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Steinbrück sieht Nachbesserungsbedarf bei Reformpaket

Simon: Es seien die größten Veränderungen in der Sozialgeschichte der Bundesrepublik, so präsentierte der Bundeskanzler letzte Woche stolz sein Maßnahmenpaket. Aber: Ob es um die Gemeindefinanzreform geht oder um die Zusammenlegung von Arbeitslosen- und Sozialhilfe: Auch Gerhard Schröder weiß ganz genau, dass die Gesetze so keine Geschichte machen werden. Schließlich gibt es noch den Bundesrat. Die Länder wollen dem Paket in der vorliegenden Form jedenfalls nicht zustimmen, und das gilt auch für die meisten SPD-regierten Länder. Mit Peer Steinbrück begrüße ich den Ministerpräsidenten von Nordrhein-Westfalen, SPD. Guten Tag, Herr Steinbrück.

    Steinbrück: Guten Morgen, Frau Simon.

    Simon: Herr Steinbrück, was ist für Sie derzeit der unverdaulichste Teil der Reform?

    Steinbrück: Zunächst einmal: Die Reform stimmt in der Richtung. Das geht mir in der derzeitigen Diskussion verloren, und ich glaube, dass die Hinweise des Kanzlers schon alle richtig sind, dass wir in dieser Kompaktheit, in dieser Tiefenschärfe in den letzten Jahren ein solches Reformpaket nicht gehabt haben. Es ist aber notwendig. Aber die Länder haben eine Reihe von Fragen, die geklärt werden müssen, ehe wir dann im Bundesrat auch unsere Hand reichen können. Für mich ist bisher bei der Gemeindefinanzierung vieles offen. Auch mit Blick auf den Netto-Effekt, der unterm Strich für die Gemeinden herauskommen soll. Ich bin sehr unsicher, welche Mehrbelastungen eigentlich für die Länder rauskommen sollen. Mir ist drittens nicht ganz klar, was bei Hartz III, Hartz IV, also bei der Zusammenlegung insbesondere von Sozialhilfe und der Arbeitslosenhilfe zu einem Arbeitslosengeld 2 an weiteren Belastungen für die Länder rauskommen kann, zum Beispiel mit Blick auf das Wohngeld, wenn das Niveau des zukünftigen Arbeitslosengeld 2 eben eher dem heutigen Niveau der Sozialhilfe entspricht. So gibt es eine Reihe von Punkten, die in dem weiteren Beratungsprozess deutlich gemacht werden müssen.

    Simon: Herr Steinbrück, das Paket ist riesig, aber das, was Sie gerade in Kürze angesprochen haben, ist ja auch eine ganze Menge, und es ist ja auch nur das, was Ihnen so nicht passt. Es gibt ja noch eine ganze Reihe anderer Ministerpräsidenten, die auch Bedenken angemeldet haben. Was wird denn in der Substanz übrig bleiben?

    Steinbrück: Ich glaube, dass in der Substanz eine Menge übrig bleiben wird und muss, weil der Problemdruck da ist. Kein Ministerpräsident, egal ob sozialdemokratisch oder christdemokratisch, wird sich der Notwendigkeit entziehen können, dass wir Strukturen verändern müssen, dass wir vor dem Hintergrund der knappen Kassen zu gemeinsamen Lösungen kommen müssen, dass wir zu einem fairen Interessenausgleich zwischen Kommunen, Ländern und Bund kommen müssen. Dieser Notwendigkeit, und ich fürchte mich sogar gar nicht zu sagen, dieser staatspolitischen Verantwortung müssen sich alle stellen. Da habe ich eher den Vorwurf an die CDU/CSU-Kollegen auf der Ebene des Bundes, aber auch der Länder, dass sie dort bisher sehr uneinheitlich operieren. Sie schwanken zwischen Empörung und Verhandlungsangeboten. Sie schwanken auf der Länderebene auch, selbst Vorschläge zu machen, dass sie zu einem Finanzgipfel kommen sollten, wie ich ihnen vorgeschlagen habe und einer ziemlichen Verweigerungshaltung. Da, finde ich, ist die Union, auch aus Sicht des öffentlichen Interesses, sehr viel stärker aufgefordert, eine gemeinsame Linie zu finden. Übrigens in Bezug auf manche Inhalte auch. Wenn ich mir angucke, wie dort die Einlassungen sind zur Entfernungspauschale oder auch zur Eigenheimzulage, fühle ich mich sehr erinnert an eine alte Sendung von Werner Höfer, die da lautete: sechs Journalisten aus sieben Ländern mit acht Meinungen.

