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Sterzing: "Hamas muss sich beteiligen"

Die Hamas bekomme mehr und mehr Druck von militanten Gruppen. Um die fortbestehende Radikalität unter Beweis zu stellen, müsse man Raketen abschießen. Ansonsten würde Hamas in den Ruf geraten, nicht mehr ernsthaft Widerstand zu leisten, sagt der ehemalige Leiter der Heinrich-Böll-Stiftung in Ramallah, Christian Sterzing.

Christian Sterzing mit Friedbert Meurer | 16.11.2012
    Friedbert Meurer: Gestern Abend gab es erstmals seit 1991 wieder Luftalarm in Tel Aviv, seit 20 Jahren das erste Mal. Damals war Golfkrieg. Erste Meldungen, in der Stadt sei eine Rakete eingeschlagen – das war so am Abend -, die stellten sich dann doch als falsch heraus. Aber so weit wie diesmal scheinen, die Raketen aus dem Gazastreifen noch nie geflogen zu sein. Eine landete auf einem freien Feld etwas über zehn Kilometer südlich der größten Stadt Israels. Damit könnte die jüngste Auseinandersetzung eine neue Qualität erreichen und in Israel halten viele es für möglich, dass die Armee jetzt mit Bodentruppen in den Gazastreifen eindringen könnte.
    Christian Sterzing ist ehemaliger Grünen-Bundestagsabgeordneter, von 2004 bis 2009 hat er das Büro der Heinrich-Böll-Stiftung in Ramallah im Westjordanland geleitet, jetzt ist er Publizist. Guten Morgen, Herr Sterzing.

    Christian Sterzing: Einen schönen guten Morgen, Herr Meurer.

    Meurer: Wenn Sie sich die Entwicklung jetzt anschauen in den letzten Tagen, wer trägt die Verantwortung für die Eskalation?

    Sterzing: Es ist, glaube ich, in diesem Falle, wie häufig in der Region, unmöglich, hier eindeutig die eine oder die andere Seite sozusagen für schuldig zu befinden für die Eskalation. Es sind Entwicklungen, es entwickeln sich Dynamiken auf beiden Seiten, die dann nicht mehr in den Griff zu bekommen sind von den Beteiligten. Wir haben hier einerseits auf der palästinensischen Seite die Situation, dass Hamas in den letzten Monaten auch immer mehr unter Druck geraten ist, wieder von Salafisten, also von ganz radikalen palästinensischen Gruppen und Organisationen. Man muss hier auch schon sehen, dass nach mehr als fünf Jahren die Hamas im Gazastreifen nicht sehr viel erreicht hat. Die Blockade von Israel hält an, die Lebenssituation für die Palästinenser ist weiterhin schwierig, politisch ist man nicht wesentlich vorangekommen. Also da besteht schon auch ein Bedürfnis, sich zu profilieren. Und auf der israelischen Seite ist eben Wahlkampf. Wir haben ja leider in den letzten 20, 30 Jahren die Erfahrung gemacht, dass in Wahlkampfsituationen in Israel eben sehr häufig mit militärischen Aktionen, ja manchmal sogar mit Kriegen zu rechnen ist.

    Meurer: Also Sie verteilen, Herr Sterzing, die Verantwortung auf beide Schultern? Israel sagt, ja, wir werden angegriffen in Süd-Israel. Die Palästinenser, Hamas feuert Raketen ab, dass, was wir machen ist, Selbstverteidigung. Für Israel ist es eine ganz klare und eindeutige Sache der Selbstverteidigung. Was meinen Sie?

    Sterzing: Ja. Es hat sicherlich in der letzten Zeit einen verstärkten Beschuss aus Gaza auf den Süden Israels gegeben. Ich glaube, da lässt sich gar nicht daran zweifeln.

    Meurer: Dann ist doch die Hamas der Aggressor diesmal?

    Sterzing: Ja. Man darf aber nicht vergessen, dass ja am Dienstag, also Anfang der Woche, ein Waffenstillstand vermittelt worden ist von Ägypten, und Sie werden sich vielleicht daran erinnern, an die Meldungen in den Medien, dass Ruhe eingekehrt war. Es ist nie eine vollständige Ruhe gewesen, es gab immer mal hier und da Beschuss, es gab immer hier und da auch Aktionen der Israelis, auch in den letzten Wochen, und insofern war dann der angriff mit Flugzeugen und Beschuss auf den Gazastreifen am Mittwoch Nachmittag sehr überraschend, glaube ich, gerade auch für die Palästinenser im Gazastreifen, denn man hatte eigentlich gedacht, das ist mal wieder überstanden. Wir haben diese kurzfristigen Eskalationen in den letzten Jahren immer wieder gehabt und sehr häufig ist dann mit ägyptischer Vermittlung ein natürlich inoffizieller Waffenstillstand herbeigeführt worden, der dann wieder für eine vorübergehende Ruhe sorgte.

