Christine Heuer: Zweiter Tag einer besonders wichtigen Verhandlung heute vor dem Bundesverfassungsgericht. Es geht um die Sterbehilfe. Konkret geht es um den Paragraphen 217 Strafgesetzbuch, der Ende 2015 in Kraft getreten ist. Die Vorschrift stellt die "geschäftsmäßige Förderung der Selbsttötung" unter Strafe. Dem Gericht liegen sechs Verfassungsbeschwerden dagegen vor, von schwer erkrankten Menschen, von Ärzten und auch von Sterbehilfe-Vereinen.
Am Telefon bin ich verbunden mit Gian Domenico Borasio, Palliativmediziner, Professor an der Uni Lausanne, Buchautor. Unter anderem hat er das Standardwerk geschrieben "Über das Sterben: Was wir wissen: Was wir tun können. Wie wir uns darauf einstellen". Guten Morgen, Professor Borasio.
Gian Domenico Borasio: Guten Morgen, Frau Heuer.
"Zustände am Lebensende, die möchte man sich nicht einmal vorstellen"
Heuer: In Karlsruhe verhandelt das höchste deutsche Gericht. Politiker und Verbände diskutieren vielleicht etwas geschäftsmäßig über die geschäftsmäßige Hilfe zur Selbsttötung. Ich würde das gerne zu Beginn unseres Gespräches etwas erden. Über wen genau wird da verhandelt und diskutiert, Herr Borasio? Um welche Menschen in welchen Lebens- oder Sterbesituationen geht es da genau?
Borasio: Ja, das ist ganz wichtig, dass wir das nicht vergessen. Es geht um Menschen, die ganz extrem leiden am Lebensende, die aus ihrer Sicht - und das ist die einzig gültige - unerträglich leiden, die ihre Sterbephase als qualvoll oder auch als würdelos empfinden.
Ein paar Beispiele - es gibt sehr, sehr viele. Patienten mit amyotropher Lateralsklerose, eine fortschreitende Lähmungskrankheit, die im Verlauf ihrer Krankheit vollständig auf Hilfe angewiesen sind, teilweise, wenn sie nur noch wenige Wochen zu leben haben, ihren Zustand mit samt der Schmerzen, der Atemnot als entwürdigend empfinden, und die ihren erschöpften Angehörigen und auch sich selbst die letzten Lebenswochen ersparen möchten, was man nun schlecht als unethischen Wunsch darstellen kann.
Aber auch Patienten mit Lungenerkrankungen, Raucherlunge, Lungenfibrose, die bei der geringsten Anstrengung auch in Ruhe schreckliche Atemnot haben, aber gerade noch so viel atmen können, dass sie eben nicht sterben. Oder Krebspatienten mit Schmerzen, die auch die beste Palliativmedizin in der Sterbephase nicht ausreichend lindern kann. Das ist selten, wenn man muss alles versucht, weil die Palliativmedizin wirklich sehr, sehr erfolgreich ist, und man muss sie stärken. Das ist richtig.
Aber es gibt einen kleinen Prozentsatz, bei dem auch die beste Palliativmedizin nicht wirkt. Aber auch seltene Erkrankungen gibt es wie die Epidermolysis bullosa; das ist eine schreckliche Hauterkrankung, wo sich die ganze Haut in Blasen auflöst und schmerzhafte offene Geschwüre am ganzen Körper hinterlässt.
Es gibt wirklich Zustände am Lebensende, die möchte man sich nicht einmal vorstellen, und trotzdem gibt es sie. Und diese extrem leidenden Menschen, das sind die, die wir aufgrund einer - ich kann es nur so sagen - ideologischen Verbohrtheit im Stich lassen, und das kann ich als Arzt nicht akzeptieren.
Heuer: Was können Sie als Arzt tun? Was heißt denn konkret in diesem Fall Hilfe zur Selbsttötung?
Borasio: Ich arbeite in der Schweiz. Dort wird die Hilfe zur Selbsttötung von Sterbehilfe-Organisationen durchgeführt - ein Modell, das ich nicht empfehle, weil die Schweiz kein Gesetz hat, das die Suizidhilfe regelt, und damit kontrollieren sich diese Organisationen quasi selbst, was keine gute Idee ist.
Aber grundsätzlich, würde ich sagen, gibt es ein sehr, sehr gutes Modell, das wir auch für Deutschland vorgeschlagen haben: das Modell aus Oregon, wo die Suizidhilfe grundsätzlich strafbar ist, außer sie wird von Ärzten unter Einhaltung ganz strenger Vorsichtsmaßnahmen durchgeführt und auch dokumentiert. Da wird dann nach einem ganz langen Prozess, wo festgestellt wird, ob kein äußerer Druck vorliegt, ob alle palliativmedizinischen Möglichkeiten auch wirklich angeboten und ausgeschöpft worden sind, und durch die Einschaltung zweier verschiedener Ärzte, dann wird am Ende ein Rezept für eine tödliche Dosis eines Betäubungsmittels ausgestellt, und dieses Mittel kann dann der Patient selbst einnehmen.