    Simon: Herr Steinbrück, das was Sie jetzt der Union vorwerfen, kann man aber genauso gut der SPD, gerade auch beim Thema Entfernungspauschale vorwerfen.

    Steinbrück: Da gibt es eine Debatte innerhalb der SPD- Bundestagsfraktion. Ich bin mir ziemlich sicher, dass sie zu einem Ergebnis führen wird. Wir sind jedenfalls sicher, dass wir an die Entfernungspauschale herangehen wollen. Das ist schon einmal von erheblicher Bedeutung. Dafür gibt es dann drei mögliche Lösungen, von denen die Bundesregierung eine vorgeschlagen hat. Ich bin mir ziemlich sicher, dass wir dort um Einschnitte, auch um den Preis der Unpopularität, nicht herumkommen werden. Eine solche Einlassung hätte ich auch gerne von der Union in Sachen Entfernungspauschale und in Sachen Eigenheimzulage.

    Simon: Auf gut Deutsch: Sie sind für ein Ende der Zersiedlungspauschale, also dafür, dass gekürzt wird bei den ersten Kilometern für alle.

    Steinbrück: Das ist einer der Nebeneffekte, die wir haben. Bei der Eigenheimzulage haben wir in meinen Augen groteske Mitnahmeeffekte. Die wenigsten Menschen in Deutschland wissen, dass das Volumen dieser Eigenheimzulage 9,3 Milliarden Euro ist, eine gigantische Summe. Deshalb ist es hier für mich ohne Zweifel, dass hier mit Einschnitten, mit einer Rückführung dieser Summe zu rechnen ist.

    Simon: Sie sprachen eben den Gipfel an. Sie haben ja das Treffen der Ministerpräsidenten mit dem Kanzler angeregt. Der Kanzler wäre im Prinzip einverstanden, bei der Union ist man sich noch uneins. Was erwarten Sie sich eigentlich von so einem unverbindlichen Treffen, wo Bund und Länder doch sowieso im Bundesrat, beziehungsweise im Vermittlungsausschuss aufeinandertreffen?

    Steinbrück: Es darf nicht unverbindlich sein, da haben Sie völlig Recht. Es darf nicht einfach so ein Lagerfeuerpalaver sein. Ich bin mir auch ziemlich sicher, dass sich der Kanzler dann auch gar nicht darauf einlassen würde, und zwar zu Recht. Es müsste vorbereitet werden. Es müsste vorbereitet werden aus einem Kreis von Länder- und Bundesvertretern auf einer hohen Arbeitsebene, die dann genau die Themen herausschälen, die dann auf der hohen politischen Ebene geklärt werden müssen. Der Sinn und Zweck ist - den deuten Sie auch richtig an - das Bundesratverfahren und dann ein wahrscheinliches Vermittlungsausschussverfahren einigermaßen im Griff zu behalten, so dass diese Debatte uns im Bundesrat und im Vermittlungsausschuss nicht völlig aus dem Ruder läuft, mit dem Ergebnis, dass wieder sehr viele Bürgerinnen und Bürger frustriert sind über die Durchsetzungsfähigkeit von Politik.

    Simon: Die fragen sich doch aber jetzt schon, wenn Sie das so vorschlagen, ob die von der Verfassung vorgegebenen Wege und Institutionen nicht mehr taugen, dass sich gegenseitig Regierung und Länderkammer lähmen. Wird nicht so ein Gipfel noch mehr zu diesem Eindruck beitragen?

    Steinbrück: Nein, ich glaube, dass die Bürgerinnen und Bürger zu unterscheiden wissen zwischen dem, was die Formulierung und die Zielsetzung, das Angebot der Bundesregierung als Verfassungsorgan ist, und was auf der anderen Seite die Länder als ein anderes Verfassungsorgan für richtig halten. Insofern ist es richtig gewesen, dass der Bundeskanzler, dass die Bundesregierung mit ihrer Linie deutlich in die Öffentlichkeit gegangen sind. Jetzt wird es darum gehen: Wie können sich Bund und Länder zusammenfiddeln, damit auch was Vernünftiges dabei herauskommt?

    Simon: Liegt nicht ein weiteres, großes Problem - Sie haben die Opposition angesprochen, aber es ist ja immer so, dass sich die Opposition eine andere Meinung vorbehalten darf - bei der Umsetzung der Reform darin, dass die Bundesregierung nicht mal auf die SPD-geführten Länder wirklich zählen kann?

