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Stephan Hermlins "Abendlicht"
Die Idee eines menschlichen Sozialismus

Stephan Hermlins Name hatte in der DDR Gewicht, aufgrund seines politischen Werdegangs hatte er Einfluss. Doch die Anerkennung galt mehr der Person und weniger dem Schriftsteller Hermlin. Bis 1979 "Abendlicht" erschien - Prosa, die sich durch eine beeindruckende sprachliche Virtuosität auszeichnet.

Von Michael Opitz | 14.04.2015
    Der Schriftsteller Stephan Hermlin (hier auf einem Archivfoto von 1995). Hermlin starb 1997.
    Der Schriftsteller Stephan Hermlin (hier auf einem Archivfoto von 1995). Hermlin starb 1997. (picture alliance/dpa/ZB)
    Wer über DDR-Literatur schreiben wollte, ohne Stephan Hermlin zu erwähnen, käme nicht weit. Hermlin war die graue Eminenz des DDR-Kulturlebens. Der Pfeife rauchende Sohn eines jüdischen Kaufmanns verkörperte in seinem ganzen Habitus die Vorstellung von einem feinsinnigen Ästheten. Stephan Hermlin war ein Ehrenmann. Der Verfasser der Petition, mit der gegen die Ausbürgerung von Wolf Biermann protestiert wurde, galt als eine integre Person.
    "Von Anfang an war für mich das Ganze gedacht als ein sogenannter Schuss vor den Bug. Es sollte eine Erklärung einiger bekannter Schriftsteller sein, die die Führung der DDR darauf hinweisen sollte, dass es so nicht weiter geht, dass man so nicht mit den Menschen umspringen könnte. Mehr nicht."
    Stephan Hermlin war Kommunist und Ästhet. Er bezeichnete sich als einen spätbürgerlichen Schriftsteller, dem die französische Moderne näher lag als Shdanows Realismus-Begriff. Sein Name hatte in der DDR Gewicht. Aufgrund seines politischen Werdegangs - KP-Mitglied und Emigration -, hatte Hermlin Einfluss. Er gehörte zur alten Garde, wahrte aber Distanz zur Macht. Brechts Statement: "In mir habt ihr einen, auf den könnt ihr nicht bauen", war für ihn Programm. Wenn es notwendig war, bot Hermlin der Macht Paroli. Er war prominent und er genoss Achtung, ein aufrecht Gehender. Doch die Anerkennung, die Hermlin genoss, galt mehr der Person und weniger seinen schriftstellerischen Arbeiten. Die in den DDR-Sozialismus Hineingeborenen konnten mit seinen Texten wenig anfangen. Das änderte sich, als 1979 "Abendlicht" erschien. In dieser Prosaarbeit, die sich durch eine beeindruckende sprachliche Virtuosität auszeichnet, erzählt Hermlin die Lebensgeschichte eines jungen Mannes, die Parallelen zu seiner eigenen aufweist.
    "Von frühen Leseerlebnissen sind mir zwei, aus gänzlich verschiedenen Gründen, merkwürdig geworden. Das erste bezieht sich auf ein Buch oder einige Bücher, das oder die ich in der Tat ganz früh, also zwischen dem sechsten und achten Lebensjahr las. Ich denke an 'Tausendundeine Nacht', daneben schieben sich Andersens 'Bilderbuch ohne Bilder' und der 'Lederstrumpf'. Dass die Grenzen, die Ränder dieser ganz unterschiedlichen Werke undeutlich werden, dass sie ineinander überzugehen versuchen, muss damit zusammenhängen, dass dargestellte Personen und Handlungen nicht so sehr wichtig waren für mich, sondern vielmehr eine vorgestellte Landschaft, eine Tageszeit, eine Aura, in denen sich Personen bewegten, ihre Handlungen vollbrachten."
    Lyrische Sprache
    Der Klappentext des im Leipziger Reclam Verlag erschienenen Buches weist darauf hin, dass die im Zentrum von "Abendlicht" stehende Figur, nicht gleichzusetzen ist mit der Person des Autors: "Ein eigentümliches Buch", so heißt es dort, "aus der Rückschau gewonnen und doch keine Autobiografie: Dichtung und Wahrheit, Andeutung und poetisches Symbol, Erlebnis und Evokation fügen sich zu einem Text von großer Intensität." Ein Hinweis! Kein Achtungszeichen! Wer das Buch allein aus dem Grund liest, um etwas über die Vita des Autors zu erfahren, verfehlt das Beste, was in diese Prosa Eingang gefunden hat. In einer lyrischen Sprache entwirft Hermlin einen aus einzelnen Prosaminiaturen bestehenden Text, in dem von einem Heranwachsenden erzählt wird, der in behüteten, bürgerlichen Verhältnissen groß wird, und der sich mit 16 Jahren entschließt, Mitglied der kommunistischen Partei zu werden. Auf einer Berliner Straße unterschreibt er seine Beitrittserklärung.
    "Oft habe ich mich später fragen müssen, aus welchem Grunde ich an dieser Unterschrift auf dem unansehnlichen Zettel festhielt, als ich um mich so viele sah, die ihre Unterschrift widerrufen oder einfach vergessen hatten. Auch ich lernte Augenblicke kennen, in denen eine Stimme, die sich wie die Stimme der Vernunft anhörte, mir zuredete, könne denn diese Unterschrift noch gelten, in der ein später so oft enttäuschter guter Wille gelegen habe, sei ich, könne ich überhaupt noch derselbe sein, der damals unterschrieben hatte."
