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Starker Tobak

Sieben Geschichten, sieben Einzelschicksale. Jedes könnte für sich allein stehen. Aber die Texte von Danilo Kis sind personell, zeitlich und räumlich äußerst kunstvoll miteinander verschränkt. Allen gemeinsam ist das Thema Autoritätsgläubigkeit, Unterwerfungsbereitschaft, blinder Gehorsam und bedingungslose Loyalität.

Von Sabine Peters | 29.11.2005
    Die Existenz des Schriftstellers Danilo Kis war immer eine im "Dazwischen": Er wurde 1935 in Jugoslawien geboren, die Familie kam aus Ungarn, der Vater war Jude, er selbst wurde getauft. Kis emigrierte Ende der siebziger Jahre nach Frankreich, wo er 1989 starb. Kis´ persönliches Dazwischen sein spiegelt sich in all seinen Texten, ob sie um den Faschismus oder um den Stalinismus kreisen. Seine Bücher, hier zu Lande so wenig bekannt wie vieles aus dem osteuropäischen Raum, gehören zu den großen Werken der europäischen Literatur des zwanzigsten Jahrhunderts; ihrer Ästhetik nach sind sie ein Teil der klassischen Moderne.

    Der Hanser-Verlag hat jetzt Ilma Rakusas Neuübersetzung eines zuerst 1976 in Zagreb und Belgrad erschienenen Buchs vorgelegt, Titel: "Ein Grabmal für Boris Dawidowitsch". Der Untertitel, "Sieben Kapitel ein und derselben Geschichte", verweist auf den Kern des Buchs: Man hat zwar sieben Geschichten, sieben Einzelschicksale vor sich, die jedes für sich allein stehen können. Aber die Texte sind personell, zeitlich und räumlich äußerst kunstvoll miteinander verschränkt, und sie umkreisen allesamt das Wesen des Stalinismus. Im Unterschied zu anderen Romanen entwirft Kis hier kein Panorama der gesammten Zeit, das Aufkommen des Faschismus und der spanische Bürgerkrieg werden hier nur gestreift. Die Erzählungen bewegen sich bis auf eine in den zwanziger, dreißiger Jahren. Die Figuren sind Russen, Polen, Iren, Ungarn, meist Juden - und doch wurde der Roman 1976 in Jugoslawien heftig angegriffen und mit unhaltbaren Plagiatsvorwürfen überschüttet. Man muss, so heißt es im Vorwort, wahrscheinlich davon ausgehen, dass das Buch wegen seiner Stoßrichtung attackiert worden war; die hier von Kis untersuchten stalinistischen Strukturen waren ja auch in Jugoslawien nicht von einem Tag auf den andern verschwunden.

    Kis zeigt auf Einzelne, die dem revolutionären Aufbruch zustimmen und ihn aktiv betreiben. Aber schon bald wird dieser Aufbruch mit Haltungen und Handlungen verbunden, die sich nicht unter Hinweis auf den Gegner verteidigen lassen. Was sind das für Haltungen und Handlungen? Autoritätsgläubigkeit, Unterwerfungsbereitschaft, blinder Gehorsam, bedingungslose Loyalität. Miksa bringt befehlsgemäß und aus Gründen der Parteiräson einen angeblichen Spitzel um. Die Willkür des Systems richtet sich später auch gegen ihn; er wird verhaftet, gefoltert, gesteht den befohlenen Mord. Auch jetzt, wo es buchstäblich ums eigene Leben geht, lehnt er sich nicht auf gegen die Macht. Sondern, gebrochen ab welchem Zeitpunkt eigentlich?, sucht er Trost auf einem Bild des väterlichen Stalin. Dann heißt es weiter, in einer jähen Anwandlung von Vertrauen fügte Miksa seinem Geständnis hinzu, er sei Agent der Gestapo und habe an der Unterhöhlung der Sowjetunion gearbeitet.

    Diese Szene zeigt, es geht Kis um die Selbstzerstörung innerhalb des sozialistischen Lagers. Seine Texte machen auf verstörende Weise deutlich, dass Selbstzerstörung, dieses Sich-selbst-zum-Gegner-werden ein wesentlich komplizierterer Vorgang als die vergleichsweise einfache Zerstörung ist. Einige der Verrenkungen, von denen man hier liest, wirken anfangs manchmal komisch, bald dann grotesk; und immer schlagen sie in Grauen um. Da wird etwa in Kiew der Besuch eines französischen Linksradikalen angekündigt, von dem man munkelt, er verteidige die Priester und die Religionsfreiheit. Prompt befiehlt ein Politkommissar, die Sophienkathedrale, die inzwischen unter anderem als Bierbrauerei dient, wieder in einen Kirchenraum zu verwandeln; der Kommissar und die Genossen ihrerseits verkleiden sich als Popen beziehungsweise als fromme Bürger, und der gutgläubige Franzose ist erfreut. Kis setzt die entsprechende Szene mit dem ihm eigenen trockenen Humor ins Bild. Das Lachen bleibt einem im Hals stecken, wenn man liest, wie der Kommissar und seine Genossen in Ungnade fallen und nach ihrer Verhaftung 1938 enden. Sie werden nicht nur physisch zerstört, in der Folter zurückgeworfen auf ein vorsprachliches Stadium. So etwas wie ein Gewissen, etwa in Form der Treue zur eigenen Biografie, wird als Egoismus bezeichnet. Sie sollen sterben als Verräter an der eigenen Sache. Kurz: Die Toten werden ihrer Geschichte, das heißt ihrer Würde beraubt.

    Dass der ethische Gehalt dieser Texte frei ist von jeder belehrenden Geste, hat mit Danilo Kis´ Ästhetik zu tun. Sein Schreiben bewegt sich nie lange auf einer Ebene, sondern wechselt ständig: Zwischen Fakten und Fiktionen, zwischen Stofffülle und Lakonie, zwischen Raserei und Disziplin, zwischen ironischem und tragischem Tonfall. Dieses Schreiben will nicht mitreißen, will nicht auf ein einziges Gefühl hinaus, ob Mitleid, oder Entsetzen, oder Empörung. Vielmehr fordert Kis´ Schreiben, klug kalkuliert, dass der Leser sich seinerseits selbständig bewegt, sofern es ihn mit einer ganzen Palette widersprüchlicher Gefühle und Haltungen konfrontiert. Es ist gewollt, dass man oft nicht mehr weiß, bei welcher Figur denn die eigenen Sympathien liegen.

    "Ein Grabmal für Boris Dawidowitsch" artikuliert eine fortwährende Befremdung, die Texte werden nicht fertig mit dem, von dem sie reden. Es hat den Anschein, Kis fand eine neue Form des Sprechens über das Phänomen der Selbstzerstörung. Das gibt diesen "alten" Texten über eine noch ältere Zeit aus dem letzten Jahrhundert ihre Gültigkeit.


    Danilo Kis: "Ein Grabmal für Boris Dawidowitsch"
    Hanser Verlag