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Stephen Greenblatt: "Der Tyrann"
Shakespeares Machtkunde für das 21. Jahrhundert

Der Literaturwissenschaftler Stephen Greenblatt untersucht berüchtigte Herrscher aus dem Werk des Dramatikers und entwirft eine Typologie der Tyrannenfigur. Ohne Namen zu nennen, bezieht Greenblatt sich auf machtbesessene Politiker unserer Zeit.

Von Michael Watzka | 03.12.2018
    Buchcover: Stephen Greenblatt: „Der Tyrann. Shakespeares Machtkunde für das 21. Jahrhundert“
    William Shakespeare entwarf Herrscher-Psychogramme, die noch heute gelten (Buchcover: Siedler Verlag, Foto: imago stock&people/Leemage)
    Stephen Greenblatt ist ein ausgewiesener Shakespeare-Experte. Seine Biographie des englischen Dramatikers ist ein Standardwerk, und schlägt man in gängigen Lexika nach, stößt man unter S wie Shakespeare mit großer Wahrscheinlichkeit auf einen Eintrag aus seiner Feder. Aber damit nicht genug: In den 1990er Jahren hat der Harvard-Professor auch den sogenannten New Historicism mitgeprägt. Das ist eine Richtung der Literaturwissenschaft, die literarische Werke im Entstehungskontext betrachtet. Für die Dramen Shakespeares heißt das etwa ganz konkret: das England des ausgehenden 16. und angehenden 17. Jahrhunderts unter der Herrschaft von Königin Elisabeth I.
    Donald Trumps Fingerabdrücke sind im Buch
    Wenn jemand wie Stephen Greenblatt nun also ein Buch mit dem Titel "Der Tyrann" vorlegt, dann darf, ja, dann muss man eigentlich fragen: Was könnte den Autor Greenblatt seinerseits dazu bewegt haben, sich im Jahr 2018 mit den machtbesessenen Figuren aus dem Oeuvre Shakespeare zu beschäftigen? Greenblatt meint:
    "Ich möchte mich da gar nicht rausreden. Donald Trumps Fingerabdrücke finden sich überall in diesem Buch, weil ich es im gegenwärtigen Moment geschrieben habe und weil das nun mal die Welt ist, in der ich lebe."
    Von der "wachsenden Sorge über den Ausgang einer bevorstehenden Wahl" berichtet Greenblatt im Nachwort seines Buchs, einer Sorge, die ihn kurze Zeit nach jener Wahl schließlich zur "Tat" gedrängt habe. Zwei Jahre sind seither vergangen, und für liberale Amerikaner wie den Bostoner Greenblatt haben sich die schlimmsten Befürchtungen bestätigt: Als US-Präsident pflegt Donald Trump nicht nur beste Beziehungen zu den Autokraten unter seinen Amtskollegen, nein, er bewundert sie geradezu. Daran lassen etwa seine Statements über Nordkoreas Machthaber Kim Jong-un keinen Zweifel: "Er ist ein starkes Staatsoberhaupt. Wenn er spricht, sitzen die Leute da und hören zu. Ich will, dass meine Leute dasselbe machen."
    Aus geschichtlicher Sicht ist das kein neuer Wunsch. Schon Shakespeare hat immer wieder und ausführlich darüber nachgedacht, wie es passieren kann, dass eine Gesellschaft langsam in die Hände eines Despoten gerät. Heinrich VI., Richard III. und Macbeth sind dabei nur drei von zahlreichen Fallstudien, in denen der Dramatiker an mitunter weit entfernten Orten oder in vergangenen Jahrhunderten ganz drängenden Problemen seiner eigenen Zeit nachging. Denn selbst unter der relativ milden Herrschaft Elisabeths musste sich auch Shakespeare zu Lebzeiten stets bedeckt halten, was seine wahren politischen Ansichten anging. Die Zensur dürfte ein Grund gewesen sein, warum der Dramatiker bei der Wahl seiner Schauplätze stattdessen im Schottland des 11. Jahrhunderts, im antiken Rom oder in dem Fantasiegebilde eines maritim gelegenen Böhmens fündig geworden ist.