Ganz interessant: Ein Drittel der Patienten tun es dann nicht. Das heißt, durch so eine Regelung, wenn sie vernünftig ist, werden Suizide eher verhindert, und vor allem werden gewaltsame Suizide verhindert. Denn ein Teil dieser Menschen, die in Deutschland vom Gesetzgeber schmählich im Stich gelassen werden, die werfen sich dann vor den Zug oder vor die U-Bahn und reißen dann auch andere unbeteiligte Menschen in ihre letzte Verzweiflungstat, ins Leiden mit, und das sollten wir wirklich verhindern.
"Es geht überhaupt nicht um das Töten von Menschen"
Heuer: Nun sagen Befürworter des Gesetztes, das die Hilfe, wie Sie sie beschrieben haben, in Deutschland verhindert: Wenn wir da nicht gegenhalten, dann sinkt die Hemmschwelle bei allen Beteiligten. Dann wollen Menschen einfach so sterben und Ärzte haben dann keine Skrupel mehr, ihnen dabei zu helfen. Der Bundesärztekammer-Präsident Montgomery zum Beispiel, der hat gestern in der ARD gesagt, es sei nun mal nicht Aufgabe der Ärzte, "einfach so zu töten".
Borasio: Na ja. Bundesärztekammer-Präsident Montgomery ist in dieser Hinsicht leider ein Ärztekammer-Präsident zum Fremdschämen. Er ist seines Zeichens Radiologe und er hat wie so viele Ärztefunktionäre und auch, muss ich leider sagen, Palliativfunktionäre nicht so viel Kontakt zu dem, was tatsächlich an der Basis passiert, was es tatsächlich bedeutet, Menschen, die völlig verzweifelt sind, am Lebensende zu betreuen.
Zudem geht es überhaupt nicht um das Töten von Menschen. Ich bin ein ganz erklärter Gegner der Tötung auf Verlangen, wie sie in den Niederlanden praktiziert wird. Das ist eine sehr gefährliche Praxis, denn sie führt unter anderem nachweislich zu Tötungen ohne Verlangen, und das ist tatsächlich eine rote Linie, die eine Gesellschaft auf gar keinen Fall überschreiten sollte.
Aber wir haben die Daten doch vorliegen. Wir können wirklich auf der Basis von empirischen Daten uns die Sache anschauen. Das gibt es in Oregon seit über 20 Jahren. Und die Anzahl dieser Menschen, die durch assistierten Suizid, ärztlichen assistierten Suizid aus dem Leben scheiden, liegt bei 0,39 Prozent.
Das sind zwölfmal weniger als in den Niederlanden, wo fast fünf Prozent der Menschen inzwischen an Euthanasie sterben. Deswegen ist es aus wissenschaftlicher Sicht, aber auch aus ethischer Sicht die Tötung auf Verlangen ganz klar abzulehnen. Davon redet aber auch keiner in Deutschland, außer der bioethisch dilettierende Herr Montgomery.
Es geht hier um den ärztlich assistierten Suizid und das ist ein, aus empirischer Grundlage wirklich zu empfehlendes Mittel, um diese ganz, ganz wenigen Menschen – es geht um Extremfälle – am Ende ihres Lebens nicht im Stich zu lassen.
"Die Ärzteschaft ist in dieser Hinsicht gespalten"
Heuer: In Deutschland war es der damalige Gesundheitsminister Hermann Gröhe, der den Paragraphen 217 mit aus der Taufe gehoben hat. Er sagt, die Ärzteschaft sei nicht verunsichert. Die Ärztekammern könnten außerdem aufklären.
Herr Borasio, lassen Sie uns über die Ärzte auch noch kurz sprechen. Sie haben ja selbst lange in Deutschland gearbeitet. Was sagen denn Ihre Kollegen dort? Ist für die alles in Ordnung, wie es jetzt geregelt ist? Oder wünschen die sich eine klarere Regelung?
Borasio: Überhaupt nicht. Es gibt Umfragen von der Deutschen Gesellschaft für Palliativmedizin oder von der Bundesärztekammer selber. Schon 2009 haben 37 Prozent der deutschen Ärzte in einer solchen Umfrage gesagt, sie können sich sehr wohl vorstellen, Suizidhilfe zu leisten, wenn es denn legal wäre, und genauso 34,5 Prozent der Palliativmediziner. Das heißt, dass die Ärzteschaft geschlossen hinter dieser ultrakonservativen Haltung stünde, das ist ein Märchen.
Die Ärzteschaft ist in dieser Hinsicht gespalten und ich wünsche mir einen Dialog, um eine vernünftige Lösung in der Mitte zu finden. Das kann nicht die Tötung auf Verlangen sein; das kann aber auch nicht der jetzige Paragraph 217 sein, der eine Rechtsunsicherheit am Lebensende geschaffen hat, die in der westlichen Welt ihresgleichen sucht. Es ist nirgendwo so unklar, was wer wie wo wann darf am Lebensende, wie in Deutschland. Das ist wirklich furchtbar.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.