Shabaab an, die ihre Kämpfer so gut bezahlt?
    '"Armut führt nicht zwangsläufig zu Extremismus", sagte ich. Im Geiste sah ich die stolzen Imame vor mir, die ihre Traditionen gegen mörderische und verderbliche Einflüsse verteidigten; den entschlossenen Jugendvertreter Tawane, der sein Leben aufs Spiel setzte, um verschiedenste Angebote für Flüchtlinge aufrecht zu erhalten, nachdem Hilfsorganisationen aus Angst vor Entführungen Reißaus genommen hatten; Professor White Eyes, der im Lagerradio seine Berichte sendete. Wie konnte ich einen Eindruck von der enormen Würde, dem Mut und dem unabhängigen Geist dieser Menschen vermitteln, wenn sie in der Vorstellung der Politiker nur als potenzielle Terroristen existierten? "Sicher, sicher", sagte die Referatsleiterin. Es gab keine weiteren Fragen, und die Sitzung wurde frühzeitig beendet.'
    "Ich bin das Kind und die Mutter eines Flüchtlings und selber ein Flüchtling"
    Der Einstieg in das mehr als 400-seitige Buch ist klug gewählt. Denn auch der europäische Leser verbindet mit Flüchtlingslagern wie Dadaab vorgefertigte Bilder. Ein improvisierter, aber nur kurzfristiger Unterschlupf, den die Flüchtlinge bald wieder verlassen können, wenn der Krieg in ihrer Heimat vorbei ist.
    Luftaufnahme des Flüchtlingslagers Dadaab in Kenia
    Das Flüchtlingslager Dadaab in Kenia hat die Ausdehnung einer Stadt wie Zürich. (dpa / Brendan Bannon/Iom/Unhcr)
    1992 wurde Dadaab für ein paar tausend Flüchtlinge geplant. Heute leben fast 500.000 Menschen in der Stadt von der Ausdehnung Zürichs. Von Kurzfristigkeit kann keine Rede sein. Die 21-jährige Sarah etwa wurde in Dadaab geboren und hat dort selber eine Tochter zur Welt gebracht.
    "Meine Mutter kam als Flüchtling hierher, und dann wurde ich geboren. Ich bin das Kind und die Mutter eines Flüchtlings und selber ein Flüchtling."
    Sarah, die in einem der vier Lager lebt, die zusammen Dadaab ausmachen, würde gerne in die Heimat zurückkehren, die sie noch nie gesehen hat. Sie will nicht, dass ihre Tochter wie sie im Flüchtlingslager aufwächst.
    "Ich fühle mich wie eine Somalierin. Meine Eltern sind Somalis. Ich glaube fest daran, dass in Somalia eines Tages Frieden herrschen wird und ich dorthin ziehen kann. Mit der Ausbildung, die ich hier genossen habe, werde ich dazu beitragen, das Land wieder aufzubauen."
    Leben im Schwebezustand
    Es sind Schicksale wie das von Sarah, von denen Ben Rawlence in "Stadt der Verlorenen" erzählt. Leben im Schwebezustand, in dem Flüchtlinge städtische Strukturen aufbauen, die Grenzen des Lagers aber nie verlassen dürfen. Sie kennen deshalb nichts als Dadaab, aber müssen dennoch täglich befürchten, abgeschoben zu werden. Sie arbeiten, obwohl sie das nicht dürfen, und bauen kleine Existenzen auf, sind aber immer wieder abhängig von der kargen Hilfe, die die Weltgemeinschaft ihnen zukommen lässt. Sie dürfen nicht vor und können nicht zurück.
    "Allein und daher ohne Anspruch auf eine eigene Parzelle, musste Guled versuchen, eine Familie zu finden, die ihn aufnehmen würde. Manche Lagerbewohner verlangen Miete von einem alleinstehenden Mann, den sie bei sich wohnen lassen, andere einen Teil seiner Lebensmittelration. (...) Hawa Jube war der rauere Teil des Lagers, das üble Viertel. Es galt als Banditennest. Da die offiziellen Lager voll waren, hatten sich die Neuankömmlinge hier ausgebreitet, sich in der Wüste ihren eigenen Raum geschaffen, jenseits der vom UNHCR in den Sand gezogenen Linien. Es waren Leute aus Guleds Generation, die hier mit geröteten Augen und ruhelosem Blick eintrafen, den Krieg noch im Nacken."
