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Stephan Thome: "Gott der Barbaren"
Wenn Menschen Gott spielen

Bedrängt von „ausländischen Teufeln“ und den „langhaarigen Banditen“ einer christlichen Sekte: Stephan Thomes Roman „Gott der Barbaren“ erzählt, wie das alte, marode China im 19. Jahrhundert von einem Tsunami der Gewalt heimgesucht wurde. Der 700-Seiten-Roman gilt als Favorit für den Deutschen Buchpreis.

Von Wolfgang Schneider | 02.10.2018
    Buchcover: Stephan Thome: "Gott der Barbaren" und sogenannte Taiping-Rebellen im Jahr 1857
    Er war der opferreichste Bürgerkrieg der Menschheitsgeschichte: Der Taiping-Aufstand im 19. Jahrhundert in China (Buchcover: Suhrkamp Verlag, Hintergrundbild: dpa / picture alliance)
    Das oft als "lang" bezeichnete und mit Nachspielzeit bis 1914 ausgedehnte 19. Jahrhundert – ach, was war das in Europa doch für eine beschauliche und zivile Zeit! In Asien jedoch und vor allem in China war es eine Epoche der Schrecken.
    Ein chinesischer Bürgerkrieg mit 30 Millionen Toten
    Zwischen 1851 und 1864 fand dort der opferreichste Bürgerkrieg der Weltgeschichte statt. Bis zu 30 Millionen Menschenleben forderte der Taiping-Aufstand. Dabei heißt Tai Ping "ewiger Friede". Es ging, wieder einmal, um die Errichtung eines Gottesstaates. In diesem Fall aber nicht im Namen des Islams, sondern – und das regt nun wirklich zum Nachdenken an – des Christentums. Des Christentums, so wie es sich der Sektengründer Hong Xiuquan nach dem Kontakt mit protestantischen Missionaren aus seiner dilettantischen Lektüre der Bibel zurechtbastelte. Die Bibel auf Chinesisch, versteht sich:
    "Alles klingt ein bisschen anders, als wir es gewohnt sind. Der Heilige Geist heißt Heiliger Wind, die Apostelgeschichte heißt Heiliger Bericht von den Taten der Schüler. Wo wir Jehova lesen, sehen Chinesen drei Schriftzeichen, die so viel bedeuten wie Großvater, Feuer und China."
    Wie aus der Aufrührergruppe um den Visionär Hong Xiuquan, der sich als jüngerer Bruder von Jesus Christus bezeichnete, binnen kurzem die größte sozialrevolutionäre Aufstandsbewegung der Neuzeit werden konnte, die einen großen Teil der südlichen Provinzen Chinas unter ihre teils emanzipatorische, überwiegend aber ziemlich "talibanhaft" anmutende Herrschaft brachte – das hat etwas Rätselhaftes. Und es ist ein abgründiges Faszinosum, wie geschaffen für einen klugen historischen Roman, der die deutschen Leser mit diesem unerhörten Kapitel der Weltgeschichte überhaupt erst vertraut macht.

    Stephan Thome hat diesen Roman geschrieben. "Gott der Barbaren" ist sein bisher bestes Buch, ein Werk von über 700 Seiten, das einen von Kapitel zu Kapitel mehr in den Bann schlägt. Hier hat ein Thema seinen Autor gefunden.
    Drei Perspektiven auf das China des 19. Jahrhunderts
    Ein historischer Roman dieses Kalibers lebt von gegensätzlichen Perspektiven, für die bei Thome drei Hauptfiguren einstehen. Da ist zunächst Philipp Johann Neukamp, der als Vertreter einer Basler Missionsgesellschaft nach China geht. Beim Bibelstudium lernt er Hong Jin kennen, einen Vetter des Sektengründers, der später selbst ein wichtiger Militärführer der Aufständischen wird. So kommt auch Neukamp in den charismatischen Sog der Taiping-Bewegung. Der Missionar wird zum Abenteurer. Von Hongkong aus reist er ins Herz der fundamentalistischen Finsternis oder, je nachdem, Erleuchtung. Sein Ziel ist Nanking, das "neue Jerusalem" der Rebellen. Unterwegs stößt er überall auf Misstrauen und Feindseligkeit:

