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Stephan Krass: "Die Spur der Buchstaben"
Vom Urlaut bis zum Umlaut – was Buchstaben können

Der Sprachphilosoph Stephan Krass – vor seinem Ruhestand hauptberuflicher Hörfunker – folgt „Der Spur der Buchstaben“ kreuz und quer durch die Kulturgeschichte – und sein Buch ist dabei mindestens so unterhaltsam wie lehrreich.

Von Jürgen Deppe | 05.01.2022
Stephan Krass: "Die Spur der Buchstaben"
Stephan Krass: "Die Spur der Buchstaben" ((c) Nils Menrad / Steidl Verlag)
Am Ende könnte man sich fast ein wenig Sorgen um das Alphabet machen, dem der Sprachakrobat Stephan Krauss zuvor 150 Seiten lang Buchstabe für Buchstabe durch das Dickicht von Semantik und Phonetik gefolgt ist und höchstes Lob gezollt hat. Zumindest um einige Bestandteile des Alphabets könnte man sich Sorgen machen. Um das „Vogel-V“ zum Beispiel. Denn dem drohe – so konstatiert Krass zum Schluss ironisch – echtes Ungemach, unter anderem durch die Gesellschaft für deutsche Sprache, die vorschlägt, das zur Verwechslung mit dem U, dem W oder dem Y einladenden V einfach durch ein F oder ein W zu ersetzen. Also weg damit?
„Diverse Verse werden nun mal diwerse Ferse ausgesprochen und nicht diferse Werse. Außerdem treibt der Buchstabe V sich gern auch außerhalb des Alphabets herum und dient als Victory-Zeichen, als lateinisches Zahlzeichen für die Fünf oder er beschreibt die Spur, die ein Vogelzug in den Himmel malt. »Vogel-V«, sagt die Lehrerin, wenn sie den Schülern den Unterschied zum lautgleichen F verdeutlichen will.“
Bis die Leser allerdings beim „V“ landen, haben sie auf der „Spur der Buchstaben“ – wie Stephan Krass seine Erkundung nennt – schon reichlich an Erkenntnis gewonnen. Zum Beispiel darüber, dass am Anfang nicht etwa das Wort steht, sondern als dessen kleinste Konstituente der Buchstabe. Der sei Grundlage all unseres Verständnisses der Welt. Und damit eben auch unseres Selbstverständnisses. Ein Buchstabe biete nahezu unendlich viele Möglichkeiten, weil er nicht wie ein Piktogramm auf etwas Konkretes verweise, sondern auf einen Laut, der sich mit anderen Lauten kombinieren lasse, um dann gemeinsam jede erdenkliche Form von Sinn zu ergeben. Bei Krass liest sich das so:

Die Möglichkeiten des Alphanumerischen

„Die 26 Buchstaben bilden ein geschlossenes Arsenal von Zeichen-Modulen, deren Kombinatorik eine unendliche Textmaschine in Gang setzt. Basiselement ist immer der einzelne Buchstabe. Als Träger von Informationen tritt er im Verbund mit anderen Schrift- und Lautzeichen auf. Gemeinsames Haus ist das Alphabet, unter dessen Dach die Buchstaben ihr semantisches Potenzial entfalten.“
Und wenn die 26 Buchstaben des hiesigen Alphabets dann auch noch eine Liaison mit den Ziffern 0 bis 9 eingehen, dann bilden die – wie Krass es ausdrückt – „den Materialkern alphanumerischer Rechenoperationen“.
„Die kombinatorischen Möglichkeiten, die sich aus dieser Konkordanz der Zeichen ergeben, erschließen der Sprache jenseits der vertrauten semantischen oder etymologischen Räume ganz neue Bedeutungsfelder.“

Ein Abecedarium der Buchstaben

Keine Sorge: Krass‘ Überlegungen sind längst nicht durchgängig so abstrakt. Im Gegenteil: Er schreitet das weite Bedeutungsfeld der Buchstaben mit viel Lust am Anekdotischen oder auch Skurrilen ab: Sein Abecedarium reicht dabei von „A“ wie – naheliegend! – „Alphabet“ bis „Ü“ wie „Übersetzung“. Dazwischen thematisiert Krass beispielsweise „Buch“ oder „Code“, wo es von amüsanten Räuberpistolen zur Verschlüsselungsmaschine „Enigma“ bis zum genetischen Code reicht. Oder von „G“ wie „Gedicht“ bis „H“ wie „Handschrift“, denn darum geht es Krass.
„ (...) nicht nur um den Text, auch um die Textur, nicht nur um die semantische Seite der Schrift, auch um die physische Präsenz der Buchstaben, nicht nur um den Sinn der Mitteilung, auch um die Sinnlichkeit des Schreibvorgangs.“
Krass buchstabiert sein Abecedarium weiter durch: Das „P“ steht für „Passwort“ und das „T“ für „Typographie“. 
„Mit der Typographie verhält es sich ähnlich wie mit Filmmusik. Sie ist präsent, auch wenn man sie nicht bewusst wahrnimmt. Unter den Bildern entrollt sie eine akustische Folie, die die Handlung atmosphärisch begleitet, das Tempo vorgibt und die Stimmungslagen grundiert.“
Und sie ist dabei ungemein wichtig. 

Von „A“ wie anekdotisch bis „U“ wie unterhaltsam

Krass folgt auf seiner Spurensuche den kleinsten, oft gering geschätzten Teilen im Sprachkosmos, spürt ihrem Ordnungsprinzip nach – und landet dann fast zwangsläufig bei der seiner Ansicht nach höchsten Kunst ihrer Anordnung: der Poesie. 
Mag sein, dass in Krass‘ teils amüsanten Überlegungen nicht immer strengsten wissenschaftlichen Maßgaben walten – zumal auch seine Argumentation gelegentlich genau jene Rössel-Sprünge zu machen scheint, die er bei der Lektüre der einzelnen Kapitel seines schmalen Bändchens für möglich hält. An diesen Stellen geht er dann nicht einfach linear vor, sondern gewissermaßen zwei Schritte vor und einen diagonal zur Seite. Ganz stringent ist das nicht. Aber Krass‘ Buchstabenassoziationen machen enorm viel Spaß. Und mit Sicherheit nicht dümmer.
Stephan Krass: „Die Spur der Buchstaben. Alphabet Blaupause Code“
Steidl Verlag, Göttingen.
160 Seiten, 18 Euro.