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Stephen King: "Später"
Geister der Kindheit

Seine außergewöhnlichen Fähigkeiten werden ihm zum Verhängnis: In seinem neuen Roman erzählt Bestseller-Autor Stephen King von einem New Yorker Jungen, der Tote sehen kann. Als Erwachsene beginnen, seine übersinnlichen Kräfte für ihre Zwecke auszubeuten, wird Jamies Kindheit zur Horrorstory.

Von Christoph Schröder | 18.03.2021
Ein Portrait des Schriftstellers Stephen King und das Cover seines Romans "Später"
Der 1947 geborene US-Amerikaner Stephen King wird längst nicht mehr als Trivialschriftsteller abgetan. Vielmehr hat auch die Literaturkritik erkannt, dass King wie nur wenige sechs Jahrzehnte amerikanische Wirklichkeit abbildet. (Cover Heyne Verlag / Autorenportrait picture alliance/AP Images | Mark Lennihan)
Jamie Conklin, der Ich-Erzähler von Stephen Kings neuem Roman, ist sechs Jahre alt, als er zum ersten Mal bemerkt, dass er über außergewöhnliche Fähigkeiten verfügt. Gemeinsam mit seiner Mutter, einer erfolgreichen New Yorker Literaturagentin, kommt er im Central Park an einer Unfallstelle vorbei. Offenbar ist ein Fahrradfahrer gestürzt; er liegt auf der Straße. Passanten haben sein Gesicht mit einer Jacke bedeckt. Jamie sieht die schwarzen Hosen des Mannes und seine blutigen Beine. Als Jamie sich umschaut, erblickt er allerdings etwas, was offensichtlich keiner der Umstehenden außer ihm zu bemerken scheint:
"Neben ihm stand derselbe Mann mit denselben Fahrradshorts und derselben Knieschiene. Er hatte weiße Haare mit Blut darin. Das Gesicht war in der Mitte eingedrückt, weil er wohl auf der Bordsteinkante aufgeprallt war."

Klassische King'sche Motive

Jamie Conklin kann Tote sehen. Der Rückkehrer aus dem Totenreich, ist im riesigen Universum Stephen Kings ein ebenso klassisches Motiv wie das des Mediums, das eine Brücke in die Realität schlägt. Man denke nur an Kings berühmte Romane "Shining" oder auch "Friedhof der Kuscheltiere". Jamie, das ist die Grundidee des neuen Romans, ist nicht nur in der Lage, mit den Toten zu sprechen. Darüber hinaus müssen sie ihm auch auf die Fragen, die er ihnen stellt wahrheitsgemäß antworten. Schließlich haben sie auch nichts mehr zu verlieren.
Diese Fähigkeit, von deren tatsächlicher Existenz Jamie auch seine ihn über alles liebende Mutter überzeugen kann, hat zu Beginn noch nichts Bedrohliches. Erzählt werden die Ereignisse allerdings rückblickend vom mittlerweile 22-jährigen Jamie, der immer wieder betont, dass es sich um eine Horrorstory handelt. Das bezieht sich nicht nur darauf, dass die Toten für Jamie nicht tot sind, sondern auch darauf, dass Jamies anfangs glückliche, wenn auch vaterlose Kindheit Stück für Stück zerbröckelt.

Ritual gegen Angst und Geister

Die Mutter hat sich in der Immobilienkrise von 2008 verspekuliert und gerät finanziell ins Schleudern. Zudem ist ihre neue Lebenspartnerin, eine Polizistin, aufgrund krummer Geschäfte ins Visier der Kollegen geraten. Beide nutzen Jamies Fähigkeiten aus, um sich aus dem Sumpf zu ziehen. Dabei macht Jamie Bekanntschaft mit einem Toten, einem Serienattentäter, der nicht wie alle anderen zuvor nach kurzer Zeit verschwindet, sondern ihn stattdessen verfolgt. Es ist ein ehemaliger Nachbar, ein emeritierter Professor für Literatur, der Jamie daraufhin mit dem sogenannten Ritual von Chüd bekannt macht:
"Der Zweck bestehe darin, ein Gefühl des vollkommenen Nichts und den dadurch entstehenden Zustand von Gelassenheit und spiritueller Klarheit zu erreichen. Als nützlich gelte es zudem dafür, Dämonen zu bekämpfen, sowohl jene im eigenen Geist wie auch den übernatürlichen Typus, der uns von außen her bedränge."
Dieses Ritual von Chüd nimmt bereits in Stephen Kings wohl berühmtesten Roman "Es" eine zentrale Rolle ein. Es beschreibt, wie ein Monster und sein Gegner sich in einem finalen Kampf gegenseitig auf die Zunge beißen und dabei in die Augen blicken. Anders gesagt: Es geht darum, sich dem Grauen zu stellen, anstatt davor davonzulaufen. Man kann diese Wiederaufnahme einer Idee als eine Hommage Kings an sich selbst betrachten. Oder aber auch als einen Beleg dafür, dass "Später" im Vergleich zu anderen Werken Kings nicht eben vor neuen Einfällen strotzt.

Überraschungsarme Kriminalstory

King kann routiniert Plots bauen, Spannung erzeugen und arbeitet, in diesem Fall geradezu exzessiv, mit Cliffhangern. Andererseits ist das Terrain, auf dem er seine Stärken ausspielt, eher der sorgfältig aufgebaute Mikrokosmos einer Kleinstadt als die Metropole New York. "Später" entwickelt sich auf für King-Verhältnisse knappen Raum von 300 Seiten zu einer streckenweise spannenden, aber auch recht überraschungsarmen Kriminalstory mit übersinnlich aufgeladenem Showdown. Der 22-jährige Erzähler Jamie rekapituliert im Nachhinein seine damalige Situation:
"Das Wort, um das es hier geht, ist nicht vulgär. Es lautet 'später', wie in 'später habe ich erfahren'. Ich weiß, dass das monoton klingt, aber ich hatte keine andere Wahl. Meine Geschichte fängt nämlich in einer Zeit an, wo ich noch an den Weihnachtsmann und an die Zahnfee glaubte."
"Später" ist der Roman einer gestohlenen Kindheit. Das eigentliche Thema ist, wie so oft bei King, der von den gesellschaftlichen Umständen erzeugte Horror, der sich in seinen unberechenbaren Ausprägungen auf ein bis dahin unschuldiges Dasein legt. Die Immobilienkrise, die Gier, die Angst vor sozialem Abstieg – all das sind Platzhalter für eine Welt, die keine Rücksichten nimmt, wenn es gilt, den eigenen Kopf zu retten. Auch das ist nicht neu. Stephen King wird mit Sicherheit wieder gewichtigere Romane schreiben. Später.
Stephen King: "Später"
Aus dem Englischen von Bernhard Kleinschmidt
Heyne Verlag, München, 304 Seiten, 22 Euro