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Steven Uhly: "Den blinden Göttern"
Für andere Literatur verdorben

Als der 1964 als Sohn einer deutschen Mutter und eines bengalischen Vaters in Köln geborene und mittlerweile in München lebende Übersetzer und Autor Steven Uhly seinen ersten Roman veröffentlichte, war er bereits 46 Jahre alt. Jetzt stellt er die wichtigen Fragen zum komplexen Verhältnis zwischen Literatur und Wirklichkeit.

Von Maik Brüggemeyer | 25.09.2018
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    Der Autor Steven Uhly mit "Den blinden Götter" (Buchcover: Seccissions Verlag, Autorenportrait: Mathias Bothor)
    Friedrich Keller ist Ende 40. Er lebt im Haus seiner verstorbenen Eltern in München. Er arbeitet in der Lyrikabteilung der Familienbuchhandlung, die von seinem älteren Bruder Gerhard geführt wird. Er ist heimlich in seine Kollegin Irma Mayer verliebt, die für die Reisebücher zuständig ist. Bis auf die Begegnungen mit ihr verläuft sein Leben ereignislos. Bis eines Tages ein obdachloser Mann in die Buchhandlung kommt und ihm einen Stapel Gedichte überreicht, den er nicht weiter beachtet, aber aus einem unerfindlichen Grund mit nach Hause nimmt.
    Er erinnert sich erst wieder an die Poeme, als seiner indianisch stämmigen Putzfrau Elvira beim Abstauben einige Seiten zu Boden fallen. Da beginnt er zu lesen und ist gleich in den Bann gezogen von diesem Werk. Dem Deckblatt nach zu urteilen trägt es den Titel "Den blinden Göttern" und stammt von einem gewissen Radi Zeiler.
    "Ganz gleich, wie banal das Thema auch sein mochte, das Radi Zeiler behandelte – Liebe, Tod oder Ähnliches -, stets verspürte er eine Kraft in dessen Worten, die es absurd erscheinen ließ, dass er am nächsten Morgen dem Wecker Folge leisten, sich ankleiden, ernähren und anschließend auf den Weg in die größte Buchhandlung des Viertels machen würde, um dort einen weiteren, unerträglich langweiligen Tag mit lauter im besten Fall nichtssagenden Menschen zu verbringen. Nach der Lektüre von Zeiler war die Wirklichkeit noch glanzloser als sonst. Und obwohl er sich der Tatsache bewusst war, dass er vermutlich viel zu viel in dessen Verse hineininterpretierte, sie womöglich sogar missbrauchte, um seine Weltabgewandtheit noch zu steigern, gaben sie ihm etwas, das er nicht für möglich gehalten hätte: Gelassenheit."
    Zum heißen Sporn
    Nach der Lektüre von "Den blinden Göttern" ist Keller für andere Literatur verdorben. Die Gedichte, die formal wie eine Mischform aus Sonett und Haiku daherkommen, sind sein Zuhause jenseits der Wirklichkeit geworden. Als er ein paar Monate später dem vermeintlichen Lyriker auf der Straße begegnet, folgt er dem sturzbetrunkenen Mann in ein altes Wirtshaus nahe des Viktualienmarktes mit dem Namen "Zum heißen Sporn". Es kommt zur Kontaktaufnahme. Keller erzählt Zeiler schließlich von seiner Reaktion auf die Gedichte, betrinkt sich mit ihm und steckt ihm dann seine Visitenkarte inklusive Privatadresse zu.
    Anderthalb Jahre nach der Begegnung mit Radi Zeiler taucht dieser bei Keller auf, liegt ungewaschen, stinkend und schnarchend auf dem Treppenabsatz. Er nimmt bald sein ganzes Haus in Beschlag und fängt eine Affäre mit seiner Putzfrau an. Schließlich gibt er sich als sein lang verschollener Zwillingsbruder Heinrich zu erkennen, der einst die Familie verließ, weil er eine Affäre mit Friedrichs Verlobter Greta angefangen hatte. Dieser wiederum hatte Keller einst Gedichte geschrieben.
    Das ist die Ausgangslage von "Den blinden Göttern", die Steven Uhly im weiteren Verlauf seines Romans immer weiter zerlegt und dekonstruiert. Bald gibt es keine Gewissheiten mehr. Ist die Sammlung "Den blinden Göttern" wirklich Heinrichs Werk? Oder hat er sie jemandem entwendet? Hat er denjenigen dafür sogar getötet? Oder stammt dieses göttliche Werk gar nicht aus der Feder eines einzelnen Autors, handelt es sich vielmehr um eine Collage verschiedener Texte? Und was hat Friedrichs Vater damit zu tun?