    Meurer: Ist Ihrer Meinung nach die israelische Offensive ein politischer Fehler, geschuldet dem Wahlkampf?

    Sterzing: Das wird sich am 22. Januar herausstellen, wenn in Israel Wahlen sind. Wir haben es – ich habe es ja angedeutet – in den letzten Jahren, Jahrzehnten öfter erlebt, dass in Wahlkampfzeiten sich die militärische Situation zugespitzt hat. Wir haben historisch gesehen häufig den Fall gehabt, dass dies den Regierungen genutzt hat, weil sie das Thema Sicherheit wieder ins Gespräch gebracht haben, weil sich die Regierung profilieren konnte als Verteidiger des Landes. Im Augenblick haben wir ja auch eine Situation, in der ganz andere Themen im Wahlkampf eine Rolle gespielt haben, nämlich soziale Gerechtigkeit, wirtschaftliche Probleme. Das war der Regierung Netanjahu gar nicht recht. Aber jetzt kann die Opposition nichts anderes tun, als Beifall zu klatschen und sich hinter die Regierung zu stellen. Aber auf der anderen Seite haben wir es auch erlebt, dass in den letzten Jahren – ich erinnere an den letzten Gazakrieg; das war ja auch im Wahlkampf damals, um die Jahreswende 2008/2009 -, dass dies eben der damaligen Regierung dann letztendlich geschadet hat, weil es eben doch nach einer gewissen Zeit der militärischen Operationen erhebliche Kritik am israelischen Vorgehen gab.

    Meurer: Wir haben ja unter den Palästinensern grob gesagt zwei Lager: die Hamas im Gazastreifen, die Fatah im Westjordanland. Da Sie so lange in Ramallah im Westjordanland gearbeitet haben, was bedeutet das für die Palästinenser dort? Wie sehen sie das?

    Sterzing: Es ist das Grundproblem der palästinensischen Politik, diese politische Spaltung. Die Bevölkerung – das lässt sich in vielen Meinungsumfragen immer wieder nachlesen – leidet darunter, fordert immer wieder eine Einigung der politischen Kontrahenten. Es wird seit Jahren ja darüber verhandelt, aber ohne großen Erfolg. Es hat sich da eben auch eine Dynamik entwickelt in beiden Teilen Palästinas, also in der Westbank und im Gazastreifen, die eben auseinanderführt anstatt zusammenführt, und beide Seiten versuchen, sich zu profilieren, Präsident Abbas im Augenblick ja wieder mit seinem Antrag in der UN auf Anerkennung eines palästinensischen Staates mit einem Beobachterstatus in der UN, und Hamas hat wie gesagt Probleme, sozusagen seine fortbestehende Radikalität unter Beweis zu stellen, weil es mehr und mehr Druck kriegt von militanten Gruppen. Und dann gibt es diese gefährliche Entwicklung, dass man Raketen abschießen muss, um zu beweisen, dass man widerstandsfähig ist. Es waren ja in den letzten Monaten, sind immer gewesen, zumeist radikale militante Gruppen, die diese Raketen abgeschossen haben, Hamas eben nicht oder viel weniger. Aber in einer Situation wie der jetzt seit zwei, drei Tagen ist es so, dass Hamas sich beteiligen muss, weil es sonst in den Ruf gerät, sozusagen eben nicht mehr ernsthaft Widerstand zu leisten, und das ist eine ganz gefährliche Entwicklung. Das ist ein Aufschaukeln, was wir natürlich auch hier aus dem sicheren Mitteleuropa kaum nachvollziehen können.

    Meurer: Die Lage in Israel spitzt sich zu, der Konflikt zwischen der Hamas im Gazastreifen und Israel – das war ein Gespräch mit Christian Sterzing, der ehemalige Leiter der Heinrich-Böll-Stiftung in Ramallah im Westjordanland. Herr Sterzing, danke, auf Wiederhören.

    Sterzing: Auf Wiederhören.

    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.