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Sterbehilfe in den Niederlanden
Die Sehnsucht nach dem Tod

Wer unheilbar krank ist, darf in den Niederlanden aktive Sterbehilfe verlangen. Die Zahl der Patienten, die darum bitten, steigt - die Zahl der Ärzte, die sich weigern, steigt auch. Zunehmend wünschen sich chronisch Kranke ein tödliches Mittel. Eine neue Debatte um die Schmerzgrenze hat begonnen.

Von Kerstin Schweighöfer | 02.03.2018
    Ein Stempel aus Holz liegt auf einem Dokument. Deutsche Aufschrift: Unheilbar McPBBO McPBBO a Stamp out Wood is on a Document German Inscription cured
    Ein Stempel aus Holz liegt auf einem Dokument Deutsche Aufschrift Unheilbar McPBBO McPBBO (imago stock&people)
    Die Mutter von Fleur van Putten liegt auf Rozenburgh begraben, einem kleinen Friedhof in Voorschoten bei Den Haag. Sechs Jahre lang hatte sie gegen den Krebs gekämpft - vergeblich. Als sie wusste, dass es keine Aussicht auf Heilung mehr gab, bat die 59jährige ihren Hausarzt um Sterbehilfe. "Mein Vater und ich haben das akzeptiert", erzählt die Tochter. Fleur war dabei, als der Hausarzt ihrer Mutter die tödliche Injektion gab.
    "Meine Mutter wollte sich die letzten, die allerschlimmsten Wochen ersparen. Sie wollte friedlich sterben. Und in Würde", erzählt sie.
    Fleurs Mutter Jacqueline erfüllte alle Kriterien, um für Sterbehilfe in Frage zu kommen: Sie war unheilbar krank ohne Aussicht auf Genesung, ihr Leiden unerträglich, und sie hatte den Wunsch zu sterben selbst mehrfach ausdrücklich geäußert.
    Auch der Arzt von Jacqueline van Putten hielt sich an alle Vorschriften: Er zog einen Kollegen zu Rate und meldete den Fall umgehend einer der fünf regionalen Prüfkommissionen für Sterbehilfe. Sie bestehen aus Juristen, Ärzten und Ethikern und kontrollieren, ob der Arzt sorgfältig gehandelt hat oder strafrechtlich verfolgt werden muss.
    Protestantischer Kompromiss
    Auf diese Richtlinien hatten sich die pragmatischen Niederländer 2002 geeinigt. Nach einer fast 30 Jahre langen gesellschaftlichen Debatte, erzählt Professor Theo Boer. Der 57-Jährige lehrt medizinische Ethik und war neuneinhalb Jahre lang Mitglied einer regionalen Prüfstelle für Sterbehilfe:
    "Das Gute an unserer Regelung: Sterbehilfe ist nach wie vor verboten – es sei denn, dass ... Jeder Fall muss geprüft werden. Das ist ein typisch niederländischer, ein protestantischer Kompromiss. Denn Protestanten legen großen Wert auf Transparenz."
    Doch was dem Professor große Sorge bereitet: In den letzten Jahren ist die Zahl der Sterbehilfefälle stark angestiegen. Auch geht es nicht mehr nur um Krebspatienten im Endstadium, also die ursprüngliche Zielgruppe: Inzwischen bekommen auch immer mehr Menschen mit Herz- und Kreislauf- oder Nervensystemerkrankungen wie ALS Sterbehilfe. Psychiatrie- und Alzheimerpatienten. Senioren, die an so genannten multiplen Alterserkrankungen leiden, sprich: sich nicht mehr bewegen können, inkontinent sind, blind und taub. Auch sie können sich auf die Sterbehilferegelung berufen, so wird bei der NVVE betont, der Vereinigung für ein freiwilliges Lebensende, einer der Pioniere der Sterbehilferegelung.
    Die Ausnahme wird zur Regel
    Sprecherin Stefanie Michelis sagt: "Es geht um unerträgliches und aussichtloses Leiden, das ist das Ausschlaggebende. Und dieses Leiden kann sowohl körperlich als auch psychisch sein."
    Inzwischen wird Sterbehilfe in den Niederlanden mehr als 6000 Mal im Jahr geleistet. Das sind gut 4,5 Prozent aller Sterbefälle. 2010 waren es noch 2,8 Prozent. Das ergab die jüngste Evaluierung des Sterbehilfeparagraphen, die alle fünf Jahre im Auftrag der Regierung von einem unabhängigen Expertengremium durchgeführt wird.