    Schon Macbeth wollte loyale Topbeamte
    Diese Kunst Shakespeares, sozusagen über Bande von den Problemen seiner Gegenwart zu berichten, stellt Greenblatt gleich an den Anfang seines Buchs. Dass auch seine eigenen Analysen dieser Methode folgen, wird dann im Verlauf der Folgekapitel klar. Etwa, wenn Greenblatt aufzeigt, wie der paranoide Macbeth die unbedingte Loyalität eines Topbeamten verlangt. In Passagen wie diesen gesellen sich bei der Lektüre zu den geschilderten Szenen nämlich immer wieder automatisch ganz reale Bilder, wie die eines Donald Trumps, der genau jene Loyalität von seinem obersten Geheimdienstchef James Comey einforderte. Handelt es sich hier also um eine Art Ratgeber für die Gegenwart? Eher nein, mein Greenblatt:
    "Ich glaube nicht, dass uns Shakespeare einen Rat geben kann, was die gegenwärtige Situation anbelangt. Das war schon zu Lebzeiten nicht sein Geschäft, und er könnte es mit Sicherheit auch heute nicht."
    Die Einsamkeit, Ungeduld, Schamlosigkeit des Tyrannen
    Tatsächlich fällt der Namen Trumps kein einziges Mal auf den gut 250 Seiten. Und auch nach Vladimir Putin, Recep Erdogan oder Kim Jong-un blättert man vergeblich. Stattdessen: der eifersüchtige Leontes, der innerlich zerfressene Richard, der gefühlskalte Coriolanus oder der altersverwirrte König Lear. Wahnsinnige und Machtbesessene sind es, die bei Shakespeare mit ihren überbordenden Egos immer wieder über Leichen gehen.
    In zehn kurzen Kapiteln geht Greenblatt so auf zweierlei Typen von Tyrannen ein. Da sind die, denen die Macht ganz langsam zu Kopf gestiegen ist – legitime Herrscher also, die im Amt verrückt wurden und zu Despoten mutierten. Und da sind die, die sich via List und Intrige auf den Thron gehievt haben, indem sie etwa das Volk aufgewiegelt oder Könige ermordet haben. Allen gemein sind laut Greenblatt Charaktereigenschaften, die von absoluter Einsamkeit und Ungeduld über die stets ausbleibende Befriedigung, die Erwartung unbedingten Gehorsams bis hin zur völligen Schamlosigkeit reichen:
    "Wenn Sie mich nach Shakespeares Relevanz für uns Heutige fragen: Er war fasziniert von Situationen, in denen die gesamte Kultur in einen Zustand der Krise zu geraten scheint. Ich bin beileibe nicht alleine, wenn ich glaube, dass derzeit, wo immer wir uns im politischen Spektrum befinden, mit Blick auf unsere politischen und moralischen Normen plötzlich etwas Entscheidendes zur Debatte steht … und nicht nur hier, in den Vereinigten Staaten: in Polen, in Ungarn, in Brasilien, in Russland und an vielen anderen Orten auf der Welt. Es bläst also ein neuer Wind, und über diese Art von Wind hat Shakespeare ein paar sehr gewichtige Dinge zu sagen."
    Blutige Konflikte zwischen Populismus und Rosenkriegen
    Anhand der frühen Trilogie um Heinrich den VI. zeigt Greenblatt zunächst, wie auf dem Boden extremer Parteipolitik ein Klima gedeiht, das den Aufstieg eines Despoten begünstigt. Zwischen den politischen Intrigen der Elite und der Schwäche eines unreifen, noch minderjährigen Königs lässt Shakespeare ein Machtvakuum entstehen, von dem letztlich gerade der profitiert, der dem Volk nach dem Mund redet. Ein vom Herzog von York inszenierter Volksaufstand wird so zur Bühne für die Machtergreifung eines Tyrannen, der die Unterschicht für seine Zwecke mobilisiert.
    Zwischen Populismus und Rosenkriegen entwickelt sich ein blutiger Konflikt zwischen mächtigen Herrscherdynastien, wie sie unter den Namen Kennedy oder Bush mitunter auch heute noch die politische Landschaft der USA prägen. Am Aufstieg eines anderen Tyrannen wiederum veranschaulicht Greenblatt wiederum, dass es meist pathologische Narzissten sind, die ihr beschädigtes Selbstbild mit dem Ausüben von Macht zu reparieren versuchen. Anhand des körperlich und seelisch gleichermaßen verkrümmten Königs Richard zeigt Greenblatt, wie der noch junge Shakespeare erstmals den Versuch unternimmt, das psychologische Panorama einer Persönlichkeit jenseits aller Mitmenschlichkeit entwerfen. Wie die meisten von Shakespeares Tyrannen geht auch Richard der III. zu Grunde.
