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Stasiologie
Eine Theorie des Bürgerkriegs

Giorgio Agamben geht den geisteswissenschaftlichen Wurzeln des Begriffs "Bürgerkrieg" auf den Grund. Der italienische Philosoph schlägt einen Bogen von der griechischen Antike bis nach England im 17. Jahrhundert. Er gibt aber keine Antworten auf die Bürgerkriege und Krisen der Gegenwart.

Von Tamara Tischendorf | 30.01.2017
    Schlacht von Fort Sanders im amerikanischen Bürgerkrieg 1863
    Schlacht von Fort Sanders im amerikanischen Bürgerkrieg (imago/StockTrek Images)
    Stell dir vor, überall herrscht Bürgerkrieg und niemand denkt darüber nach. Etwa so beschreibt der Philosoph Giorgio Agamben die Ausgangslage, die sein Buch motiviert.
    "Es gibt heute ebenso eine 'Polemologie', eine Theorie des Kriegs, wie eine 'Irenologie', eine Theorie des Friedens, aber es fehlt an einer 'Stasiologie', einer Theorie des Bürgerkriegs."
    Dieses Manko sei umso verwunderlicher, als die Welt in einen "Weltbürgerkrieg" verstrickt sei: "Der Terrorismus ist der 'Weltbürgerkrieg', der mal dieses, mal jenes Gebiet auf diesem Planeten trifft."
    "Stasis" bezeichnet den Bürgerzwist in den Stadtstaaten der Antike
    Unter dem Titel "Stasis" vereinigt der Zeitdiagnostiker Agamben zwei Studien, die im Jahr 2001 im Rahmen von Seminaren an der Princeton University entstanden sind. Darin entwirft er keine eigene Theorie des Bürgerkriegs, sondern rekonstruiert wesentliche geistesgeschichtliche Momente im Nachdenken darüber. Der schmale Band ist der vorletzte im Rahmen der "Homo-Sacer Reihe" - einer Folge von Texten, in denen Agamben im Anschluss an Michel Foucault und Carl Schmitt den auf das "nackte Leben" reduzierten Menschen als eigentliches Subjekt der Moderne beschreibt.
    Im ersten Teil seines Buches konzentriert sich Agamben auf Zeugnisse von Philosophen und Historikern des klassischen Griechenlands. Der zweite Teil dreht sich um einen Klassiker der politischen Theorie: um Thomas Hobbes' "Leviathan" aus dem 17. Jahrhundert.
    Der Titel der Studie "Stasis" ist der klassischen Antike entlehnt. "Stasis" bezeichnet den Bürgerzwist in den Stadtstaaten der Antike. Die französische Historikerin und Anthropologin Nicole Loraux interpretiert die griechischen Bürgerkriege als "Krieg innerhalb der Familie." Agamben widerspricht:
    "In der stasis entfällt der Unterschied zwischen der Tötung des Nächsten und der des Fremdesten. Das aber bedeutet, dass die stasis nicht innerhalb des Hauses verortet ist, sondern vielmehr, dass sie eine Schwelle der Ununterscheidbarkeit zwischen oikos und polis, Blutsverwandtschaft und Staatsangehörigkeit, bildet."
    Griechische Bürger mussten für eine Seite Partei ergreifen
    Die griechische Antike trennte das biologische Leben des Einzelnen konzeptionell strikt vom politischen Körper des Staatsbürgers. Agamben behauptet einen fließenden Übergang. Politik stellt sich so - in der Antike wie heute - als "Kraftfeld" dar: "Die Politik ist ein Feld, das unablässig von den polaren Spannungen der Politisierung und der Entpolitisierung, der Familie und der Stadt durchzogen wird."
    Der Bürgerkrieg markiert demnach den Umschlagpunkt ins Politische:
    "Die stasis fungiert wie ein Reagens, das unter extremen Bedingungen das politische Element kenntlich macht, wie eine Schwelle der Politisierung, die von sich aus die politische oder unpolitische Beschaffenheit eines gewissen Wesens bestimmt."