    Diese Frage stellte sich auch für Hermlin, der nach dem Einmarsch der Truppen des Warschauer Paktes in die ČSSR in der Partei blieb, die er auch nach der Ausbürgerung Biermanns nicht verließ. Hermlin hielt an der Idee von einem menschlichen Sozialismus fest. Sein Protagonist in "Abendlicht" vertieft sich mit dreizehn zum ersten Mal in das "Kommunistische Manifest". Später liest er es immer wieder. Für viele Intellektuelle in der DDR wurde Hermlins Buch unter anderem deshalb wertvoll, weil der Ich-Erzähler als Fünfzigjähriger bei der erneuten Lektüre des Manifests eine erstaunliche Entdeckung macht:
    "Unter den Sätzen, die für mich seit Langem selbstverständlich geworden waren, befand sich einer, der folgendermaßen lautete: ‚An die Stelle der alten bürgerlichen Gesellschaft mit ihren Klassen und Klassengegensätzen tritt eine Assoziation, worin die freie Entwicklung aller die Bedingung für die freie Entwicklung eines jeden ist.' Ich weiß nicht, wann ich begonnen hatte, den Satz so zu lesen, wie er hier steht. Ich las ihn so, er lautet für mich so, weil er meinem damaligen Weltverständnis auf diese Weise entsprach. Wie groß war mein Erstaunen, ja mein Entsetzen, als ich nach vielen Jahren fand, dass der Satz in Wirklichkeit gerade das Gegenteil besagte: ‚... worin die freie Entwicklung eines jeden die Bedingung für die freie Entwicklung aller ist.' Mir war klar, dass ich auch hier gewissermaßen in einem Text einen anderen gelesen hatte, meine eigene Unreife; dass aber, was dort erlaubt, ja geboten sein konnte, weil das Wort auf andere Worte, auf Unausgesprochenes hinwies, hier absurd war, weil in meinem Kopf eine Erkenntnis, eine Prophetie auf dem Kopf stand. Dennoch mischte sich in mein Entsetzen Erleichterung. Plötzlich war eine Schrift vor meinen Augen erschienen, die ich lange erwartet, auf die ich gehofft hatte."
    Hermlin bekräftigt einen wichtigen Satz. Er lässt ihn geradezu bedeutend werden, indem er ihn von einer falschen Interpretation abhebt, die für ihn - und nicht nur für ihn - lange Zeit Gewissheit war. "Abendlicht" wurde Ende der Siebzigerjahre in einem Atemzug mit Franz Fühmanns "Zweiundzwanzig Tage oder die Hälfte des Lebens", Christa Wolfs "Kindheitsmuster" und Hermann Kants "Der Aufenthalt" genannt - Verführbarkeit war in diesen Werken eines der zentralen Themen. Hermlin lässt in "Abendlicht" keine Zweifel daran aufkommen, dass er nicht verführt, sondern eine richtige, unumkehrbare Entscheidung getroffen hatte und eine Rücknahme seiner Unterschrift für ihn nie in Frage gekommen wäre. Das wirft Fragen auf.
    Vergangenheit im Konzentrationslager
    "Der Kampf der Unterdrückten sei der Kampf der Unterdrückten..."
    ... ist bei Hermlin zu lesen. Aber wie sich verhalten, wenn aus den Unterdrückten Unterdrücker werden?
    "Der Kampf führe zu neuen Bedrückungen, selbst zu Untaten..."
    ... schreibt Hermlin in "Abendlicht". Wo aber verläuft die Grenze dessen, was toleriert werden kann?
    Anfang der Neunzigerjahre - die DDR war untergegangen, in den Feuilletons war der deutsch-deutsche Literaturstreit entbrannt - wurde Stephan Hermlin mit dem Vorwurf konfrontiert, er hätte die Grenze der Redlichkeit überschritten. Hermlin, so war von Karl Corino zu erfahren, hatte unmittelbar nach dem Krieg seinen Lebenslauf frisiert und es später nicht für notwendig erachtet, den geschönten Lebenslauf zu korrigieren. Kathrin Schmidt geht in ihrem Nachwort auf die damals erhobenen Vorwürfe ein. Sie hält für verzeihlich, dass Hermlin im Fragebogen erklärte, er habe das Abitur abgelegt und hätte später an der Humboldt-Universität studiert, obwohl dies nicht den Tatsachen entsprach. Durch diese Lüge konnte er seinen seit "Langem gepflegten intellektuellen Interessen nachgehen". Sicherlich hätte ihn die Akademie der Künste, der Hermlin seit 1950 angehörte, auch ohne Abitur und Studium aufgenommen, aber Hermlin wollte auf diese "Insignien der Bildungsbürgerlichkeit" nicht verzichten.
    Folgenschwerer wog, dass er sich eine Vergangenheit in einem Konzentrationslager verschafft hatte, wobei Kathrin Schmidt über die Gründe nicht richten möchte. Hermlin mag Gründe, sogar gute Gründe gehabt haben, in der Nachkriegszeit in seinen Lebenslauf einzugreifen. Hätte es aber nicht später auch Gelegenheiten gegeben, die Eingriffe zu korrigieren? Richten muss man über dieses Leben nicht, das einem Respekt abfordert. Aber man darf enttäuscht sein, weil man getäuscht wurde. Das Buch "Abendlicht" bleibt davon unberührt, weil es zum Besten gehört, was die DDR-Literatur vorzuweisen hat. Und an Hermlin wird man sich als einen mutigen Widersprecher erinnern, wenn von den Folgen der Biermann-Ausbürgerung die Rede ist. Aber seit Corinos Enthüllungen eben nicht nur.
    Stephan Hermlin: Abendlicht. Mit einem Nachwort von Kathrin Schmidt und einer Rede von Klaus Wagenbach. Verlag Klaus Wagenbach. Berlin 2015. 121 Seiten, 14,00 Euro.