    Der Name des Dunklen Lords schwebt über den Zeilen
    Am Ende geht es in diesem Buch ein wenig wie in den Bänden der Harry-Potter-Saga zu. Explizit genannt wird der Name des dunklen Lords nicht, aber als steter Du-weißt-schon-wer, als der, dessen Name nicht genannt werden darf, schwebt Donald Trump und mit ihm das Amerika der Gegenwart über fast jeder Zeile.
    In seinen Analysen wendet sich Greenblatt nämlich zuletzt auch der Gesellschaft zu und dem Umfeld, in dem eben jene Egomanen erst gedeihen und letztlich auch untergehen können. Das geschieht etwas spät im Buch und leider nicht konsequent genug, zu sehr ist Greenblatt von der Tyrannenfigur selbst als magnetischem Mittelpunkt seiner Studien fasziniert.
    Erst im fünften Kapitel geht er auf die sogenannten "Ermöglicher" ein, die auch in modernen Gesellschaft den Aufstieg kruder Machtmenschen flankieren. Diese Ja-Sager, Wegschauer und loyalen Unterstützer hegen als Steigbügelhalter mitunter auch eigene Ambitionen und stehen so, in der Summe, letztlich für das kollektive Versagen eines ganzen Systems ein.
    Was die Bürger tun können
    Genau jenes System ist es aber, das im besten Falle den Aufstieg eines Despoten auch verhindern kann, wie Greenblatt in einem abschließenden Kapitel über Shakespeares Coriolanus zeigt. Greenblatt erklärt:
    "In seiner letzten Tragödie hat Shakespeare mit Blutvergießen, Bürgerkrieg, massiver Zerstörung und Tod eine ganze Reihe von Szenarien erkundet, wie die Katastrophe der Tyrannei ein mögliches Ende finden könnte. Dabei ist er am Ende noch auf eine weitere Lösung gestoßen: Nämlich die, dass ein Desaster wie es die Herrschaft von Coriolanus dargestellt hätte, schließlich von ganz gewöhnlichen Bürgern sowie von ziemlich niederrangigen Politikern abgewendet wird. Bürger und Politiker, die schlicht auf die Einhaltung der grundlegenden Normen freier Wahlen pochen. Und das reicht aus, um den Aufstieg dieser entsetzlichen Figur namens Coriolanus letztlich zu verhindern."
    Wo im Coriolanus das Funktionieren gesellschaftlicher Mechanismen einer Tyrannei letztlich im Wege steht, ist es in anderen Fällen der Tyrann selbst, der gewissermaßen über die eigenen Füße stolpert.
    Am Beispiel Richards des III. verdeutlicht Greenblatt, dass die Mittel, mit denen man Macht erlangt, nicht immer auch dieselben sind, mit denen man Macht erhält. Ständige Paranoia sowie absolutes Misstrauen selbst engsten Vertrauten gegenüber sind es, die Shakespeares Macbeth wiederum am Ende langsam von innen zerfressen. Das psychologische Profil eines Tyrannen, wie Greenblatt es via Shakespeare entwirft, verkehrt sich also oft in die größte Gefahr für den Despoten selbst. Doch lässt sich das als Hoffnungsschimmer auch auf die Gegenwart übertragen?
    Wen hätte Shakespeare gewählt?
    "Ich glaube nicht, dass es sich lohnt zu fragen, ob Shakespeare Trump nun für einen Tyrannen gehalten hätte oder ob er Demokraten oder Republikaner gewählt hätte … Aber: Wie Sie wissen, beschwert sich unser Präsident ja des Öfteren, dass er nicht genügend gewürdigt wird für all das, was er geleistet hat. Ich glaube, wir können hier in aller Aufrichtigkeit sagen, dass Donald Trump seinen Teil dazu beigetragen hat, Shakespeare wieder 'großartig' zu machen."
    Denn genau wie in Shakespeares Dramen liegt auch die Stärke dieses Buchs in seiner Offenheit. Gleichwohl die Gegenwart als der Schreibanlass dient, ist hier weitaus mehr zu lernen als nur über Trump, Putin & Co. Greenblatt weist Shakespeare eine intime Kenntnis der Funktionsweisen von Demagogie, Populismus und Machtmissbrauch nach. Am reichhaltigen Innenleben der Shakespearschen Archetypen zeigt er, dass solche Techniken weit älter sind, als es so manch düstere Gegenwartsdiagnose glauben machen will.
    Stephen Greenblatt: "Der Tyrann. Shakespeares Machtkunde für das 21. Jahrhundert"
    Siedler Verlag, München. 224 Seiten, 20 Euro.