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Staufener Missbrauchsfall
Behörden arbeiten ihr eigenes Versagen auf

Nach dem Missbrauch eines Jungen im baden-württembergischen Staufen haben die Behörden im Land eine Analyse ihrer eigenen Versäumnisse vorgelegt. Damit ein ähnliches Versagen nicht mehr vorkommt, will die Landesregierung (*) Strukturen verändern.

Von Uschi Götz | 13.09.2018
    Der wegen Kindesmissbrauchs angeklagte Lebensgefährte (M, helle Weste) und die angeklagte Mutter (r) sitzen in einem Saal des Landgerichts. Zwischen ihnen stehen die Verteidiger Martina Nägele und Matthias Wagner. ACHTUNG: Angeklagte wurden auf Anweisung von Gericht und Anwälten gepixelt.
    Vor Gericht kam das ganze Ausmaß des systematischen Missbrauchs ans Licht. Jetzt ist die Frage: Wie lassen sich derartige Fälle in Zukunft verhindern? (picture alliance / dpa / Patrick Seeger)
    Der Abschlussbericht ist 33 Seiten lang, nüchtern geschrieben und frei zugänglich im Internet zu finden. Im Fall des heute zehnjährigen Jungen aus Staufen wurden Gerichtsauflagen nicht überprüft, Informationen nicht weitergegeben.
    Zu diesem Ergebnis kommt eine Arbeitsgruppe des Oberlandesgerichts Karlsruhe, des Amtsgerichts Freiburg und des Landratsamtes Breisgau-Hochschwarzwald. Die Aufklärer sind zugleich auch die Mitverantwortlichen. Selbstkritisch haben sie ihre jeweiligen Rollen in dem Fall überprüft, offen reden sie über eigene Versäumnisse:
    "Wir haben unsere Rolle als Verfahrensbeteiligter nicht voll ausgespielt. Wir haben das juristische Feld des familiengerichtlichen Verfahrens nicht komplett bespielt. Wir haben die Entscheidung des Gerichts, das Kind nicht anzuhören, und dem Kind keinen Verfahrensbeistand an die Seite zu stellen, nicht kritisch hinterfragt. Und sind ihr auch nicht entgegengetreten", räumt der Jurist Thorsten Culmsee ein. Als Sozialdezernent des Kreises Breisgau-Hochschwarzwald verantwortet er die Arbeit des Jugendamtes, das für den Jungen aus Staufen zuständig war.
    Gericht gab den Jungen wieder zur Mutter
    Zwar hatte das Jugendamt veranlasst, den Jungen Monate vor der Verhaftung seiner Mutter und des Lebensgefährten in Obhut zu nehmen. Doch das Familiengericht entschied kurze Zeit später, das Kind wieder zu seiner Mutter zu geben.
    Die Richterin am Freiburger Amtsgericht hatte dabei den Jungen nicht befragt und ihm auch keinen Verfahrensbeistand zur Seite gestellt.
    Auch der Hinweis einer Lehrerin, wonach der Junge gegenüber einem Mitschüler vage Andeutungen über die Vorgänge bei sich zuhause machte, wurde nicht verfolgt. Weitere gravierende Versäumnisse führt der Bericht auf. Das Geschehene entsetze bis heute, betont Manfred Lucha, Sozialminister in Baden-Württemberg. Doch der Grünen-Politiker hält den Beteiligten zu Gute:
    "Dass im Prinzip zu keinem Zeitpunkt fahrlässig gehandelt wurde, sondern dass es eben auch im Rahmen äußerer Strukturen, Handlungsprozesse der Beteiligten gab, wo wir heute wissen, die hätten so nicht sein sollen. Das hätte man im Wissen um den jeweils anderen doch unkomplizierter und direkter kommunizieren müssen."
    Expertenkommission Kinderschutz
    Nach dem Urteilspruch Anfang August kündigte Baden-Württembergs grüner Ministerpräsident Winfried Kretschmann eine umfassende Aufarbeitung an. Federführend wird zurzeit im Sozialministerium die ressortübergreifende Kommission Kinderschutz zusammengestellt. Fünf Wissenschaftler, darunter der Ulmer Kinder- und Jugendpsychiater Professor Jörg Fegert, werden dem Gremium angehören. Weiter kündigte Sozialminister Lucha an:
    "Wir werden einen renommierten Familienrichter dazu haben, werden weitere Expertisen dazu nehmen. So dass wir alle Aspekte - was ist geschehen? Warum ist es geschehen? - noch mal beleuchten. Aber was für uns wichtig ist, deswegen habe ich auch die Leitung übernommen, wir wollen allerspätestens nach einem Jahr handfeste Vorschläge machen, die wir dann auch zum Bundesgesetzgeber geben, um wirklich solche Prozesse so steuern zu können, dass es nicht mehr passiert."