    Ein Grund könnten die immer mündiger gewordenen niederländischen Patienten sein. Für viele ist Sterbehilfe ein Recht geworden, auf das sie pochen, so Professor Theo Boer:
    "Dabei haben sie dieses Recht überhaupt nicht. Rein juristisch gesehen geht es um eine Handlung im Ausnahmefall, die durch eine Notsituation gerechtfertigt sein muss. Doch die Ausnahme wird immer mehr zur Regel. Und das, obwohl die palliative Sorge in den letzten 20 Jahren sehr viel besser geworden ist – eigentlich ein Paradox."
    Jeder zweite Arzt, auch das ergab der jüngste Evaluierungsrapport, fühlt ganz generell gesellschaftlichen Druck, Sterbehilfe leisten zu müssen; jeder dritte wurde sogar konkret von Angehörigen unter Druck gesetzt. Nicht alle geben ihm nach: 2015 haben Ärzte 45 Prozent aller Bitten um Sterbehilfe abgelehnt, fast jede zweite.
    Ein unauffälliges Backsteinhaus in Den Haag, unweit von Europol und dem Jugoslawientribunal. "Levenseindekliniek" steht links neben der Klingel. Lebensendeklinik.Hier können sich Menschen melden, die keinen Arzt finden, der ihnen beim Sterben helfen will. Obwohl sie eigentlich unter die legale Regelung fallen, betont Direktor Steven Pleiter:
    "Es gibt zwei Hauptgründe, weshalb Ärzte Sterbehilfe ablehnen: erstens aus persönlichen oder Glaubensgründen. Zweitens, weil sie unsicher sind und nicht wissen, welchen Raum ihnen das Gesetz bietet, zum Beispiel bei Demenz- oder Psychiatriepatienten: Das ist vielen Ärzten zu kompliziert, daran wagen sie sich nicht. Solche Patienten bekommen bei uns eine zweite Chance."
    Ambulante Sterbehilfeteams reisen durchs Land
    Im Auftrag der Lebensendeklinik reisen 50 ambulante Sterbehilfeteams durchs Land und prüfen jeden Fall ein zweites Mal. Jeder dritte wird erneut abgelehnt. Die Zahl der geleisteten Sterbehilfefälle ist dennoch regelrecht explodiert: von 53 bei der Gründung der Klinik 2012 auf 747 Fälle im letzten Jahr. Und das, obwohl das Krankheitsbild sehr viel komplexer und Krebs die Ausnahme ist.
    Die weitaus meisten Niederländer stehen nach wie vor hinter ihrer Sterbehilferegelung. Aber dass nun auch vermehrt Demenz- und Psychiatriepatienten oder Senioren mit multiplen Altersgebrechen aktive Sterbehilfe bekommen, geht vielen zu weit.
    Auch für Ethikprofessor Theo Boer wurde damit eine rote Linie überschritten. Ausschlaggebend für seinen Austritt aus der regionalen Prüfkommission sei zwar eine Professur gewesen - aber, so betont er:
    "Das kam mir sehr gelegen, denn für mich war die Schmerzgrenze erreicht. Wir segneten immer mehr Fälle ab, für die unser Sterbehilfeparagraph eigentlich nie gedacht war. Menschen, die noch Jahre hätten leben können! Wir haben es versäumt, das Kriterium des voraussehbaren Todes in den Paragraphen aufzunehmen: Dass der Patient in kurzer Zeit sowieso gestorben wäre. ,Foreseeable death' heisst das im Fachjargon."
    Die weitaus meisten Ärzte handeln vorsichtig und sorgfältig. Bei Alzheimerpatienten können sie sich inzwischen auf schriftliche Erklärungen der Patienten berufen. Diese Erklärungen sind auch dann noch gültig, wenn der Patient – Jahre später – nicht mehr fähig ist, selbst zu kommunizieren.
    "Eine Art Kronjuwel"
    Aber was ist, wenn der inzwischen schwer demente Patient auf einmal nicht mehr zu sterben wollen scheint? Wenn er sich wehrt? So wie jene 74jährige Frau, die erst ein Beruhigungsmittel bekam und die dann trotzdem noch von ihren Familienangehörigen festgehalten werden musste, damit der Arzt ihr die tödliche Spritze geben konnte?
    Dieser Fall hat 2017 das ganze Land erschüttert. Er wurde von den Prüfkommissionen an die Staatsanwaltschaft weitergeleitet – und die wird nun höchstwahrscheinlich dafür sorgen, dass sich zum allerersten Mal seit Einführung des Sterbehilfeparagraphen 2002 ein Arzt vor Gericht verantworten muss.
    Professor Boer hofft, dass der Fall eine längst fällige Debatte auslöst über das Funktionieren des Sterbehilfepararaphen:
    "Wir müssen aufpassen, dass wir nicht verlernen, mit Leiden und Schmerzen umzugehen. Wir machen um beides einen immer größeren Bogen. Das Leben kennt nun einmal schwierige Phasen, mit denen wir zurechtkommen müssen. Das gehört dazu. Das ist part of the deal. "