206 Seiten umfasst die Stasi-Opfer-Akte Ernesto. Sie belegt, wie die DDR-Spitzen-Sprinterin Ines Geipel einst bespitzelt wurde, nicht erst, als die Stasi von ihren Fluchtplänen erfuhr. Nach dem Sport hat sie fast 20 Bücher verfasst. Sie gilt als wichtige Stimme zur Aufarbeitung der DDR-Diktatur und des Staatsdopings.
Nicht jeder darf in ihrer Akte einfach blättern, man muss vorab einen Antrag bei der Stasi-Unterlagenbehörde stellen und ihn begründen, Stasi-Opfer haben das Recht, die Einsicht zu gewähren oder zu verweigern. Denn Opfer und ihre Akten sind besonders geschützt, um Schindluder mit ihnen zu verhindern.
Als Stasi-Opfer nicht gefragt
Umso mehr erschrak die Schriftstellerin, als sie völlig unerwartet ein Foto von einer Seite aus ihrer Akte bekam. "Anhand dieses einen Fotos ist klar, dass es nicht nur ein Dokument gegeben hat, sondern wenigstens fünf, weil dieses Foto eben die Nummerierung fünf trägt. Also, es ist doch sehr wahrscheinlich, dass es dann eins, zwei, drei und vier gibt. Vielleicht noch mehr."
Erhalten hat sie das Foto von Werner Schulz, dem grünen Bundes- und Europa-Politiker, einem Freund. Im Gespräch via Internet hält er das Bild in die Kamera. Zu sehen ist auf dem Foto eine aufgeschlagene Seite in einem Hefter. Schulz tippt auf den Behördenstempel und einen zusätzlichen Hinweis:
"Bstu - Null, Null, Null, 83. Es ist offenbar Seite 83 aus der Akte. Und hier oben sieht man eben noch so ganz klein, dass das auf dem Schreibtisch abfotografiert wurde, da ist ja der Antrag zur Ziehung der Akte quasi. Man sieht, von wem das bestellt worden ist."
Dass die Geipel-Akte angefordert wurde, hätte sie als Betroffene erfahren müssen, die Behörde sowieso. Doch dort weiß man nicht, wer die Akte haben wollte, auch der auf dem Foto ebenfalls sichtbare Bestellschein gab keinen Aufschluss.
Schutz reicht nicht aus
Zu erkennen war zwar das Forschungsprojekt, das hat aber keinerlei Verbindung zu Ines Geipel.
"Landschaften der Verfolgung - das ist der Titel, eines Forschungsprojektes in Potsdam, wo es um Menschen geht, die im Gefängnis gesessen haben in der DDR, also ich praktisch damit ja gar nichts zu tun habe, was von vornherein offenbar war an dem ganzen Vorgang."
Dass die Entscheidungshoheit über die eigene Akte ausschließlich beim Stasi-Opfer liegt, hat als Schutz offenbar nicht ausgereicht. Das sollte man auch im Bundesarchiv wissen, das vom 17. Juni an die Verantwortung für die Stasi-Unterlagen übernimmt.
Wer die Geipel-Akte gezogen und abfotografiert hat, ist unklar. Das Foto von einem Blatt der Akte, das Werner Schulz an Ines Geipel geschickt hat, wurde ihm selbst unverlangt zugesandt. Von jemandem, der seit 20 Jahren in der Stasi-Unterlagenbehörde arbeitet: Ilko-Sascha Kowalczuk. Dessen letztes Buch über die Wiedervereinigung kritisierte Geipel, weil Kowalczuk darin die DDR zum Opfer einer feindlichen westlichen Übernahme stilisierte. Entsprechend fiel ihre Rezension im Deutschlandfunk Kultur aus. Kowalczuk verlangte, die Buchbesprechung von der Webseite zu entfernen.
Ilko-Sascha Kowalczuk wollte Zweifel an Ines Geipels Biografie säen, sagt DDR-Bürgerrechtler Werner Schulz. Damit habe Kowalczuk nicht erst mit Geipels Kritik an seinem Buch "Die Übernahme" begonnen, sondern schon im Herbst 2019, als er mit dem Historiker noch befreundet war.