    Um seine These zu untermauern, verweist Agamben auf das solonische Gesetz. Das zwang die griechischen Bürger - nach Agambens Interpretation - in Zeiten des Bürgerkriegs für eine Seite Partei zu ergreifen. Zugleich herrschte im antiken Griechenland ein Amnestie-Gebot für alle Verbrechen, die während des Bürgerzwists begangen wurden. Hier kommt die für Agamben typische Denkfigur des gleichzeitigen Aus- und Einschlusses ins Spiel. Der Bürgerkrieg ist demnach kein Ausnahmezustand, der sich von der Ordnung des häuslichen und des politischen Lebens unterscheidet, sondern ist im städtischen Leben stets latent gegenwärtig.
    Wenn der Souverän bestimmt, ist das Volk nur eine Masse
    So verschieden die Konzepte des Bürgerkriegs in der Antike und im England des 17. Jahrhunderts auch sind: In beiden Fällen fungiert der Bürgerkrieg aus Agambens Sicht als - Zitat - "grundlegende Schwelle der Politisierung". Und: Der repräsentative Staat zeichne sich hier wie dort durch die "Abwesenheit des Volkes" aus. Agamben nähert sich Hobbes' Leviathan im zweiten Teil seines Buches kenntnisreich über das berühmte Titelblatt der ersten Ausgabe: Der Kupferstich zeigt eine Herrscherfigur, die Stadt und Land überragt. Ihr Körper ist aus lauter kleinen Menschen zusammengesetzt.
    "Die Vereinigung der Vielzahl der Bürger zu einer einzigen Person ist so etwas wie eine perspektivische Illusion, die politische Repräsentation ist bloß eine optische Repräsentation."Denn, so heißt es bei Hobbes: Das Volk löst sich just in dem Moment, in dem es den Souverän bestimmt, in eine ungeordnete Menge auf.
    "Das Volk - der body political - besteht nur für einen Moment, in dem Augenblick, in dem es 'einen Menschen oder eine Versammlung von Menschen bestimmt, der seine Person verkörpern soll'; dieser Augenblick aber fällt zusammen mit seinem Verschwinden in der 'aufgelösten Menge'."
    Keine Antworten auf die Bürgerkriege der Gegenwart
    Agamben versucht auch für Hobbes' Staatstheorie nachzuweisen, dass der repräsentative Staat nur vordergründig eine Ordnung herstellt. Der Frieden stiftende Staat sei nur in paradoxen Begriffen denkbar. In Wahrheit bleibe die Wirkungsmacht von Naturzustand und Bürgerkrieg allgegenwärtig. Bei seiner Hobbes-Interpretation lehnt sich Agamben eng an Carl Schmitts Essay aus den 1930er Jahren über das mythische Symbol des Ungeheuers Leviathan an. Er liest Hobbes' Schrift - wie Schmitt - in theologischer Perspektive. Am Ende kommt er zu dem Schluss, dass die "heutige Politik" "auf einer Säkularisierung der Eschatologie" gründet. Was der christlichen Eschatologie das Jüngste Gericht ist, das ist demzufolge der heutigen Politik die "Krise".
    So virtuos Agambens Text- und Bildinterpretationen auch sind: Wenn es um die Anschlussfähigkeit seiner Erkenntnisse für die Gegenwart geht, lässt er den Leser allein. Zum Thema Bürgerkrieg und Krise der Repräsentation in der Gegenwart schlägt Agamben nur äußerst wackelige Brücken. Wem Agambens Begriffsuniversum bereits vertraut ist, dem erschließt sich der Text leichter. "Stasis" ist sicher kein Schlüsseltext der Homo-Sacer Reihe.
    Giorgio Agamben: "Stasis. Der Bürgerkrieg als politisches Paradigma"
    S. Fischer Verlag, 94 Seiten, 20 Euro.