    "Es spielte keine Rolle, ob wir Opium verkauften oder das Evangelium predigten, unsere Anwesenheit war den Chinesen zuwider. Sie blickten auf unsere spitzen Nasen wie wir auf ihre Zöpfe, wir hielten sie für unterwürfig und verschlagen, sie uns für herrschsüchtig und gierig, und im Grunde ihres Herzens verstanden sie nicht, was wir von ihnen wollten."
    Kein Buch für zimperliche Leser
    Neukamp sucht sich einen gefahrenerprobten Gefährten für die lebensgefährliche Tour und findet ihn in dem coolen Hasardeur Alonzo Potter, der für den Missionar nach einem Piratenüberfall zum Lebensretter wird. Potter amputiert ihm mit einer alten Säge die vom Wundbrand gezeichnete Hand, keine Szene für Zimperliche, wie so einige Passagen des Romans. In einer anderen albtraumhaften Episode fährt Neukamp bei Nacht einen Fluss hinauf. Ständig scheint Treibholz gegen den Rumpf des Bootes zu schlagen. Es ist aber kein Holz…
    "Die meisten Leichen trieben mit dem Kopf voran. Männer, Frauen, Kinder. Sie schienen sich an den Händen zu halten und erst loszulassen, wenn sie unsere Bugspitze erreichten. Die einen zogen links, die anderen rechts vorbei, auf dem Rücken, auf dem Bauch, mit leicht abgewinkelten Armen. So weit das Auge reichte, war der Fluss voller lebloser Körper… Die Leiche eines Mannes traf auf das Boot, blieb an der Ankerkette hängen, und sofort staute sich die schaurige Prozession."

    Wie sind die Erfolge der christlichen Rebellen im China des 19. Jahrhunderts zu erklären? Die alte Ordnung unter der Qing-Dynastie war morsch und korrupt. Sie wurde zusätzlich geschwächt durch die Einmischung westlicher Mächte, allen voran Englands. China war für England ein wichtiger Lieferant von Tee, Seide und Porzellan. Umgekehrt aber hatte China kein Interesse an westlichen Waren. Es verschloss seine Märkte; westliche Handelsschiffe durften nur in einem einzigen Hafen, dem von Kanton, anlegen.
    England als größter Opiumdealer der Welt
    Deshalb begann die britische East India Company eine Ware nach China einzuschmuggeln, mit der sich die negative Handelsbilanz ausgleichen ließ: bengalisches Opium. England wurde zum größten Dealer der Welt, und Millionen Chinesen wurden süchtig. Als China dann 1839 britische Opiumhändler internierte und über 1000 Tonnen der Droge vernichtete, war die Eskalationsspirale zum Ersten Opiumkrieg in Gang gesetzt, den die Engländer aufgrund ihrer überlegenen Militärtechnik leicht gewinnen konnten.
    In den "ungleichen Verträgen" diktierten sie China 1842 die Öffnung weiterer Häfen und die Duldung unbeschränkten Handels. Das uralte Reich der Mitte, das sich als weit überlegene Zivilisation gegenüber den westlichen "Barbaren" empfand, geriet in einen demütigenden Status halbkolonialer Abhängigkeit. Diese Destabilisierung von innen und von außen war die Voraussetzung dafür, dass die Taiping-Rebellion eine solche Wirkung entfalten konnte. Bauernaufstände gegen die korrupte Herrschaft waren seit langem an der Tagesordnung; jetzt wurde daraus ein ungeheurer Flächenbrand.

    Die zweite Hauptfigur in Thomes Roman vertritt die westlich-britische Sichtweise und ist eine historische Gestalt: Lord Elgin, Sonderbotschafter Englands in China. Offene Häfen und freier Handel – das ist seine Mission. Er ein Mann des Fortschritts.

    "Ich sage, es ist ein Beweis für die Überlegenheit unserer Zivilisation. Nie geben wir uns mit dem zufrieden, was wir heute wissen. Wir verehren die Antike und glauben an Gott, aber wir lassen uns nicht davon abhalten, die Wahrheit zu suchen. Der Fortschritt fällt einem nicht in den Schoß, man muss ihn erringen. Chinesen hingegen glauben immer noch, sie hätten den Gipfel der Weisheit vor zwei- oder dreitausend Jahren erreicht. Seitdem igeln sie sich ein und reagieren beleidigt, wenn man ihnen ihre Rückständigkeit vorhält. Wir werden China öffnen, ob die Chinesen es wollen oder nicht."
    Westliche Kolonialiserung Chinas
    Wir lernen Lord Elgin im Roman aber nicht als robusten Imperialisten kennen, sondern als melancholischen Mann voller Widersprüche. Er neigt zu weltschmerzlichen Selbstgesprächen. Und versucht dem Geheimnis des "goldenen Lotus" auf die Spur zu kommen – jenem bis ins 20. Jahrhundert verbreiteten chinesischen Brauch, den Frauen die Füße zu brechen und sie zu kleinen, verkrüppelten Tippelfüßen abzubinden. Der Lord hadert zudem mit seiner eigenen Herkunft. Sein Vater Thomas Bruce, Earl of Elgin, ging als Kunsträuber der Akropolis in die Geschichte ein. Der Sohn brennt am Ende in einer drakonischen Strafaktion für ermordete britische Geiseln den Sommerpalast des chinesischen Kaisers nieder, kein geringeres Stück Weltkulturerbe.