    Steinbrück: Das ist ja nicht so verwunderlich. Das hat es in früheren Zeiten unter der Ägide von Bundeskanzler Kohl im Verhältnis zu unionsgeführten Ländern auch gegeben. Die Vorstellung, dass eine SPD-geführte Bundesregierung automatisch dieselben Interessen hat wie SPD-geführte Bundesländer, ist ein Märchen. Das hat es früher auch nicht gegeben, sondern die Länder haben zunächst einmal ihre eigenen Interessen. Ohne dass das aufgesetzt klingen soll: Für den Ministerpräsidenten Nordrhein-Westfalen gilt einfach: Nordrhein-Westfalen zuerst. Dann reden wir über Parteienkonstellationen. Das heißt, dass es hier zu einem Abgleich von Interessen kommen muss. Das ist nun einmal bei unserem deutschen Föderalismus so. Das halte ich nach wie vor für positiv.

    Simon: Zur Zeit Kohl muss man auch sagen, dass da die bleierne Zeit begann, dass sich seitdem wenig bewegt hat bei den großen Themen, die längst hätten gelöst werden müssen, oder?

    Steinbrück: Das ist eine lange Debatte, an der ich gerne teilnehme, weil ich glaube, dass ein Teil der Probleme, die wir haben, letztlich aufgeschobene Debatten sind, schon aus den neunziger Jahren. Daran haben viele mitgewirkt. Die Politik wird sehr selbstkritisch zugeben müssen, dass sie wahrscheinlich der Öffentlichkeit und den Medien zu lange die sich verändernden Bedingungen, den Ernst der Lage versteckt vorgehalten hat. Das Problem der Demographie, also der Altersstruktur unserer Gesellschaft - um ein Beispiel rauszunehmen - und ihr Stellenwert, ihr Druck auf unsere sozialen Transfersysteme ist bereits in den achtziger, neunziger Jahren klar erkennbar gewesen.

    Simon: Stehen Sie eigentlich hinter den Vorschlägen, die jetzt so langsam raussickern, der Rürup-Kommission: sehr viel späteres Renteneintrittsalter, sehr viel niedrigere Renten? Es werden ja Zahlen von vierzig Prozent der aktuellen Bezüge genannt.

    Steinbrück: Ich habe den Eindruck, dass unser Problem in Deutschland im Augenblick gar nicht das Renteneintrittsalter von 65 oder 67 ist. Tatsächlich gehen die meisten Menschen - die Männer jedenfalls - in Rente im Durchschnitt zwischen 59 und 61, vermute ich mal. Im öffentlichen Dienst haben wir ein Pensionseintrittsalter von 58, 59. Anders ausgedrückt: Ich wäre froh, wenn die meisten das Renteneintrittsalter, was die Männer betrifft, von 65 erreichen würden! Ich wäre sehr viel eher dafür, dass wir diese Grenze Realität werden lassen, anstatt wieder chaotisch schon zu debattieren. Es soll ja wieder auf die Höhe von 66, 67, 68 hochgeschraubt werden. Ein anderes Problem ist das Berufseintrittsalter in Deutschland. Die jungen Leute gehen zu spät in die Berufe, das heißt, unsere Ausbildungszeiten sind zu lang. Und beides: spätes Berufseintrittsalter und frühes Renteneintrittsalter führt in Deutschland zu durchschnittlichen Lebensarbeitszeiten, die einfach zu kurz sind.

    Simon: Gehen Sie davon aus, dass das inzwischen mehrheitsfähig ist in der Bevölkerung, in der die einzelnen Gruppen ja immer gerne jammern, wenn sie selbst betroffen sind?

    Steinbrück: Ich glaube, dass die Bevölkerung einen Sinn dafür hat, dass die Einzelinteressen in ihrer Addition nicht das Gesamtwohlinteresse sind. Ich glaube, dass wir insgesamt doch sehr an einem Punkt sind, wo die einzelnen Lobbies, die einzelnen Interessengruppen in Deutschland jedenfalls sich nicht mehr so durchsetzen können wie bisher, und dass viele Bürgerinnen und Bürger auch in ihrer Bereitschaft, die Realitäten zu akzeptieren, manchmal sogar besser und manchmal sogar schneller sind als manche Politiker.

    Simon: Peer Steinbrück, der Ministerpräsident von Nordrhein-Westfalen. Vielen Dank für das Gespräch.

    Link: Interview als RealAudio