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Standardnote "gut"

Kopfnoten zu vergeben, war gar nicht so einfach. Mancher Lehrer lag dafür nächtelang wach. Wie sollte er Sozialverhalten gerecht in Noten fassen? Schüler und Eltern dagegen nahmen die neuen Zensuren längst nicht so wichtig - wie das Beispiel an einem Gymnasium im Münsterland zeigt.

Von Eva Bendix |
    Wegen der Kopfnoten lag Bernd Vogt nächtelang wach. Er ist Schuldirektor am Clemens-Brentano-Gymnasium im münsterländischen Dülmen.

    "Es war schon einer der schwierigsten Tage in den letzten Jahren, der mich auch nachts in der Tat verfolgt hat und mit unter die Bettdecke gekrochen ist. Wir alle haben das Gefühl, dass wir vielen Schülern gar nicht gerecht worden sind. Wer erzieht, der muss Beziehung aufbauen. Und bei 33 Kindern pro Klasse gelingt das nur ansatzweise. Da sind wir uns einig, dass das ein völlig untaugliches Mittel ist, so wie das im Moment praktiziert wird."

    Das Ergebnis hielten seine Schüler gestern morgen mehr oder weniger strahlend in der Hand:

    "Ich habe in Leistungsbereitschaft 'sehr gut', in Konfliktbereitschaft 'sehr gut', in Zuverlässigkeit 'sehr gut', in Selbständigkeit 'sehr gut', in Verantwortungsbereitschaft 'sehr gut' und in Kooperationsbereitschaft 'sehr gut'."

    "Ich habe im Unterricht nicht gestört, bin nicht aufgefallen, habe mich eigentlich nicht gemeldet: deswegen nur eine 'zwei'."

    "Ich habe eine 'drei' in Leistungsbereitschaft. Bin manchmal zu faul, höre nicht immer zu, mache nicht alle Aufgaben. So schlimm ist das auch nicht."

    "Für mich sind die anderen Noten wichtiger. Ich glaube aber auch nicht, dass die Lehrer das so Ernst genommen haben."

    Da irrt die Schülerin aus der neunten Klasse gewaltig. Tagelang haben sich die Lehrer in Konferenzen zusammengesetzt und über jeden einzelnen Schüler diskutiert. Schuldirektor Bernd Vogt erzählt, was sich da im Lehrerzimmer abgespielt hat:

    "Ich mache das deutlich an einem Russlanddeutschen. Die Klassenlehrerin hat ihn in Russisch: Und da hat er immer seine Hausaufgaben gemacht, war immer pünktlich, hat sich einen Arm ausgerissen. Da hat sie ihm in allen Bereichen ein 'sehr gut' gegeben.

    Die anderen Fachlehrer erlebten ihn als schwierigen Schüler, der permanent zu spät kam, nie seine Hausaufgaben hatte. Diesen Blickwinkel hatte seine Klassenlehrerin nicht. Da haben wir dann diskutiert und verhandelt, was unendlich viel Zeit erfordert hat."

    Die Kopfnoten, über die die Lehrer sich zum Teil die Köpfe heiß geredet haben, nehmen ihre Schüler längst nicht so wichtig:

    "Für mich relativ unwichtig, weil ich es nicht kannte und ich mich damit jetzt auch nicht bewerben will. Spielt für mich nicht so eine große Rolle."

    "Finde ich wirklich unwichtig. Die Lehrer können die Schüler nicht richtig beurteilen, es sind zu viele. Von daher sind die Kopfnoten nicht wirklich aussagekräftig. Unter anderen Umständen - wenn Lehrer mehr Zeit hätten, sie weniger Schüler beurteilen müssten - wäre das anders. Aber so könnte man auch allen Schülern eine Standartnote geben."

    Von einer Standardnote sind die Lehrer dieser Schüler in der Tat ausgegangen. Gert Strothkämper unterrichtet in der Oberstufe. Dort ist es schon schwierig, jeden Einzelnen Schüler zu kennen:

    "Wir haben uns überlegt: Es ist sinnvoll, erst mal von der Standardnote 'gut' auszugehen. Dass man jedem Schüler unterstellt, dass er in diesen Bereichen gute Leistungen erbringt. Und dann ist es die Aufgabe herauszufinden: Wo weichen Schüler nach unten, aber auch nach oben, ab. Denn für mich ist es ganz wichtig, dass man die herausragenden Leistungen herausstellt."

    Um einigermaßen ein Bild von ihren Schülern zu bekommen, notieren die Klassenlehrer alles, was ihnen auffällt. Ob Raufereien auf dem Flur oder ein geschlichteter Streit: Wie hilfsbereit ist jemand, entwickelt er eigene Ideen? Brigitte Kress, Russischlehrerin, beobachtet ihre Schützlinge jetzt etwas genauer:

    "Ich erlebe, dass es sich auch jetzt schon auswirkt bei einigen Schülern, die ehrgeizig sind und das Schuljahr mit Blick auf das Zeugnis anfangen. Dass sie zum Beispiel bei Konflikten darauf aufmerksam machen. Was ich dann beim Vorbeigehen höre: 'Pass mal auf, was Du für eine Note im Sozialverhalten bekommst'."

    Die ersten Kopfnoten sind verteilt, und die Schüler müssen sie nun zuhause vorzeigen. Bei den Eltern stößt die neue Benotung auf gemischte Gefühle:

    "Ich halte gar nichts von Kopfnoten, weil ich nicht denke, dass das objektiv entschieden werden kann, was man den Kindern für eine Note geben soll."

    "Ich glaube dass da Antipathien von Lehrern eine große Rolle spielen. Und außerdem glaube ich, dass das Hauptproblem von Kopfnoten ist, dass sie eine sehr große Rolle einnehmen können, wenn es später um Lehrstellen geht. Und diese Stellung dürfen sie einfach nicht bekommen."

    "Was ich mich frage, ob zum Beispiel Entwicklungsphasen von Kindern berücksichtigt werden. Zum Beispiel die Pubertät als Phase der Abgrenzung, Kriegt man jedes Mal eine fünf oder sechs, wenn man sich dem Lehrer verweigert?"

    "Eine gute Note in der Sorgfaltspflicht ist für mich genauso wichtig wie ein gute Note in Mathe oder Englisch. Es spiegelt das Sozialverhalten wieder, und das sind in der heutigen Zeit ganz wichtige Komponenten."

    "Kopfnoten ja, aber es würde reichen, wenn wir eine für Arbeitsverhalten und eine für Sozialverhalten vergeben."