    Polizei will mehr Freiräume beim Ermitteln
    Peter Egetemaier, Chef der Kriminalpolizei Freiburg, geht es indes um Kinder, die aktuell betroffen sind. Er fordert mehr Freiräume für die Ermittler im Bereich des Darknets, dem anonymen Teil des Internets. Im Darknet wurde auch der heute zehnjährige Junge von seiner Mutter und ihrem Lebensgefährten zum Missbrauch angeboten. In der ARD sagte Egetemaier:
    "Das schwierigste bei diesen Ermittlungen ist, dass wir kein kinderpornografisches Material anbieten können bei den verdeckten Ermittlungen. Das ist ein Unding, ein Anachronismus, das ist ein Gesetz aus der analogen Welt, wir arbeiten in der digitalen Welt. Wir müssen dringend mitspielen können und das geht nur, wenn wir Material in Chats und Foren anbieten."
    Dabei geht es um computergeneriertes kinderpornografisches Material. Einige Bundesländer unterstützen den Freiburger Kripo-Chef bei seiner Forderung. Der Verfolgungsdruck im Darknet müsse erhöht werden, ist etwa Baden-Württembergs CDU-Justizminister Guido Wolf überzeugt. Das zuständige Bundesjustizministerium äußerte jedoch Bedenken. Die Grenze zwischen legalem polizeilichem und kriminellem Handeln dürfe nicht verwischt werden, heißt es aus Berlin.
    Kinderschutzbund: Polizei muss früh einschreiten können
    Ob künstlich generiertes kinderpornografisches Material für die Ermittlungsarbeit der Polizei notwendig ist, will Christian Zainhofer, Rechtsanwalt und Vizepräsident des Deutschen Kinderschutzbundes, nicht beurteilen:
    "Wichtig ist uns, dass die Polizei die Möglichkeit erhält, möglichst frühzeitig einzuschreiten. Denn es ist ja immer wieder festzustellen, dass die Täter nicht sofort übergriffig werden, sondern dass man durchaus aufgrund von Ermittlungen eine Gefährdungslage feststellen kann, und wenn man daraus seine Schlüsse ziehen kann, dann mag das wohl richtig sein."
    Ein so schwerer Missbrauchsfall eines Kindes wie in Staufen sei ihm in seiner bisherigen Tätigkeit als Vizepräsident des Kinderschutzbundes noch nie begegnet, sagt Zainhofer und fordert die Politik dazu auf, diesem und anderen missbrauchten Kindern mehr finanzielle Hilfe zukommen zu lassen:
    "Wir hatten einen Fonds beim unabhängigen Beauftragten, der allerdings von den Ländern sehr unzureichend ausgestattet worden ist. Also, da ist die Politik definitiv gefragt, um diesen Opfern zu helfen."
    Baden-Württemberg, Freiburg: Die angeklagte Mutter wird von Justizbeamten aus dem Gerichtssaal gebracht. Im Fall des schwer missbrauchten und an andere Männer verkauften Jungen aus Staufen stehen die Mutter des Kindes und ihr Lebensgefährte vor Gericht; Aufnahme vom 11. Juni 2018
    Die Mutter des heute zehnjährigen Missbrauchsopfers vor dem Gerichtssaal (picture alliance/dpa)
    Der Junge aus Staufen lebt heute bei einer Pflegefamilie. Eine besondere Hilfe, etwa in Form eines eigenen Hilfsfonds für dieses Kind, zieht Baden-Württembergs Sozialminister Lucha zurzeit nicht in Betracht.
    "Generell ist unser Anspruch, dass alle uns zur Verfügung stehenden Regelsysteme, Opfern von Missbrauch therapeutisch, sozial und materiell helfen, wie es nur geht. Und das wird auch bei diesem Buben absolut im Vordergrund stehen. Sie können sicher sein, dass wir sein Wohl und Wehe im Auge haben wie unseren Augapfel selbst."
    (*) In der ursprünglichen Fassung des Onlinetextes war an dieser Stelle irrtümlich ein falsches Ministerium genannt.