    Rawlence: "Die Leute brauchen eine Hoffnung auf Zukunft"
    Flüchtlinge mit Gepäck auf dem Weg nach Dadaab im Norden Kenias 
    "Die Stadt der Verlorenen" erinnert an die Menschen, die hinter der abstrakten Flüchtlings-"Welle" stecken. (dpa / picture alliance / Boris Roessler)
    Rawlence ist schonungslos in seinen Beschreibungen. Er berichtet vom Markt, auf dem es Händler zu Dollarmillionären gebracht haben, weil sie mit Terroristen und korrupten Polizisten Handel treiben. Selbst wer nur Träger in dieser Schattenwirtschaft werden will, muss sich an ungeschriebene Gesetze halten. Die Jobs sind wichtig, denn Geld gibt es im Lager offiziell nicht und doch wird es überall gebraucht. In größter Not versetzen die neun von Rawlence Porträtierten ihre Tagesrationen, etwa um ein Telefonat bezahlen zu können. Es ist ein chaotisches und doch hoch organisiertes System, mit dem sich Rawlence' Helden irgendwie arrangieren - ebenso wie mit Epidemien, Überschwemmungen oder 45 Grad im Schatten. Was ihnen indes wirklich fehlt, ist eine Perspektive, kritisiert Rawlence bei einem Vortrag in New York:
    "Nach 25 Jahren brauchen die Leute eine Art Lösung für ihr Leben, eine Hoffnung auf Zukunft. Aber Guled in meinem Buch etwa kann nicht zurück nach Somalia und auch nicht nach Kenia. Und es gibt keine Umsiedlungsprogramme ins Ausland mehr. Das ist die Krux unserer Flüchtlingspolitik: Früher war ein Flüchtlingslager eine Zwischenstation auf dem Weg ins Exil. Heute wollen die reichen Länder keine Flüchtlinge mehr, erst recht keine Muslime. Und deshalb werden die Flüchtlingslager immer größer und größer und größer."
    Die Flüchtlingskrise durch die Augen der Flüchtenden
    Dieses Flüchtlingssystem hat ausgedient, bilanziert Rawlence. Auch deshalb sieht Guled, den Rawlence immerhin seit vier Jahren kennt, am Schluss nur noch eine Lösung: Europa - trotz der Gefahren, der Kosten und der Angst. Europa symbolisiert für ihn die Hoffnung, die es in Dadaab nicht gibt.
    Straße im Flüchtlingslager Dadaab, Kenia
    Im Flüchtlingslager Dadaab in Kenia kämpfen die Bewohner mit Epidemien, Überschwemmungen und 45 Grad im Schatten. (dpa Kennedy Abwao)
    Und so erzählt Rawlence ganz nebenbei auch die Geschichte der Flüchtlingskrise durch die Augen der Flüchtenden. Es ist eine Entwicklung, die sich für den Leser wie von selbst ergibt. Wer, so fragt man sich, würde nicht alles riskieren, um aus Dadaab und den vielen ähnlichen Lagern überall auf der Welt herauszukommen? So erinnert "Die Stadt der Verlorenen" an die Menschen, die hinter der abstrakten Flüchtlings-"Welle" stecken. Deren Schicksale beschreibt Rawlence lebendig, geduldig und ohne moralischen Zeigefinger. Auch deshalb ist ihm ein starkes Buch gelungen.
    Ben Rawlence: "Stadt der Verlorenen. Leben im größten Flüchtlingslager der Welt",
    Übersetzung: Bettina Münche, Kathrin Razum, Verlag Nagel & Kimche,
    416 Seiten, 24,90 Euro, ISBN: 978-3-312-00691-5