    Das alte verzopfte China sah sich also in die Zange genommen von den "ausländischen Teufeln" und den "langhaarigen Banditen" der Taiping. Rettung kam in Gestalt der Hunan-Armee. Deren historisch verbürgter Oberbefehlshaber Zeng Guofan ist die dritte Hauptfigur des Romans, ein Mann von äußerster Selbstdisziplin, gequält von einer schweren Hautkrankheit. Seine Gedanken kreisen um die alte chinesische Philosophie, er ist ebenso Gelehrter wie General. Bei jeder Gelegenheit vertieft er sich in seine Bücher. Durch die kompromisslose Strenge und Konsequenz, die er sich und seinen Soldaten auferlegt, gewinnt er schließlich die Oberhand über die Rebellen, die zuvor der degenerierten kaiserlichen Armee Niederlage um Niederlage beigebracht haben. Zeng Guofan hält die konfuzianischen Tugenden hoch.
    "Der Unterschied zwischen den Barbaren und uns ist, das wir Mitgefühl besitzen", lautet seine Devise. Dieses Mitgefühl sieht dann so aus, dass er seine Truppe beauftragt, nach der Eroberung der Stadt Anqing die Bürger der Rebellenhochburg als Kollaborateure zu töten – allerdings mit einer Einschränkung:

    "'Nicht alle', antwortete er. Sogar seine eigene Stimme klang fremd – als fiele es ihm schwer, wirklich zu meinen, was er sagte. 'Wer noch Milchzähne hat, den könnt ihr laufenlassen.'"

    Kultiviertheit und Inhumanität, Klugheit und Starrsinn – sie liegen bei Thomes Hauptfiguren Lord Elgin und Zeng Guofan sehr nah beieinander.
    Ein historischer Roman mit Bezügen zu heutigen Gotteskriegern
    Obwohl der Roman sich zum Zeugen ungeheurer gesellschaftlich-historischer Umwälzungen macht und den Horror des Bürgerkriegs, in dem keine Gefangenen gemacht werden, drastisch schildert, ist er über weite Strecken ein erstaunlich ruhiges Buch - ein Buch der Gespräche. Große Dialoge zwischen den kollidierenden Kulturen werden hier geführt, in denen sich Abscheu und untergründige Faszination, Verständigungswille und Selbstrechtfertigung immer wieder abwechseln. Das mag bisweilen etwas kantig motiviert und lehrhaft inszeniert sein – aber man liest es mit Spannung und Erkenntnisgewinn.
    Und wie jeder gute historische Roman legt es auch "Gott der Barbaren" auf vielfältige Spiegelungen mit unserer Gegenwart an, in der Religionskriege neu aufflammen. Darüber hinaus versteht man die Unterdrückung ethnischer Minderheiten im heutigen China nach der Lektüre etwas besser, denn es waren insbesondere solche Minderheiten, die sich den Taiping-Rebellen anschlossen. Ein Trauma, das offenbar bis heute in China nachwirkt.

    Gekonnt blendet Stefan Thome Historisches und Erfundenes ineinander und fügt gelegentlich Dokumente ein, etwa Ausschnitte aus britischen Zeitungen. Er ist ein souveräner, seinen Stoff sorgfältig strukturierender Erzähler. Kaum erstaunlich, dass er mit seinem aufgeräumten, rationalen Stil die irrationale Schubkraft des Verhängnisses allenfalls andeuten kann. Er bleibt ein Rätsel, dieser Charismatiker und Sektengründer Hong Xiuquan, der sich als zweiter Sohn Gottes versteht und beauftragt fühlt, alle "Dämonen der Welt" zu vernichten. Der Missionar Neukamp kommt dem sonderbaren Heiligen, der sich einen Harem hält, am Ende immerhin sehr nahe – und wird von ihm als König, Heiliger Träumer und neuer Johannes der Täufer eingesetzt. Das Thema dieses großen Romans ist zum Fürchten ernst und gerade deshalb nicht ohne dunkle Komik.

    Stephan Thome: "Gott der Barbaren"
    Suhrkamp Verlag, Berlin. 719 Seiten, 25 Euro.