Durak: Wem nutzt diese Destabilisierung?
Perthes: Den Irakern jedenfalls nicht. Auch nicht denen, die an politischer Macht verloren haben durch den Sturz des Regimes von Saddam Hussein. Also, wenn man es grob sagt, den Sunniten nutzt das sicherlich nicht, weil sie wüssten, wenn es einen Bürgerkrieg gäbe, wenn es also jetzt etwa schiitische Angriffe auf sunnitische Bevölkerungszentren oder sunnitische Heiligtümer gäbe, dann wären die Sunniten die ersten Verlierer eines solchen Bürgerkrieges. Die einzigen, die ein Interesse daran haben können, sind tatsächlich Kräfte, die hier einen globalen Kampf gegen die Amerikaner führen wollen, den sie auf Kosten der Iraker führen, um zu beweisen, dass die Amerikaner nicht Herr der Lage im Irak sind.
Durak: Vermuten Sie also auch El-Kaida-Leute, Osama Bin Laden hinter diesen Anschlägen?
Perthes: Ob das nun El Kaida, die Firma selbst, oder ob es El-Kaida-affiliierte sind, ist letztlich egal, aber die Handschrift deutet darauf hin, dass es Kräfte sind, die zumindest der El-Kaida-Ideologie oder der Ideologie von Osama Bin Laden und seinen Genossen sehr nahe stehen.
Durak: Irgendwer muss doch diese Aktionen aber koordinieren und planen.
Perthes: Das ist richtig, und dies spricht dafür, dass El Kaida beziehungsweise Gruppen, die mit El Kaida zusammenarbeiten, hier die Hand im Spiel haben. Das sind gut organisierte Kadergruppen. Die Handschrift der Attentate, also die Gleichzeitigkeit von Attentaten etwa, die Bereitschaft, viele Unschuldige mit in den Tod zu reißen, auch der konfessionelle Unterton, also gegen Schiiten gerichtet zu sein, die ja von den extrem konservativen sunnitischen El-Kaida-Leuten als Häretiker bezeichnet und betrachtet werden, all dies spricht dafür, dass el die El Kaida sein kann, aber wir wissen das natürlich nicht genau.
Durak: Für wie tief halten Sie denn die Gräben zwischen Sunniten und Schiiten, mit Blick auf eine Zukunft des Iraks mit einer eigenen Regierung?
Perthes: Die Gräben sind keinesfalls unüberbrückbar. Es ist nicht so, dass es hier eine natürliche Feindschaft im Irak gäbe, sondern zur Zeit werden Auseinandersetzungen konfessionalisiert, also in konfessionelle Formen hereingepresst von Gruppen, die da ein Interesse haben. Es gibt gleichzeitig, gerade bei führender schiitischer Seite, genügend Gruppen, die sagen, wir dürfen das nicht zulassen, wir versuchen mit sunnitischen Geistlichen zusammen, etwa dafür zu sorgen, dass es keinen Bürgerkrieg oder keine bürgerkriegsähnlichen Auseinandersetzungen gibt. Wir unterzeichnen gemeinsam Appelle mit denen oder rufen gemeinsam das Volk auf, sich nicht hier auf den Bürgerkrieg führen zu lassen. Sunniten und Schiiten arbeiten zusammen, gehen in den Regierungsrat, arbeiten zusammen in einer Reihe von Nichtregierungsorganisationen. Also es gibt hier nichts, was sozusagen natürlicherweise Schiiten gegen Sunniten im Irak oder auch arabische Sunniten gegen sunnitische Kurden in Stellung bringen müsste.
Durak: Wie sollte denn die internationale Hilfe aussehen? Die USA schaffen es offenbar nicht.
Perthes: Die USA schaffen es alleine nicht, das ist richtig. Allerdings wenn man jetzt sagen würde, es sollten Truppen anderer NATO-Staaten hereingehen, wird das erst mal auch nichts ändern, solange sich die politischen Rahmenbedingungen nicht ändern. Sie würden nur als weitere Teile der gleichen Besatzungstruppe betrachtet. Es muss eine Änderung der politischen Rahmenbedingungen geben. Das haben die USA auch selber gelernt und anerkannt. Das heißt, es muss sehr klar sein, dass an dem Datum der Machtübertragung, 30. Juni dieses Jahres, festgehalten wird, und es muss sehr bald ein deutliches Mandat für die Vereinten Nationen geben, sinnvollerweise einen Sicherheitsratsbeschluss, der nicht nur festlegt, dass man die Vereinten Nationen zurückhaben will – das sagen die Amerikaner selbst ja auch -, sondern was die Vereinten Nationen für eine Aufgabe haben beim politischen Wiederaufbau des Landes. Es muss gleichzeitig – das ist ein Stück weit geschehen bei der Geberkonferenz in Abu Dhabi – von der internationalen Gemeinschaft ein klares Signal ausgehen, dass man dem Irak wirtschaftlich ganz deutlich helfen wird, sobald er souverän ist, dass man den Irak nicht alleine lassen wird, nicht sagen wird, na gut, wir übergeben jetzt die Souveränität an euch und dann guckt mal, wie ihr damit fertig werdet.
Durak: Welche Rolle sollten die arabischen Nachbarstaaten dabei spielen?
Perthes: Ich denke - das sind ja nicht nur arabische Nachbarstaaten, es gehören der Iran und die Türkei auch dazu -, es wäre sehr sinnvoll, wenn es eine regionale Gruppierung gäbe, wo die sechs Nachbarstaaten des Irak zusammen mit interessierten internationalen Kräften, also in erster Linie sind es die USA, die EU, die Vereinten Nationen, vielleicht noch Russland, plus die irakische Regierung regelmäßig zusammenkämen, um gemeinsam anstehende Fragen zu koordinieren. Da gehört so eine wichtige Frage zu wie die der Grenzsicherung. Zur Zeit haben wir hier nur gegenseitige Anschuldigungen. Also die Amerikaner beschuldigen Syrien und beschuldigen Iran, illegale Kämpfer über die Grenzen zu lassen. Iraner und Syrer und auch viele Iraker sagen gleichzeitig, die Amerikaner sind die Besatzungsarmee, sie wären dafür zuständig, die Grenzen zu kontrollieren. Hier könnte man sicherlich Dinge besser koordinieren aus dem gemeinsamen Interesse, das ja die Nachbarstaaten durchaus tragen mit den Irakern, Stabilität im Irak herzustellen, denn ein Bürgerkrieg oder Instabilität im Irak wäre für die Nachbarn auch nicht angenehm.
Durak: Vielen Dank für das Gespräch.