Donnerstag, 28. März 2024

Archiv

Sterbehilfe
Niederlande streiten über Todeswunsch gesunder Menschen

Sollen auch gesunde Menschen Hilfe zur Selbsttötung bekommen können? In den Niederlanden stoßen entsprechende Pläne der Gesundheitsministerin auf heftige Kritik. Angesichts von Kürzungen in der Altenpflege sei die Ausweitung der Sterbehilfe regelrecht zynisch.

Von Kerstin Schweighöfer | 03.11.2016
    Ein jüngerer Mensch umfasst das Armgelenk einer älteren Person, die im Krankenbett liegt.
    In den Niederlanden soll auch alten und gesunden Menschen ein Recht auf Sterbehilfe eingeräumt werden. (picture alliance / dpa / Jm Niester)
    "Nach einem glücklichen Leben haben unsere geliebten Eltern und Großeltern nicht mehr trennen wollen, was 1963 als Bund des Lebens geschlossen worden war. Nach 53 glücklichen und liebevollen Jahren haben sie sich dafür entschieden, gemeinsam zu sterben."
    So wurde Ende Oktober in einer Traueranzeige der Tod des ehemaligen christdemokratischen Abgeordneten Frans Jozef van der Heijden und seiner Frau Gonnie bekannt gemacht. Der Rotterdamer ist 78 Jahre alt geworden, seine Frau 76.
    Gut die Hälfte der Anzeige besteht aus einem Brief, den der prominente Christdemokrat zusammen mit seiner Frau anlässlich ihres Todes verfasst hatte: Darin setzen sie sich für das Recht ein, gemeinsam aus dem Leben scheiden zu dürfen, wenn dieses als vollendet betrachtet werden kann. Ihr eigenes Leben, so das Ehepaar, hätte in großem Leid enden können - warum dürfen wir es nicht beenden, solange wir noch nicht allzusehr leiden und uns selbst und anderen keine Last sind?
    Egal, ob im Radio, Fernsehen oder am Stammtisch: Das Statement erregte im ganzen Land Aufsehen.
    Das Recht auf Sterbehilfe erweitern
    Es kam zu einem Zeitpunkt, als die niederländische Gesellschaft ohnehin bereits intensiv über eine Erweiterung des Sterbehilfeparagraphen debattierte: Bisher haben nur kranke Menschen, die ohne Hoffnung auf Genesung unerträglich leiden, unter bestimmten Bedingungen ein Recht darauf. Nun möchte Gesundheitsministerin Edith Schippers einen Schritt weiter gehen: Auch alten und gesunden Menschen soll ein ähnliches Recht eingeräumt werden. Einer Umfrage zufolge weiß die Ministerin 70 Prozent der Bürger hinter sich:
    "Untersuchungen haben ergeben, dass dieser Wunsch in allen Schichten der Bevölkerung existiert. Nicht nur gut ausgebildete, emanzipierte Bürger wollen diese Möglichkeit haben. Was noch lange nicht heißt, dass sie davon dann auch Gebrauch machen. Es ist für viele ein beruhigender Gedanke, dass sie, wenn sie wollten, die Möglichkeit hätten. Es gibt immer wieder entsetzliche Vorfälle von alten Menschen, die sich eine Plastiktüte über den Kopf stülpen. Diese Verzweiflung ist Realität. Und dabei geht es leider nicht um Ausnahmen!"
    So wie beim bestehenden Sterbehilfeparagrafen muss der Todeswunsch deutlich und mehrfach geäußert worden sein. Geprüft werden soll dies von einem so genannten Sterbensbegleiter: Er muss sämtliche Alternativen ausschließen, einen Arzt zu Rate ziehen und sich außerdem vor einer Ethikkommission verantworten.
    Ob es so weit kommt, bleibt abzuwarten. Die Christdemokraten und die kleinen streng kalvinistischen Parteien sind vehement dagegen. Sie sprechen von einem "moralischen Wendepunkt". Es gehe vielmehr darum, Einsamkeit zu bekämpfen und die Situation in den Pflegeheimen zu verbessern. Barmherzigkeit bedeute, Perspektiven zu bieten, aber doch nicht den Tod, so Fraktionsvorsitzender Kees van der Staaij.
    Der Vorwurf an die Gesundheitsministerin: Zynismus
    Auch den Sozialisten geht das geplante Gesetz viel zu weit. Es sei zynisch, so Fraktionsvorsitzender Emile Roemer, dass ausgerechnet eine Gesundheitsministerin mit diesem Plan komme, die jahrelang drastische Einsparungen bei der Altenpflege durchgeführt und damit die Einsamkeit gefördert habe.
    Die Befürworter betonen, man könne den Wunsch, würdig sterben zu wollen, nicht an Missstände im Gesundheitswesen koppeln. Es gehe nicht um Einsamkeit oder Lebensmüdigkeit, sagt Alexander Pechtold von der linksliberalen D66-Partei: "Ich habe viele Menschen gesprochen, die sagen: 'Ich habe ein wunderbares Leben gehabt, aber jetzt bin ich so gut wie blind und kann nicht mehr lesen, mein Partner ist tot - es ist gut so, es reicht.' Es ist dann doch eine Form der Zivilisation, wenn man selbst entscheiden kann, ob man geht oder nicht. Ich würde nie einen anderen dazu zwingen. Aber wir sollten es dem anderen gönnen."
    Hanny van der Velde kann ihm da nur zustimmen. Die 85-jährige Amsterdamerin ist fit und rüstig. Vor dem Tod hat sie keine Angst - aber vor dem Sterben: "Unsere Politiker sind durchschnittlich 50 Jahre alt, vielleicht auch 60 - sie befinden sich in einer ganz anderen Lebensphase als wir Alten - aber sie entscheiden darüber, wie wir zu sterben haben! Obwohl sie davon keine Ahnung haben. Das ist doch furchtbar! Über den Beginn unseres Lebens können wir nicht mitreden. Aber über unser Lebensende sollten wir das tun dürfen."