"Der Anfang war so eine Chatgruppe, die wir hatten, zu 1989. Die war ursprünglich gegründet worden, aus Protest, dass Gregor Gysi am 9. Oktober in Leipzig so eine Rede hält. Und da tauchte plötzlich von Ilko-Sascha Kowalczuk der Hinweis auf: Geipel, da stimmt doch irgendetwas nicht, wusstet Ihr, dass die in der SED war. Und dann kam von Kowalczuk der Hinweis: Ich gehe der Sache mal nach."
In der Chatgruppe wussten sie längst von Geipels SED-Mitgliedschaft. Sie hätte sonst nicht zu den Olympischen Spielen in Los Angeles gedurft, wie sie 2014 in ihrem Buch "Generation Mauer" schrieb. Die Aufregung in der Chatgruppe blieb entsprechend aus. Doch Kowalczuk soll weiter gebohrt haben: ihr angeblich privilegiertes Germanistikstudium, ihr vermeintliches Leistungsstipendium.
Mail mit Betreff: "Fundstück unter vielen"
"Also mich hat das alles nicht überzeugt. So und deswegen kam dann dieses 'Fundstück unter vielen'."
"Fundstück unter vielen" – hatte Kowalczuk in die Betreffzeile der Mail an Schulz mit dem Foto am 18. Dezember 2019 geschrieben. Abgebildet war ein Stasi-Bericht, wie sich die damalige Studentin auf Druck der Sport-Führung von ihrer Freundin distanzieren musste, weil die einen Ausreiseantrag gestellt hatte. Für Schulz ein Vorgang, zu dem viele in der DDR genötigt wurden. Als er erfährt, dass Kowalczuk auch an die Jury des Lessing-Preises geschrieben hat, weiß er, dass er den Freund nicht mehr einfangen kann.
"Sie kriegte ja den Lessing-Preis. Und er schrieb dann der Lessing-Jury: 'Also passen Sie mal auf, da stimmt vieles nicht. Und halten Sie sich mit der Lobpreisung zurück zu Geipel.' Also, ich fand das ja sehr unangenehm, wirklich diffamierend."
Am 14. Februar 2020 schickt Schulz Ines Geipel die Mail samt Foto, zumal die nicht als vertraulich gekennzeichnet war. Sein Freund Kowalczuk ist empört.
"Er hat sich dann bei mir beschwert. Und ich habe gesagt: Mein Lieber, wir sind befreundet. Du weißt ganz genau, dass du damit wirklich verstoßen hast gegen das Stasi-Unterlagen-Gesetz. Und du bist Projektleiter in der Forschungsabteilung. Also ich meine, ich finde das nicht irgendwie eine Lappalie."
Akten in der Behörde nicht sicher
Auf Anfrage des Deutschlandfunks erklärt Kowalczuk, er habe nie eine Akte über Frau Geipel eingesehen oder auch nur beantragt. Er weist zudem darauf hin, dass er seit April 2018 von der Stasi-Unterlagenbehörde beurlaubt sei. Sein Anwalt sagt, sein Mandant habe auch keine geschützten Unterlagen unberechtigt weitergeleitet oder öffentlich gemacht.
Ines Geipel konfrontiert die Behörde mit dem Leck und dass deren Mitarbeiter Ilko-Sascha Kowalczuk ein Foto von ihrer Akte verschickte.
"Sie haben über ein Jahr ermittelt. Also man hat mir auch immer deutlich gemacht, wir sind sehr daran interessiert, und wir erhalten diesen Vorgang selbst für skandalös und erschreckend. Aber wenn natürlich die Protagonisten schweigen, hat die Behörde natürlich auch Grenzen der Ermittlung."
Wer sich die Akte beschaffte, konnte die Behörde nicht klären, sie erstattete Strafanzeige gegen Unbekannt. Zuvor hatte sie gegen zwei Beteiligte arbeitsrechtliche Maßnahmen verfügt, wie sie Ines Geipel schrieb. Aus Datenschutzgründen wird die Behörde nicht genauer. Ines Geipels Vertrauen in den Umgang mit den Stasi-Opfer-Akten ist erschüttert.
"Diese Aufarbeitungslandschaft ist hoch verstritten. Mein letztes Buch hieß 'Umkämpfte Zone'. Gerade im Interesse der mehr als drei Millionen DDR-Opfer von DDR-Unrecht wäre uns allen sehr geholfen, wenn wir in dieser Auseinandersetzung mit der DDR-Geschichte in einem Boot unterwegs wären."
Weil ihre Akte in der Behörde nicht sicher ist, fordert Ines Geipel sie zurück.