    Dann passiert ein Mord
    Friedrichs wohlgeordnete Existenz läuft aus dem Ruder, er verliert seinen Job, gewinnt aber Irma für sich. Das ist zumindest eine Lesart. Doch je weiter der Roman voranschreitet, desto mehr franst der rote Faden dieser vermeintlichen Familiengeschichte aus, verschieben sich Bedeutungen und Identitäten, vervielfachen sich die Wirklichkeiten. Und in einer Art Traum, der sich als Wachzustand tarnt oder andersherum, wird Friedrich zudem von einem Linguisten, der eine gewisse Namensähnlichkeit mit dem Autor des Romans hat und aus Friedrichs Geschichte einen Bestseller machen will, in einem Mordfall verhört.
    Nun scheint die Erzählwirklichkeit endgültig zu kollabieren. Die Grenzen zwischen Wahrheit und Illusion, Unbewusstem und Bewusstsein, Fiktion und Wirklichkeit verwischen. So hat Jacques Lacan einst einen Zustand beschrieben, den er "das Reale" nannte. Uhly zitiert den französischen Analytiker zudem mit der These, das Unbewusste sei strukturiert wie eine Sprache und droppt die Namen weiterer Geistesgrößen: Martin Heidegger, Julia Kristeva, Ludwig Wittgenstein, Friedrich Nietzsche, Georg Friedrich Hegel; sie alle haben sich mit dem Verhältnis von Sprache beziehungsweise Dichtung und Gesellschaft beschäftigt. Irgendwann entdeckt Friedrich Keller syrische Flüchtlinge, die in seiner Bibliothek Zuflucht gefunden haben.
    "Er stieg die knarrende Holztreppe ins Foyer hinunter und lauschte dem vielkehligen Schlaf, der aus der Bibliothek an sein Ohr drang. Alles Menschen, dachte er beinahe andächtig und hatte einen Augenblick lang die Vision, dass sie nicht etwa aus Syrien, sondern aus den Büchern geflohen waren, um endlich einmal zur Ruhe zu kommen. Nun schliefen sie umzingelt von Werken, in denen es leidvoll und blutig und tödlich zuging, aber so manches Drama müsste aus Mangel an Personal kollabiert sein. Wenn es so weiterging und immer neue Flüchtlinge in seiner Bibliothek schliefen, würden die Bücher irgendwann menschenleer sein, und was sollte dann noch in ihnen geschehen? Alle Handlungen hätten sie in die Wirklichkeit mitgenommen, Fiktion gäbe es nicht mehr, nur noch reale Dramen."
    Die Geburt des Mythos
    In diesem Bild findet Steven Uhlys postmodernes metafiktionales Spiel mit Literatur und Lebenswirklichkeit seinen Höhepunkt. Der Einbruch der gesellschaftlichen Gegenwart in diesen rätselhaften, zwischen Pathos und Theorie changierenden Text,
    wirft die Frage auf, welche Rolle die Kunst in Zeiten wie der unseren spielen kann oder sollte. Mit seinen logisch nicht auflösbaren Sprüngen und Verschiebungen fordert Uhly zudem unsere Vorstellung von dem heraus, was wir heute von Literatur erwarten. In der Literatur lasse sich alles auflösen, sagt Radi Zeiler am Ende, im Leben dagegen bleibe immer ein unaufgelöster Rest zurück.
    "Das Leben spricht immer ein Siegel auf sich selbst. Das ist die Geburtsstunde des Mythos. Der Mythos, mein Sohn, besorgt die Lösung des ungelösten, er erzählt den Rest, den niemand versteht, als Wunder, als Drama, als Krimi, als Epos, als Sonett, als Gemälde, als Musikstück, als Film. Als Magie. Und verschiebt das Rätsel ins Spiel hinein, dass es erträglich werde und mit Jammer und Schauder genossen werden möge ..."
    Hier liefert der Lyriker, der mit seinen Versen die Handlung auslöste und abwesend wie ein weiser Gott über dem Geschehen schwebt, einen möglichen Schlüssel für den Roman. "Den blinden Göttern" handelt von dem unauflösbaren Rest, den das Leben uns allen zurück lässt. Es ist ein herausfordernder, oft unebener, manchmal fließender, manchmal stockender Text, wie man ihn vielleicht nicht vom Verfasser des erbaulichen und warmen Erfolgsromans "Glückskind" erwartet hätte.
    Und doch ist der Autor in dem Aberwitz und dem Sinn fürs Groteske, der kühnen Konstruktion und zentralen Motiven wie Identität und Familie erkennbar. Typisch für Uhly sind die Figuren auf der Suche nach Zugehörigkeit und finden ihr Zuhause schließlich in der Literatur. "Den blinden Göttern" ist ein Text, der dem Leser einiges abverlangt, ihn auf-, aber auch anregt. Für einen Bestseller, wie ihn Uhlys Namensvetter in diesem Roman vor Augen hat, scheint er allerdings ein wenig sperrig.
    Steven Uhly: "Den Blinden Göttern", Secession, Zürich, 260 Seiten, 22 Euro